Post von der Beitragsservicezentrale

31. Mai 2012

Heute lag ein formschöner und betont neutral gehaltener Briefumschlag in der Geschäftspost. Beim Öffnen stellte sich heraus, dass die GEZ offensichtlich neue Umschläge ohne Logo verwendet.

In dem Umschlag lag eine doppelseitig bedruckte DIN-A4-Seite mit geschickt verpackten Unverschämtheiten. Von einem einfachen Modell, von Entlastungen und von fairen Regelungen war die Rede.

Ich konnte dem Schreiben nichts von alledem entnehmen: Ab 2013 muss ich eine deutlich höhere Gebühr zahlen. Bisher konnte ich die Zwangsgebühren durch den Verzicht auf ein Fernsehgerät reduzieren.


Möglicherweise ist es kein Zufall, dass die Post in einem anderen Umschlag kam. SPIEGEL-Online zitiert aus einer Agenturmeldung, nach der die GEZ offiziell in

ARD ZDF Deutschlandradio Beitragsservice

umbenannt werden soll. Wenn es stimmt, dann wäre das einen Eintrag bei neusprech.org wert. Es ist eine dreifache Unverschämtheit: Erstens ist es kein Beitrag, sondern eine Zwangsabgabe. Zweitens bietet diese wuchernde bürokratische Einrichtung den Abgabenzahlern gar keine Dienstleistung an. Drittens wird die Umbenennung auch noch unser Geld kosten — und zwar nicht zu knapp.


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»Bruder Eichmann« vom Referat IV B 4

31. Mai 2012

Heute vor 50 Jahren wurde Adolf Eichmann in Israel hingerichtet. Der Titel dieses Artikels erinnert an ein Theaterstück von Heinar Kipphardt, das ab 1983 im Großen Haus in Dresden aufgeführt wurde.

Ich habe dieses Theaterstück mit 16 oder 17 Jahren im Rahmen des Deutschunterrichts besucht. Damals konnte ich den Autor politisch nicht einordnen und ich wusste auch nichts über die Kontroversen, die das Stück in der BRD ausgelöst hatte. Umstritten waren vor allem die Analogie-Szenen, in denen beispielsweise die Verschwörungstheorie von der Ermordung der RAF-Häftlinge in Stammheim transportiert wird.

»Bruder Eichmann« gehört zu den Theaterstücken, die bei mir einen sehr tiefen Eindruck hinterlassen haben. Horst Schönemann sagte damals als Chefregisseur des Staatstheaters Dresden:

Eichmann tritt uns in diesem Stück nicht als blutrünstiger Mörder entgegen. Er wird schlimmer dargestellt: als Bruder Eichmann. Dem »Monster« kann ich mich entziehen, dem »Bruder« nicht.


»Bruder Eichmann« basiert zum einen auf den Prozessakten und auf der Berichterstattung über den Prozess. Zum anderen nimmt Heinar Kipphardt intensiv auf Hannah Arendts Werk »Eichmann in Jerusalem« Bezug.

Hannah Arendt hatte darin das bekannte Wort von der Banalität des Bösen geprägt. In einem Interview mit dem Hitler-Biographen Joachim Fest hat sie es so formuliert:

Wir stellen uns doch unter einem Verbrecher jemanden mit verbrecherischen Motiven vor. Und wenn wir uns Eichmann begucken, dann hat er verbrecherische Motive eigentlich überhaupt nicht. Nämlich das, was man gewöhnlich unter »verbrecherischen Motiven« versteht. Er wollte mitmachen. Er wollte Wir sagen, und dies Mitmachen und dies Wir-Sagen-Wollen war ja ganz genug, um die allergrößten Verbrechen möglich zu machen.

Die Hitlers sind doch nun wirklich nicht diejenigen, die eigentlich typisch für diese Dinge sind; denn die wären doch ohnmächtig ohne die Unterstützung der anderen.

[Quelle: Transkript einer Radiosendung]


Hannah Arendt wurde zur Zeit des Eichmann-Prozesses von vielen Seiten vorgeworfen, sie verharmlose die Verbrechen der Nazis. Das wurde vor allem mit dem Wort »Banalität« im Titel ihres Aufsatzes begründet, aber auch mit ihrer harschen Kritik an jüdischen Organisationen, die zu lange mit dem NS-Staat kooperiert hatten.

Hannah Arendt wurde aber von anderer Seite genauso stark verteidigt: Mit ihren Berichten und Kommentaren zum Eichmann-Prozess habe sie radikal die Funktionsweise der nationalsozialistischen Diktatur beschrieben. Entscheidend seien die vielen kleinen Mittäter gewesen — und nicht die Verbrecher an der Spitze. Aus dem selben Interview:

Und die Lust an diesem reinen Funktionieren – diese Lust, die ist ganz evident bei Eichmann gewesen. Dass er besondere Machtgelüste gehabt hat, glaube ich nicht. Er war der typische Funktionär. Und ein Funktionär, wenn er wirklich nichts anderes ist als ein Funktionär, ist wirklich ein sehr gefährlicher Herr.


Als (fast schon) literatur-süchtige junge DDR-Bürger dachten wir ähnlich. Wir lasen damals heimlich über die Verbrechen des Stalinismus im »Archipel Gulag«, wir hatten die Mauer vor Augen und wir haben in der Sprache der DDR-Ideologen nach Gemeinsamkeiten mit der Sprache des Dritten Reichs (Victor Klemperers »LTI«) gesucht.

Wir haben auch gespürt, dass es in der DDR viele eichmann-ähnliche Funktionäre im MfS und anderen Repressionsorganen gegeben haben muss, obwohl uns natürlich Lebenserfahrung und Informationen fehlten.

Das Stück hat uns (glaube ich) alle tief beeindruckt. Der Schauspieler Peter Hölzel spielte diese Bruder-Eichmann-Figur beeindruckend — bis unter den Galgen. Damals, als Jugendlicher, glaubte ich noch daran, dass die Todesstrafe für Verbrechen gegen die Menschheit gerechtfertigt sei.


Im weiteren Verlauf der Radiosendung mit Hannah Arendt sagte Joachim Fest:

Die Deutschen haben in diesen Führungsfiguren, von Hitler angefangen bis herunter zu Eichmann, immer wieder das Tier aus der Tiefe gesehen und sich damit möglicherweise ein gewisses Alibi verschaffen wollen. Denn wer dem Tier aus der Tiefe unterliegt, ist natürlich viel weniger schuldig als der, der einem ganz durchschnittlichen Menschen von dem Zuschnitte etwa Eichmanns unterliegt.

Hannah Arendt erwähnt ein Erlebnis Ernst Jüngers: Bei einem Aufenthalt in Norddeutschland hatte er einen Bauern besucht. Dieser Bauer bekam halbverhungerte russische Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit zugewiesen. Er mokierte sich in unsäglicher Weise darüber, dass diese Kriegsgefangenen das Futter der Schweine gegessen haben. Arendt dazu:

Ernst Jünger bemerkt zu dieser Geschichte: »Manchmal ist es, als ob das deutsche Volk vom Teufel geritten wird.« Und er hat damit nicht »dämonisch« gemeint.

Sehen Sie, diese Geschichte hat eine empörende Dummheit. (…) Der Mann sieht nicht, dass das Menschen tun, die eben verhungert sind, nicht wahr, und [dass] jeder es tut. (…) Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist.


Noch ein letzter Ausschnitt aus dem Interview mit Hannah Arendt. Sie wird darauf angesprochen, dass sich Adolf Eichmann doch immer damit verteidigt hat, in den bürokratischen Apparat eingebettet gewesen zu sein. Sie antwortet:

Nun, abgesehen davon, dass die Bürokratie im Wesen anonym ist, lässt jede rastlose Tätigkeit Verantwortung verflüchtigen. Es gibt im Englischen einen idiomatischen Ausdruck: »stop and think« – halt an und denk nach.

Kein Mensch kann nachdenken, ohne anzuhalten. Wenn Sie jemanden in eine rastlose Tätigkeit hereinzwingen, nicht wahr, oder [er] sich hereinzwingen lässt, dann werden Sie immer dieselbe Geschichte haben.

Sie werden immer die Sache haben, dass Verantwortungsbewusstsein sich nicht bilden kann. Es kann sich nur bilden in dem Moment, wo man reflektiert – nicht über sich selbst, sondern über das, was man tut.



Motivation zur Medienkritik

29. Mai 2012

In den letzten Tagen gibt es in den Dresdner Blogs interessante Beiträge aus der Rubrik »Medienkritik«. Einen davon hat Steffen Peschel geschrieben. Sein Beitrag An was sich Journalisten messen lassen müssen: Transparenz! befasst sich mit einer Seminararbeit von drei Studentinnen, die im »Flurfunk« veröffentlicht wurde. Sie hatten unter dem Titel

»Der menschenverachtende Schnapsburger« –
Möglichkeiten als Dresdener Bürgerjournalist

drei Angebote zum Mitmachen getestet, bei denen Leserinnen und Leser einer Zeitung den Medien Fotos oder Informationen bereitstellen können.

Ich finde Steffens Titel gut (auch wenn ich mit »Woran« begonnen hätte). Ich kann seine Kritik an dem Beitrag aber nicht so recht teilen. Er kritisiert zum einen, dass das Angebot der »Sächsischen Zeitung« zu kurz behandelt wird. Das mag stimmen: Die Studentinnen haben keine Reaktion der »SZ« bekommen und es steht nicht im Artikel, wie oft sie nachgefragt haben.


Allerdings habe ich den Eindruck, dass in der »Sächsischen Zeitung« kaum noch Meldungen oder Fotos aus der Leserschaft veröffentlicht werden. Vielleicht ist der »SZ-Augenzeuge« eingeschlafen?

Und selbst wenn er nicht eingeschlafen ist: Stellt sich eine Zeitung als besonders glaubwürdig dar, wenn sie auf ihren Seiten ein nicht honoriertes fremdes Werk verwendet, wo doch eigentlich die Arbeit der Journalistinnen und Journalisten hingehört?

Für mich als Blogger mit offenen Augen und gern genutzter Kamera käme es jedenfalls niemals in Frage, der »Sächsischen Zeitung« einen Text oder ein Bild zu schenken, damit sie mit meinem Werk Geld verdient.

Ich denke, dass Bloggen mit einiger Berechtigung als »Bürgerjournalismus« bezeichnet wird, während die Nutzung von Werken der Bürger in einem kommerziellen Medium eigentlich kein Bürgerjournalismus ist. Diese Wortwahl würde ich kritisieren, wenn ich die Seminar-Arbeit der drei Studentinnen bewerten müsste.


Steffen kritisiert zum anderen, dass die BILD in der Arbeit der Studentinnen am meisten Beachtung findet. Das mag an zwei großen Unterschieden gegenüber dem anderen Angebot liegen. Erstens bietet man bei der BILD einen materiellen Anreiz. Zweitens wollten die Studentinnen testen, ob ihr »Ekelfoto« in der BILD abgedruckt worden wäre. An dieser Sache sind sie drangeblieben und das war gut so.


Apropos BILD: Das BILD-Blog nimmt sich schon seit einiger Zeit auch Artikel aus anderen Medien vor, wenn diese Medien gegen die Grundsätze des guten Journalismus verstoßen. Sie haben das Thema meines Artikels über die Titelseite der »Dresdner Neuesten Nachrichten« vom Freitag heute aufgegriffen.

Nachdem jetzt einige Anfragen hereinkommen: Als ich diesen Artikel über penetrante PR für eine Automarke geschrieben habe, wollte ich damit einfach nur auf einen Missstand hinweisen — nicht mehr und nicht weniger. Ich muss zugeben: Die Profis beim BILD-Blog haben es lockerer gelöst als ich.


Ich hatte eine Schreckensvision vor Augen, die heute in der Print-Ausgabe der F.A.Z. veröffentlicht wurde: Die Stadt New Orleans wird Kürze die größte Stadt in den USA ohne täglich erscheinende Lokalzeitung sein.

Ich möchte nicht, dass es in zehn oder fünfzehn Jahren in Dresden nur noch die BILD gibt. Ich würde gern weiterhin die beiden Dresdner Zeitungen lesen, die nicht zur Boulevardpresse gehören. Aber dafür müssten sich »DNN« und »Sächsische Zeitung« wirklich sehr anstrengen und das Vertrauen der Leser neu gewinnen. In Abwandlung eines Zitats von Johann Wolfgang Goethe:

Ich hasse alle Pfuscherei wie die Sünde, besonders aber die Pfuscherei in den Medien, woraus für Tausende und Millionen nichts als Unheil hervorgeht.

Die Abwandlung des Zitats besteht einzig darin: Goethe sprach im März 1832 im Gespräch mit Eckermann über die Pfuscherei in Staatsangelegenheiten. Ich halte aber inzwischen die Pfuscherei in Medienangelegenheiten fast schon für gefährlicher. Deshalb empfehle ich zum Abschluss noch einen Artikel im »ZETTELs Raum« über den politischen Gleichklang in deutschen Medien.



Die freien Gedanken

29. Mai 2012

In der Zeit in der DDR vor der Wende hat uns beim Träumen von der Freiheit oft ein altes Volkslied berührt. Wir haben uns keine Gedanken darüber gemacht, woher es kam und wer es zuerst gesungen hat. Wir haben nur gefühlt, dass es wohl auch aus einer Zeit der Unfreiheit kam. Jeder kennt zumindest die erste Strophe.  —   Den Rest des Beitrags lesen »


Flora und Fauna am Kaitzbach

28. Mai 2012

Den Rest des Beitrags lesen »


Angewandte Medienkompetenz

28. Mai 2012

Was ist geschehen? Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat in einer Glosse im Feuilleton behauptet, dass das neue Gedicht von Günter Grass in der Süddeutschen Zeitung ein Coup der Titanic-Redaktion sei. Gestern verbreitete sich diese Nachricht im Netz …   Den Rest des Beitrags lesen »


Was sagt der Leserbeirat der DNN zur PR auf der Titelseite und zum Qualitätsverlust der Zeitung?

27. Mai 2012

Die Dresdner Neuesten Nachrichten haben — nach einem Bericht des Flurfunks — einen Leserbeirat. Er soll die Interessen der Leserinnen und Leser vertreten. Aus einer Meldung des BDZV vom 22. Juli 2010:

20 Männer und Frauen werden der „DNN“-Chefredaktion künftig beratend zur Seite stehen. Sie sollen helfen, den Kontakt zwischen Lesern und Blatt zu intensivieren, den Leserservice zu verbessern und den Inhalt noch besser auf die Leserbedürfnisse abzustimmen (…)

Nun würde ich nach jahrzehntelangem Abonnement gern mit diesem Leserbeirat Kontakt aufnehmen, weil die Qualität der Zeitung inzwischen wirklich besorgniserregend ist (ich habe das am Freitag mit deutlichen Worten kritisiert).


Ich sehe in dem kritisierten Titelbild und in anderen Berichten eine Grenzüberschreitung zwischen Journalismus und PR.

Ich empfinde das als Qualitätsverlust. Ich würde es dem Leserbeirat gern mitteilen. Erstaunlicherweise finde ich aber im Impressum der Zeitung keine Kontaktadresse. Ich kann natürlich mit Google nach

Leserbeirat site:dnn-online.de

suchen. Dort findet man wunderschöne Eigenwerbung. Man erfährt: Der Leserbeirat darf an DNN-Empfängen und DNN-Festen teilnehmen. Der Leserbeirat hat das Hauptstadtbüro in Berlin besucht und war begeistert.

Man erfährt allerdings nicht, ob sich der Leserbeirat bisher jemals um die journalistische Qualität der Zeitung gekümmert hat. Und eine Adresse ist erst recht nicht zu finden.


Ich habe ein wenig recherchiert, was der Autor der wunderbaren Auto-PR noch so schreibt. Er betreibt nämlich auch eines der beiden Blogs der DNN.

Nun würde ich die Männer und Frauen in diesem Leserbeirat gern fragen, wie sie einen Artikel aus diesem Blog bewerten, der am 10./11. März 2012 auch in der gedruckten DNN-Ausgabe erschienen ist. Es geht dabei um ein Erotikmassage-Studio in Dresden.

Es gibt eine ganz einfache Methode, um zu erkennen, ob ein Artikel dem Journalismus oder der PR zuzuordnen ist.

Wenn der Inhalt komplett mit der Selbstdarstellung des Unternehmens übereinstimmt und auf Angaben des Unternehmens basiert, dann ist es PR. Wenn der Autor erkennbar an anderer Stelle recherchiert und nachgefragt hat, dann ist es Journalismus.


Der Artikel über das Massagestudio enthält (zusammengefasst) folgende Fakten:

  1. Die Chefin der Erotikmassage-Studiokette stellt sich selbst und ihr Unternehmen dar.
  2. Sie gibt uns Informationen über die Zielgruppe der Kunden und Kundinnen.
  3. Sie betreibt Eigenwerbung: »Bei uns werden sie voll als die Person akzeptiert, die sie sind, mit all ihren sinnlichen Bedürfnissen.«
  4. Sie stellt sich als erfolgreich dar: »Nachdem erst mal meine Internetseite online war, schoss die Nachfrage durch die Decke.«
  5. Wir erfahren, wie viele Frauen (in »Nebenbeschäftigung«) für die Erotikmassage-Studiokette arbeiten. Zitat der Chefin: »Nur des Geldes wegen macht das keine.«

Zu den unverzichtbaren professionellen Grundsätzen eines Journalisten muss gehören, dass er alle beteiligten Seiten oder zumindest mehrere Seiten berücksichtigt. Aber für den ganzen Artikel wurde keine Masseurin, kein Kunde, keine Partnerin eines Kunden, kein Anwohner und auch kein Experte oder eine Expertin befragt.


Mindestens eine prägnante Aussage der Unternehmerin hätte den Journalisten nachfragen lassen müssen: Wenn es keine Frau nur für’s Geld tut — wie ist dann das Verhältnis zwischen Leistung und Bezahlung? Ob es für eine solche »Nebenbeschäftigung« eine soziale Absicherung durch den Auftraggeber gibt, wäre auch zu hinterfragen.

Ich sehe in diesem Artikel einen logischen Widerspruch: Über die Eigentümerin wird berichtet, dass sie selbst unbedingt Geld brauchte und deshalb erotische Massagen durchgeführt hat. Zitat aus dem verlinkten Artikel:

Als sie mit dem Geld weder ein noch aus wusste, sah sie eine Zeitungsanzeige „Nette Frauen für Erotikmassagen gesucht“ – und ging hin. „Ich fand die Arbeit dort ziemlich würdelos – den Frauen wie den Männern gegenüber und alles so huschhusch“, erinnert sie sich. „Aber ich brauchte das Geld.“

Aber sie sagt über ihre eigenen Masseurinnen: »Nur des Geldes wegen macht das keine.« Ist sie in dieser Beziehung sicher oder ist das eine Vermutung?

Noch einmal ganz klar und deutlich zusammengefasst: Alle Informationen in dem Artikel beruhen auf der Selbstdarstellung des Unternehmens. Aber in der Zeitung wird der Artikel natürlich nicht als PR gekennzeichnet.


Der DNN-Autor hat die Erotikmassage später auch noch im Selbstversuch getestet. Er hat in einem weiteren Artikel darüber berichtet, der ebenfalls abgedruckt wurde. Man könnte es auch etwas kritischer sehen: er hat regelrecht für die Erotikmassage geworben. In seinem Bericht wird sogar die Frage beantwortet, ob man mit Karte zahlen kann oder ob man mit Bargeld zahlen muss.

Das Angebot der Erotikmassage ist in einer offenen Gesellschaft grundsätzlich völlig legitim, und dagegen richtet sich meine Kritik in diesem Artikel nicht. Allenfalls würde ich gern jeden männlichen Kunden fragen: Wäre es in Ordnung für Sie, wenn Ihre Frau oder Ihre Tochter diese »Nebentätigkeit« ausführen würde?


Aber darum geht es mir heute gar nicht. An diesen beiden Artikeln kann man gut zeigen, wie welcher Geschwindigkeit die journalistischen Grundsätze den Bach heruntergespült werden. Der bekannte deutsche Journalist Hanns Joachim Friedrichs hat einmal gesagt:

Das hab‘ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.

Man kann sich wohl kaum noch mehr mit einer Sache gemein machen, als es der Autor des Artikels über das Erotikmassagestudio getan hat. In dem Artikel ist die professionelle Distanz nicht wirklich erkennbar. (Ergänzung): Sogar die Fotos hat das Erotikmassagestudio beigesteuert.


Der unvergessene Honoré de Balzac hat in seinem Roman »Das Chagrinleder« ein magisches Objekt erfunden, das sich bei jedem Wunsch etwas mehr zusammenzieht. Am Ende verschwindet das Leder und der Besitzer findet den Tod.

Mein Vertrauen in den Journalismus der DNN ist auch so ein Chagrinleder: Wenn diese Zeitung immer mehr von journalistischen Grundsätzen abweicht, dann wird das Vertrauen immer kleiner, bis mein Abo irgendwann stirbt.

Darüber hätte ich gern mit dem Leserbeirat gesprochen. Wenn ich eine Adresse gefunden hätte ;-)



Towel Day 2012

25. Mai 2012
Towel Day: Zum Gedenken an Douglas Adams.

Towel Day: Zum Gedenken an Douglas Adams.


Unverblümte PR im redaktionellen Teil

25. Mai 2012

Die Dresdner Zeitung DNN präsentiert in ihrer heutigen Ausgabe ein unglaublich schlechtes Titelbild. Das Bild ist so peinlich, dass ich es in diesem Blog nicht zeigen, sondern nur beschreiben kann.

Am Rand einer Straße im Osterzgebirge ist ein pinkfarbener PKW mit offener Beifahrertür an einem leicht abschüssigen Straßenrand geparkt — völlig willkürlich, als ob die Fahrerin gerade eine Panne gehabt hätte. Auf der Motorhaube stützt sich eine schwarz, kurz und eng bekleidete Frau ab. In der Mitte des Bildes prangt das Logo eines großen Autokonzerns.

Im Hintergrund ist eine formschöne Leitplanke zu sehen. Dahinter erkennt man einige Bäume und das Schloß Weesenstein. Das Schloß ist schief und mit abgeschnittenem Turm dargestellt. Schauderhaft! Dieses Bild auf Seite 1 wirkt wie ein schlechter Schnappschuss mit dem Smartphone und es wurde offensichtlich nicht einmal amateurhaft bearbeitet.


In der Bildunterschrift wird auf die Seite 17 der aktuellen Ausgabe verwiesen. Dort ist der PKW an der selben Stelle abgebildet, aber an der Motorhaube lehnt nun DNN-Mitarbeiter Heiko Weckbrodt. Die Bildkomposition ist insgesamt genauso gräßlich wie auf Seite 1. Aber es gibt eine Überraschung: Die Seiten 17 und 18 gehören gar nicht zum redaktionellen Teil. Ganz klein erkennt man den Hinweis »— Anzeigen —« und auf Seite 17 prangt auch der Sponsor: »UNTERSTÜTZT VON: AutoForum Heidenau«.

Was soll das Ganze? In der Online-Ausgabe der DNN gibt es im redaktionellen Teil Aufklärung (Hervorhebung im Zitat ist von mir):

DNN-Redakteure von heute sind die Strecken von damals nun in diversen VW-Automobilen erneut abgefahren. Geändert haben sich seit damals die Siedlungen, die Menschen und der Alltag entlang der Strecken – die Landschaften sind reizvoll wie eh und je. Zum Auftakt unserer neuen-alten Serie hat sich DNN-Redakteur Heiko Weckbrodt ins Auto gesetzt und ist durch die Täler des östlichen Erzgebirges gekurvt.


Es kommt noch besser. Ausdrücklich nicht als Werbung gekennzeichnet findet man im redaktionellen Teil der Online-Ausgabe der DNN einen Teaser, mit dem die Abonnenten auf den vollständigen Artikel bei »DNN-Exklusiv« hingewiesen werden sollen. Der Beginn des Artikels liest sich bei DNN-Online so:

Der Motor des kleinen Stadtwagens surrt am Startplatz in Heidenau leise, aber vergnüglich vor sich hin, als ob sich der „Up!“ schon auf den Ausflug durch das kurvige Müglitztal freuen würde. Der Hochsommer hat an diesem Mai-Tag seine Boten …

Unter diesem PR-BlaBla steht: »Als Abonnent von DNN-Exklusiv haben Sie unbegrenzten Zugang zu allen Artikeln unseres Angebotes.« Ja, Sie haben richtig gelesen: Dafür soll man sogar noch Geld bezahlen! Möchten Sie wissen, wie der letzte Absatz des Artikels beginnt? Ein Zitat aus der Print-Ausgabe der DNN (dort wenigstens als Anzeige gekennzeichnet):

Auch der kleine »UP!« hat sich einigermaßen wacker geschlagen. Obzwar eher ein Stadtauto, hat er die steilen und engen Kurven des Erzgebirges relativ gut gemeistert. (…)

Dann wird der niedrige Treibstoffverbrauch des Autos gelobt. — Ich stehe jetzt wirklich vor der Entscheidung: Soll ich dieses Blatt noch länger abonnieren? Eigentlich täte es mir sehr leid, wenn die Lokalpresse aussterben würde. Aber andererseits möchte ich mich auch nicht mit solchen Leistungen — auf Deutsch gesagt — verarschen lassen.

Passend: Ein Artikel aus den Blogs der F.A.Z. über die maschinelle Herstellung von Texten für Online-Medien. Man fragt sich: Ist man Teil eines Experiments?



Verständigungsprobleme

23. Mai 2012

Das Dresdner Medienblog »Flurfunk« hat sich in der Rubrik »Flurschelte« die Autorin einer Reportage aus einer Frauenzeitschrift vorgeknöpft. Diese hatte geschrieben, dass sie mit der U-Bahn von Pillnitz in die Innenstadt gefahren sei. Und Dresden hat ja nun wirklich keine U-Bahn.

Die Lösung dieses kleinen Problems könnte ganz einfach sein, wenn die Journalistin aus dem Rheinland kommt. Die Stadt Bonn hat z.B. ein schienengebundenes Verkehrsmittel, das unter der Innenstadt eine kleine Strecke unterirdisch fährt, sonst aber im Rest des Stadtgebiets und weit übers Land immer oberirdisch.

Die meisten Auswärtigen sagen: »Das ist eine Straßenbahn.« Die Deutsche Bahn bezeichnet die Verbindung auch als »STR«.

Aber die Bonner sagen (ich habe es gerade am Montag wieder erlebt): »Fahren Sie mit der U-Bahn bis …«. Die Bonner sind so stolz auf die paar Stationen unter der Erde, dass sie /niemals/ »Straßenbahn« sagen würden. Eine Straßenbahn hat schließlich jede Großstadt.

So kann man es ganz ohne Flurschelte zusammenfassen: Die Journalistin ist von Pillnitz mit der Fähre nach Kleinzschachwitz gefahren und dort in die Straßenbahn gestiegen. Hoffen wir, dass es ihr in Dresden gefallen hat. Werbung in auflagenstarken Zeitschriften kann diese Stadt immer gut brauchen ;-)



Eine kleine Geschichte über die »Partei der Tomaten«

20. Mai 2012

Stellen Sie sich vor: In Ihrer Stadt gastiert eine bekannte Band. Die Nachfrage nach Karten ist groß. Die Band wird zwei Konzerte geben.

Für die Bandmitglieder und die Crew ist klar: Wir geben Konzerte, um unseren Lebensunterhalt zu sichern. Wir brauchen dafür pro Jahr eine bestimmte Anzahl von Konzerten. Doch einige Besucher möchten sich die Konzerte gern kostenlos ansehen.


Findige Köpfe haben eine Methode entwickelt, mit der man an Konzertkarten kommt, ohne erwischt zu werden: Ein Ticket wird kopiert und die Sicherheitsmerkmale werden dabei so geschickt verändert, dass es am Einlass definitiv nicht auffällt.

Für die Besitzer dieser Karten ist das Verfahren ohne jedes Risiko. Es kann mit keiner staatlichen oder privatwirtschaftlichen Maßnahme unterbunden werden — auch nicht mit einer Totalüberwachung aller Konzertbesucher.


Die Befürworter des Ticket-Sharings sagen: Die beiden Konzerte werden ja ohnehin gegeben. Die nicht zahlenden Besucher können den zahlenden Besuchern nichts »weghören«. Niemandem entsteht ein Schaden.

Wenig später gründet sich die Partei der Tomaten. Sie benennt sich nach dem Gemüse, das früher oft bei schlechten Konzerten auf die Bühne geworfen wurde. Ihre zentrale Aussage: Das Ticket-Sharing ist legitim und muss unbedingt legalisiert werden.

Nachdem zwei Plattformen mit dem Ticket-Sharing Millionengewinne gemacht haben und immer mehr Bands aufgeben, bekommt die Partei der Tomaten viele wütende E-Mails von ehrlich zahlenden Konzertbesuchern.

Also rudern einige Tomaten ein kleines Stück zurück: »Kommerzielles Ticket-Sharing ist irgendwie nicht so richtig in Ordnung.« Aber andere Tomaten sagen: »Irgendwie auch doch. Erst wenn niemand mehr zahlt, ist das Ziel erreicht.«


Gegen die Legalisierung des Ticket-Sharings protestieren wiederum die Vereinigungen der Musiker und Techniker: Wovon sollen wir leben, wenn immer mehr Tickets gefälscht werden? Wer kann zwischen einer kommerziellen und einer privaten Fälschung unterscheiden?


Ich will gar nicht entscheiden, wer hier im Recht oder im Unrecht ist. Man hört: Manche wählen solche Parteien als Zeichen des Protestes gegen ein unmenschliches Kultursystem, in dem Konzertkarten einfach verkauft werden, ohne auf die Besucher Rücksicht zu nehmen, die einen kostenlosen Eintritt erzwingen wollen. Die Lebenserfahrung zeigt: Ein Vorwand findet sich immer.

Die Lebenserfahrung zeigt aber auch: Wenn eine Leistung dauerhaft nicht nachgefragt und bezahlt wird, dann wird es diese Leistung irgendwann nicht mehr geben. Dann gibt es zwar beliebig viele Karten, aber keine guten Konzerte mehr. Um das zu übersehen, muss man schon ziemlich große Tomaten auf den Augen haben ;-)



Strafsteuer für Konfessionslose? Was für eine platte Polemik! Ein doppelter Widerspruch.

17. Mai 2012

Einige katholische Mandatsträger der Grünen haben ein Diskussionspapier über ihr Verhältnis zur Katholischen Kirche veröffentlicht. Das Magazin Telepolis hat zwei Aussagen aus dem Zusammenhang entnommen und zugespitzt.

Grüne wollen Konfessionslose mit »Kultursteuer« belegen.
Das Instrument soll Katholiken vom Kirchenaustritt abhalten

Diese Steuer will die Grünen-Gruppe ausschließlich von Konfessionslosen erheben, was Steuerpflichtige davon abhalten soll, aus der römisch-katholischen Kirche auszutreten.

Jetzt wird in manchen Blogs hitzig über die Einführung einer neuen »Strafsteuer« diskutiert. Als kritischer und neutraler Betrachter fragt man sich: Was steht denn wirklich in diesem Diskussionspapier? Ist die Analyse richtig? Sind die Schlussfolgerungen richtig?


Treten die Christen wirklich wegen der Kirchensteuer aus der Katholischen Kirche aus? Im Grunde wäre das nicht notwendig: Dem Kirchensteuerzahler entsteht kein finanzieller Nachteil gegenüber dem Konfessionslosen. Die Kirchensteuer kann bei der Einkommenssteuer-Erklärung geltend gemacht werden. [Edit:] Die steuerlichen Auswirkungen kann der Steuerberater berechnen. Rayson weist in den Kommentaren darauf hin, dass effektiv doch eine Belastung entsteht.


Eigentlich müsste also niemand wegen der Kirchensteuer aus der Katholischen Kirche austreten. Es gibt aber einige sehr persönliche Gründe für einen Austritt.

Die Führung der Katholischen Kirche hat bis heute nicht angemessen auf die vielen Fälle des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger innerhalb der Kirche reagiert. Über Jahrzehnte wurden diese Straftaten verdrängt und vertuscht. Das Organisationsversagen der Katholischen Kirche ist evident.

Man hört immer wieder von weiteren Problemen: Die Laienorganisationen der Katholiken fühlen sich seit Jahrzehnten von der Kirchenhierarchie missachtet und einige Gruppen fühlen sich aus der Kirche ausgegrenzt. Die Autoren aus den Reihen der Grünen haben das erkannt. Sie schreiben unter anderem:

Viele Gläubige empfinden das Verhalten der Kirchenleitung als Bevormundung und nicht als Ausdruck der befreienden und gütigen Botschaft Christi. (…) Die reine Lehre darf nicht wichtiger sein als die konkrete Fürsorge und Barmherzigkeit. Die Kirche kann nicht glaubwürdig die Barmherzigkeit Gottes verkünden, wenn sie z.B. wiederverheiratete Geschiedene lebenslänglich von der Eucharistie ausschließt.

Marginalie: Wenn man sich durch die gewundenen Sätze der ersten beiden Seiten dieses Papiers durchgekämpft hat, möchte man eigentlich nicht mehr umblättern. Kostprobe:

Was mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil so hoffnungsvoll begonnen hat – die Öffnung der Kirche zur Welt, die Verheutigung der christlichen Botschaft – hatte nicht lange Bestand.

Aus welcher Welt stammt denn bitte das Wort »Verheutigung«? Was soll das bedeuten? Und welches Heute ist gemeint? Das Zweite Vatikanische Konzil begann 1962 und endete 1965.


Die Autoren des Diskussionspapiers kommen jedenfalls selbst zu dem Schluss, dass es sehr viele Gründe für einen Austritt aus der Katholischen Kirche geben könnte. Aber dann reagieren sie wie echte Politiker: Der eigentliche Grund für den Austritt muss ein finanzieller Anreiz sein, den Menschen reagieren ja vornehmlich auf finanzielle Anreize:

Ist es sinnvoll zuzuschauen, dass viele Menschen wegen der Kirchensteuer aus unserer Kirche austreten? Wir meinen, es ist auch aus der Perspektive unserer Kirche richtig, einen Reformweg zu beschreiten, der sich am italienischen Vorbild einer »Kulturabgabe« orientiert, welche alle Menschen an eine gemeinnützige Institution ihrer Wahl entrichten. Dies stärkt die Position der Kirche mehr als Debatten über die kircheninternen Konsequenzen der Verweigerung von Kirchensteuerzahlung.

Hier stellt sich die spannende Frage: Wer soll einen Reformweg beschreiten? Die Katholische Kirche oder der Staat? Eine obligatorische Abgabe zu gemeinnützigen Zwecken nennt man Mandatssteuer. Doch diese Bezeichnung war den Autoren des Papiers offensichtlich zu deutlich. Die Bezeichnung »Kulturabgabe« klingt ja viel freundlicher.

Hier kommt trotzdem der zweite Widerspruch, diesmal gegen die Telepolis: Es handelt sich gerade um keine Strafsteuer, wenn alle Steuerzahler diese gemeinnützige Spende steuerlich geltend machen können. Das stellen die grünen Politiker nicht in Frage. Es muss sich nur jeder Steuerzahler entscheiden, welchem Zweck er das Geld zukommen lässt. Von einer Strafsteuer kann absolut nicht die Rede sein.


Ein weiteres Zitat aus dem Papier der grünen Katholiken zeigt allerdings, dass sie sich der Vorteile einer staatlich eingezogenen Steuer durchaus bewusst sind:

Wir halten es aber für richtig, dass die Kirchensteuer – egal in welcher Ausgestaltung – über staatliche Institutionen eingezogen werden kann. Dies vermindert bei allen Beteiligten Verwaltungskosten. Richtig bleibt auch, dass die Kirchensteuer wie Spenden an gemeinnützige Organisationen steuermindernd wirkt.

Das ist gleich mehrfach falsch. Erstens zahlen die beiden großen Kirchen für das Einziehen der Kirchensteuer eine Kostenpauschale an den Staat. Diese Kostenpauschale würde gar nicht entstehen, wenn die Mitglieder ihre Beiträge freiwillig an die Kirchen überweisen würden. Zweitens entsteht bei jedem Unternehmen mit abhängig Beschäftigten ein bürokratischer Aufwand, den niemand ausgleicht.

Insgesamt wäre es volkswirtschaftlich günstiger, wenn die Kirchenmitglieder ihren Beitrag freiwillig an die Kirche entrichteten und dafür eine Bescheinigung zur Vorlage beim Finanzamt bekämen.


Aber das Problem verbirgt sich wohl hinter dem Wort »Inkasso«. Ohne Staatsgewalt könnten die beiden großen Kirchen zum Beispiel diejenigen Bürger nicht mehr verfolgen lassen, die vor Jahrzehnten aus der Körperschaft Kirche austraten und es jetzt nicht mehr beweisen können. Diese Steuerpflichtigen werden vom Staat unbarmherzig zur Kasse gebeten. Wer also aus der Kirche austritt, sollte die Bescheinigung bis an sein Lebensende aufbewahren, wie die F.A.Z. Ende 2012 schrieb:

Sonst droht auch Menschen, die seit Jahrzehnten im Berufsleben stehen, plötzlich eine Nachforderung des Finanzamts über Kirchensteuern für die vergangenen fünf Jahre. (…) Das Problem: Die Beweislast für den Austritt liegt bei demjenigen, der einst getauft worden ist. (Quelle: F.A.Z.)


In einer älteren Ausgabe der F.A.Z. ist übrigens ein interessantes Gespräch mit einem Finanzwissenschaftler zu finden, in dem es um das Pro und Contra zum staatlichen Einzug der Kirchensteuer geht. Und ganz am Ende meines Artikels: Der Hinweis auf einen Artikel zum feinen Unterschied zwischen einem Christen und einem Kirchensteuerpflichtigen.



Facebook? General Motors gefällt das nicht.

16. Mai 2012

Der amerikanische Konzern General Motors hat anscheinend nicht mehr viel Lust auf Facebook. Man spricht es (nach einer Meldung bei SPON) sehr deutlich aus: Werbung auf Facebook bringt nichts. Man denkt zumindest intensiv darüber nach, sich aus diesem Geschäft zurückzuziehen. Das Handelsblatt bringt dazu einen etwas sachlicheren Beitrag.

Der öffentlich vorgetragene Zweifel eines der größten Konzerne der Welt wird viele Anleger nicht davon abhalten, die Facebook-Aktie trotzdem zu kaufen. Die Leute werden ja offensichtlich aus den vielen Spekulationsblasen seit Mitte der 1990er Jahre nicht klüger. Ich würde mich ja schon aus Prinzip von einem Unternehmen fernhalten, das gegenüber seinen Nutzern und gegenüber der Öffentlichkeit so intransparent erscheint.

Passend zu diesem Thema ist heute in der Sächsischen Zeitung ein Bericht über die Telekom-Aktie und den Schauspieler Manfred Krug erschienen. Anlass: Das riesige Verfahren um die enttäuschten Anleger der Telekom-Aktie soll heute zu Ende gehen. Ich würde mich nicht übermäßig wundern, wenn es in zehn oder fünfzehn Jahren viele enttäuschte Anleger oder gar Prozesse in Sachen Facebook-Aktien gäbe.



»Sie können das alles senden«: Horst Seehofer mit viralem Politmarketing via Youtube

15. Mai 2012

Ein seltener Moment der politischen Berichterstattung wird gerade bei SPON verlinkt: Der Politiker Horst Seehofer greift zum Äußersten und sagt seine Meinung. Sagt einfach im Nachgespräch zu einem Fernseh-Interview seine Meinung über Herrn Röttgen und die Hauptursachen für die krachende Niederlage in NRW.

Wenn Sie wenig Zeit haben: Beginnen Sie einfach an dieser Stelle des Videos. Wenn Sie etwas mehr Zeit haben: Schauen Sie sich das Interview oder das Nachgespräch (der Link führt an die Stelle nach 5 Minuten Videolaufzeit) komplett an.

Es lohnt sich. Denn in der ganzen Zeit seit Herbst 2009 war Horst Seehofer kein Zuschauer, sondern ein Akteur. Er hat selbst mit zu den Zuständen beigetragen, die er heute so wortreich beklagt. Doch auch wenn die Methode durchsichtig ist: Mit seinen Bemerkungen über das Weglaufen vor den eigentlichen Problemen der Politik hat er nicht ganz unrecht. Warum hören wir solche ungefilterten Meinungen so selten?


Via: Artikel bei SPON.

Ergänzung: Die Sache schlägt natürlich Wellen. Hier ist z.B. ein Beitrag von Falk Lueke, der auch nicht an einen Zufall glaubt. Mal sehen, was noch alles ans Tageslicht kommt.



Attachment Parenting

14. Mai 2012

In den USA regt ein Titelbild des Magazins TIME die Diskussion über die Erziehungsmethoden des Attachment Parenting an. Auf dem Bild stillt die junge Mutter Jamie Lynne Grumet ihren ziemlich großen Sohn Aram. Laut Bildunterschrift ist der Junge noch drei Jahre alt, aber er wirkt schon wie ein Vierjähriger. In Deutschland berichtet die WELT über das Titelbild und seine Geschichte.

Die WELT konzentriert sich in ihrem Artikel besonders auf den Aspekt des Stillens. Bei uns in Deutschland wird etwa ein Fünftel der Kinder bis zum sechsten Lebensmonat gestillt, aber viele Mütter verzichten schon kurz nach der Geburt darauf. Das TIME-Titelbild führt nun in den USA wieder zu einer heißen Diskussion um das Stillen. Diese Diskussion wird sicher auch bei uns geführt werden.


Doch beim Attachment Parenting geht es eigentlich um eine ganze Erziehungsphilosophie. Die Befürworter übersetzen den Begriff mit »bindungsorientierter Elternschaft«. Was steckt dahinter? Die Eltern bauen eine sehr enge Bindung zu ihren Kindern auf. Diese Bindung ist viel enger als wir es gewöhnlich kennen. Es ist keine Seltenheit, dass die Kinder bis zum Vorschulalter mit ihren Eltern in einem Bett schlafen.

Vordergründig ist in dieser Erziehungsphilosophie alles auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet. Die Befürworter sagen: Das Kind erkennt selbst am besten, wenn es z.B. keine Muttermilch mehr trinken will oder wenn es in einem eigenen Bett schlafen möchte.

Viele Kinder werden in diesen Kreisen (in den USA) nicht in die Schule geschickt, sondern zu Hause unterrichtet. Doch tut man den Kindern Gutes, indem man die Umwelt möglichst lange von ihnen fernhält?


Völlig unabhängig von der Diskussion um die Muttermilch, das gemeinsame Schlafen und den Heimunterricht frage ich mich: Wie stark ist die Abhängigkeit, in die solche Kinder gebracht werden? Und: Geht es wirklich um die Bedürfnisse der Kinder oder geht es eher um die Bedürfnisse der Eltern?

Erzieher, Lehrer und inzwischen sogar Hochschuldozenten(!) sind heute schon besorgt über die übertriebene Fürsorge der Helicopter Parents:

Es ist inzwischen so weit gekommen, dass Deutschlehrer Besuch von Eltern bekommen, die mit den Noten ihrer Sprößlinge nicht einverstanden sind — oder dass die Eltern bei der Informatikprofessorin ihrer Tochter um Klausureinsicht bitten. Unnötig zu erwähnen, dass solche Eltern sowohl bei der Studienberatung als auch bei der Auswahl des Wohnheimzimmers federführend sind.

Ich fürchte: Wenn die Methoden des Attachment Parenting auf die Spitze getrieben werden, dann sitzen die Eltern nicht mehr für ihre Kinder im Hubschrauber, sondern sie steuern für ihre Kinder einen Flugzeugträger …


Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift sei. (Paracelsus)



Vergänglichkeit

14. Mai 2012

Gestern im Tropenhaus des Botanischen Gartens Dresden …



Viele kleine Spenden. Eine Anerkennung.

13. Mai 2012

Seit der Einführung des Eintrittsgelds im Schlosspark Pillnitz stellen sich viele Dresdner die Frage, wie man es besser machen könnte. Ein Vorschlag zur Güte.

Vor einigen Tagen gab es in Dresden ein Treffen der Familie Arnhold. Die Familienmitglieder sind über die ganze Welt verstreut. Sie waren auf vielfältige Weise wirtschaftlich erfolgreich und sie geben traditionell der Gesellschaft etwas von ihrem Erfolg zurück.

Auch in Dresden haben die Arnholds sehr viel Gutes bewirkt. Dass wir heute im Arnhold-Bad schwimmen können, ist nicht zuletzt ihnen zu verdanken. Dafür hat sich Dresden bedankt: Auf Schloss Albrechtsberg hat die Dresdner Philharmonie ein exklusives Kammerkonzert für die Familie gegeben.

Natürlich ist kein Dresdner so reich, dass er den Schlosspark Pillnitz allein mit den notwendigen Mitteln ausstatten könnte. Aber erinnern wir uns: Viele Dresdner haben ein kleines Stück zum Wiederaufbau der Frauenkirche beigetragen.


Verknüpft man nun die Jahreskarte für den Schlosspark mit der besonderen Anerkennung für die Familie Arnhold und den Spenden für die Frauenkirche, kommt man auf eine ebenso einfache wie geniale Lösung:

Die Dresdner und ihre Gäste können freiwillig eine personalisierte Jahreskarte für den Schlosspark erwerben. Als Anerkennung für ihre Spende werden die Inhaber dieser Jahreskarte zu einem Schlossfest eingeladen. Im Park gibt es dann kleine Konzerte und andere kulturelle Veranstaltungen. Wer eine Jahreskarte besitzt, darf genau eine weitere Person mitbringen.

Dieser Vorschlag kann kreativ weiterentwickelt werden: Es könnte zwei oder drei Schlossfeste mit unterschiedlichen Schwerpunkten geben. Man könnte die Jahreskarte mit anderen Vorteilen kombinieren. Man könnte die Schlossfeste mit Sponsoring und Stiftungen verbinden. Dann wären viele Dresdner und Unternehmen wirklich:

Gartenfreund für ein Jahr: Die bisher ausgegebene Jahreskarte.

Und die Jahreskarte könnte zu einem ähnlichen Prestigeobjekt werden, wie damals die Frauenkirchen-Uhr der Stadtsparkasse, mit der man 20 D-Mark für den Wiederaufbau spendete.


Die Tagesgäste können freiwillig für den Eintritt spenden. Wer den Park nur durchqueren will oder wer kein Geld für eine Spende hat, wird wieder kostenlos Zutritt haben.

Aber all diese Vorschläge setzen natürlich voraus, dass zwischen den Bürgern, der Stadtspitze und dem Freistaat überhaupt wieder ein Vertrauensverhältnis entsteht. Dieses Vertrauensverhältnis ist nachhaltig gestört.

Die Lösung mit den verbilligten Jahreskarten für Inhaber einer DVB-Zeitkarte führt genau in die falsche Richtung: Erstens fließt weniger Geld nach Pillnitz. Zweitens wird die Jahreskarte für 2013 schon drastisch teurer. Drittens werden die Bürger damit nicht einbezogen, sondern entmündigt.

Eine der geschlossenen Pforten in Pillnitz …



Farben des Frühlings

13. Mai 2012

Zwischen Pillnitz und Blasewitz …

Die Kollegin Kalliope nennt das gelegentlich Vanitas-Bilder: Die Schönheit in der Vergänglichkeit.

Vanitas: Pontische Azaleen …

Arnika.


Ich bin Urheber

10. Mai 2012

Ich kann einen Teil des Aufrufs »Wir sind Urheber« unterschreiben. Ich bin mit einem anderen Teil des Aufrufs nicht einverstanden. Damit Sie verstehen, in welcher Situation ich diesen Artikel schreibe, lege ich zuerst meine Situation offen.


Ich würde bei einer Zerschlagung des Urheberrechts sofort ein Drittel meiner Einnahmen als Freiberufler verlieren. Ich will das jetzt nicht näher begründen oder beschreiben. Glauben Sie mir bitte: Ich habe sehr gründlich darüber nachgedacht.

Ich habe in meinem Leben schon schlimmere Situationen gemeistert. Ich habe sehr gute Alternativen und ich werde immer weiterarbeiten.

Aber ich denke gar nicht so sehr an mich. Ich bin wütend, weil so viele Leute für einen ganz kurzfristigen Vorteil den Parolen der Urheberverächter folgen, ohne auch nur mittelfristig weiterzudenken. Denn was heute mit den Werken der Urheber geschieht, steht exemplarisch für jedes Produkt menschlicher Arbeit.


Die technische Entwicklung kommt niemals zum Stillstand. Der Erfindungsreichtum des Menschen ist so groß, dass er jedes Arbeitsgebiet grundlegend verändern kann. Heute trifft es die Urheber: Weil es die Technik erlaubt, wollen einige politische Kräfte alle Werke zwangsweise gemeinfrei machen.

Doch vielleicht trifft es morgen Ihren Industriezweig, Ihr Forschungsgebiet, Ihre Dienstleistung, Ihr Sozialwesen oder Ihre Verwaltung? Niemand kann es Ihnen sagen. Jedes Gebiet des menschlichen Schaffens kann innerhalb kurzer Zeit total verändert werden.

Die Marktwirtschaft ist die Grundlage unseres Wohlstands. Sie ist auf einem einfachen Prinzip aufgebaut: Leistung soll sich lohnen. Wer eine Leistung bringt, die andere nachfragen, wird dafür eine Gegenleistung bekommen. Wenn man dieses Prinzip auf einem Gebiet außer Kraft setzt, dann ist am Ende die gesamte Marktwirtschaft bedroht.


Nein, ich denke nicht an mich. Es gibt Autoren und Künstler, die zu hundert Prozent von urheberrechtlich geschützten Werken leben. Dazu kommen Übersetzer, Verleger, Lektoren, Techniker und viele andere Menschen. Sie arbeiten in Kooperation mit den Urhebern oder sind selbst Urheber. Hunderttausende Menschen leben in Deutschland letztlich vom Ertrag aus urheberrechtlich geschützten Werken.

Die technische Entwicklung hat das illegale Kopieren der Werke möglich gemacht. Die Betreiber einiger Plattformen haben damit millionenschwere Profite eingefahren und stehen nun völlig zu Recht vor Gericht. Das Geschäftsmodell dieser Straftäter war einfach: Viele Nutzer haben keine Lust, die Werke der Urheber zu honorieren. Also bieten wir ihnen die Werke kostenlos an und profitieren von der Gier der Masse.


Doch muss man wirklich mit der Masse mitmachen? Würde man mit der Masse jemanden treten oder mit der Masse extremistische Parolen brüllen, solange es keiner nachweisen kann? Würde man die Zeche prellen, wenn man in einem günstigen Augenblick in der Masse untertauchen kann?

Hoffentlich nicht! Warum glauben dann so viele Leute daran, dass man in der anonymen Masse das Urheberrecht brechen darf? Weil es niemand nachweisen kann? Aber wenn es keiner merkt, dann könnte man doch auch — ein wenig Treten, Brüllen oder Zechprellen?


Jeder Mensch, dem ich als Teil der Menge begegne, hat Respekt verdient — so auch der Wirt und der Urheber. Aktiver Respekt zeigt sich jeden Tag in unseren Entscheidungen und Meinungsäußerungen: Handle so, dass die Maxime Deines Handelns als Maxime des Handelns aller Akteure dienen kann.

Es gab in der Finanzkrise einen Tag, an dem ich besonders angewidert war. Das war der Tag, an dem ich eine teure Beratung angeboten bekam: Wir zeigen Ihnen, wie Sie ganz legal Ihre Rechnungen nicht bezahlen müssen, bis Ihre Gläubiger aufgeben oder bankrott sind. Kurzfristig verlockend.

In Wahrheit aber genauso widerlich wie das Geschäftsmodell von kino.to oder megaupload. Es war sofort klar: Wenn das alle machen würden, wäre die Wirtschaft bald zusammengebrochen. Deshalb: Handle so, dass die Maxime Deines Handelns als Maxime des Handelns aller Akteure dienen kann.


Und damit bin ich bei dem Teil, den ich nicht unterschreiben kann. Es fehlt mir in dem Aufruf eine kritische Distanz der Urheber-Köpfe zu den Exzessen der Verwertungsindustrie. Es fehlt mir auch die kritische Distanz zur Konzentration der Medienmacht in einigen wenigen Konzernen. Es fehlt der Hinweis auf die Ambivalenz zwischen dem Mitverdienen am Rechtsbruch und dem Anprangern des Rechtsbruchs.

Und es ist eine Sache in dem Aufruf völlig fehl am Platz: Der Seitenhieb gegen ominöse »Internetkonzerne«. Denn nicht die Internetkonzerne sind das Problem, sondern die Millionen Einzelentscheidungen der Nutzer — an jedem einzelnen Tag.


Zum Weiterlesen: Die (aus meiner Sicht sehr schwache) Gegenposition zum Aufruf der Urheber ist bei netzpolitik.org zu finden. Vor einiger Zeit hat sich Spreeblick in einem interessanten Artikel mit dem Thema befasst.



Worthülsen

8. Mai 2012

Noch ein Rätsel. Von wem stammen folgende Worthülsen und wann wurden diese Worte geschrieben?

Es ist nicht der Protest, der uns die Wähler zutreibt, sondern das Versagen der etablierten Parteien, die es nicht schaffen, den Bürger am politischen Geschehen teilhaben zu lassen. Wir bieten den Menschen in diesem Land, die sich ernsthaft an Politik beteiligen wollen, eine echte Alternative. Wir werden diese Demokratie mit neuem Leben erfüllen, wir werden Politik neugestalten.

(a) Von den Grünen nach ihrem ersten Einzug in den Hessischen Landtag.

(b) Von den Piraten nach ihrem Einzug in den Landtag Schleswig-Holsteins 2012.

(c) Von der Statt-Partei nach ihrem Einzug in die Hamburger Bürgerschaft.

(d) Von der Linkspartei nach ihrem Einzug in den Landtag Schleswig-Holsteins 2009.


Diese Sätze könnten von allen vier Parteien stammen. Sie sind problemlos austauschbar. Es gibt drei Möglichkeiten: Manche Partei etabliert sich und wird so wie alle anderen. Manche Partei bleibt ein wirkungsloser Außenseiter. Manche Partei verschwindet von der Bildfläche.

Die Worthülsen stammen übrigens vom Vorsitzenden der Piratenpartei aus dem Jahr 2012.



Ein kleines Rätsel zum Thema Meinungsmache

8. Mai 2012

Stellen Sie sich vor, dass Sie im ICE zwischen Köln und Frankfurt eine Zeitung finden. Der Zug jagt mit knapp 300 Kilometern pro Stunde durchs Land, kurz vor dem Frankfurter Flughafen wird ihnen langweilig und Sie lesen noch ein paar Minuten. Die Zeitung beschreibt einen Politiker einer traditionsreichen demokratischen Partei mit folgenden Worten:

Intrigant, Quertreiber, Windmacher, Star, Schuft, Springteufel

Welche deutsche Zeitung haben Sie gefunden und wen beschreibt sie?

(a) Die BILD schreibt über den griechischen Finanzminister.

(b) Das Zentralorgan der NPD schreibt über den SPD-Vorsitzenden.

(c) Die Süddeutsche Zeitung schreibt über einen FDP-Politiker.

(d) Die Rote Fahne schreibt über einen »neoliberalen« Lobbyisten.


Keine Angst: Es ist nicht die Boulevardzeitung und es ist auch kein extremistisches Blatt. Klicken Sie hier, um den ganzen Artikel zu lesen. So sieht die Meinungsmache zugunsten der FDP aus, die auf den Nachdenkseiten herbeiphantasiert wird …


Nachtrag am 10.05.2012: Heute hat sich Jan Fleischhauer bei SPON mit dem Artikel im »Neuen Süddeutschland« befasst. Überschrift: 100.000 Zeilen Hass.



Nur nicht nachdenken!

7. Mai 2012

An Wahlabenden werden Verschwörungstheorien geboren. Das Blog »Nachdenkseiten« hat heute morgen eine besonders schöne Verschwörungstheorie vorgestellt: Die Ergebnisse von gestern beruhen auf Meinungsmache. Von Meinungsmache profitiert besonders die FDP. So ist das!

Das kommt mir im Ansatz bekannt vor: Meinungsmache war schon in der DDR das Zauberwort des seligen Karl Eduard von Schnitz‘ und der anderen SED-Ideologen, wenn das Verhalten der irregeführten Menschen im Kapitalismus erklärt werden sollte. Es ist bis heute eine herabwürdigende Begründung, denn damit wird unterstellt, dass die Menschen durch Meinungsmache obskurer Kräfte in beliebiger Richtung beeinflussbar seien.

Ich will gar nicht auf alle Bausteine dieser Theorie eingehen. Lesen Sie selbst, wie der Autor in seiner unergründlichen Weisheit das Ergebnis der Wahl in Schleswig-Holstein analysiert, ohne die Piratenpartei auch nur einmal zu erwähnen.

Doch ein Zitat gönne ich mir, weil es stellvertretend für andere Teile zeigt, aus was für billigem Plastik diese Theorie geschnitzt ist:

Und Sie werden jetzt in der weiteren Zeit auch nichts anderes mehr über die Linke hören, als die vom zitierten Bonner Professor Decker intonierte Linie: »Die Linke kann sich in den westdeutschen Ländern nicht verankern. Sie bleibt eine ostdeutsche Regionalpartei.«

Was soll man denn nach dieser Wahl sonst über die Linkspartei berichten? Sie war im Kieler Landtag und sie hatte ihre Chance. Sie konnte in Schleswig-Holstein aber kaum noch jemanden überzeugen. Vielleicht lag es ja daran, dass diese Partei im Westen altlinke Sektierer geradezu magisch angezogen hat?

Die LINKE hat in Schleswig-Holstein seit 2009 insgesamt 62.000 Wähler verloren und von keiner einzigen Gruppe Wähler gewonnen. Es ist interessant, an welche Gruppe die LINKE die meisten Wähler verloren hat: 39.000 von den 62.000 wurden Nichtwähler. Lag das an der unterstellten »Meinungsmache zugunsten der FDP« oder an den Fehlern der Linkspartei?



Wahlkampf in der BUNTEn

7. Mai 2012

Die F.A.S. gibt uns Männern jeden Sonntag einen kleinen Einblick in die Welt der ganz speziellen Frauenzeitschriften — mit ironischer Distanz und immer sehr unterhaltsam. Nur selten verirrt sich eine Meldung aus der Politik in die Rubrik »Herzblatt-Geschichten«.

Doch in NRW wird am kommenden Sonntag gewählt und da zählen natürlich auch die Stimmen der Leserinnen dieser Herzblätter. Also hielt es die CDU für richtig, ihren Spitzenkandidaten Norbert Röttgen in der Zeitschrift BUNTE zu positionieren.

Soweit man das aus der Ferne beurteilen kann, hat die Zeitschrift BUNTE journalistisch völlig unabhängig gearbeitet und investigativ recherchiert. So unabhängig und investigativ, dass die CDU den Beitrag direkt auf ihrer Wahlkampf-Website einsetzen konnte.


Aber das ist noch nicht die Pointe. In den »Herzblatt-Geschichten« erfahren wir nämlich von Ebba Röttgen via BUNTE, was wir über Norbert Röttgen immer schon wissen wollten:

Mein Mann hinterfragt übrigens jeden Punkt meiner Einkaufsliste, ob das denn wirklich alles notwendig ist.

Die F.A.S. kommentiert süffisant:

Das mag jetzt nicht sehr sympathisch und recht knauserig klingen, ist aber in Zeiten klammer NRW-Kassen subtilste Wahlwerbung für den Gatten.


An dieser Stelle legte ich gestern die Zeitung weg, ging ins Arbeitszimmer und suchte bei Google nach Ebba und Norbert Röttgen. Das konnte unmöglich alles gewesen sein. Oft ist so ein Zitat subtil (subtilst?) aus dem Zusammenhang gerissen und man findet in der Nachbarschaft etwas noch Groteskeres. Frau Röttgen im O-Ton:

Mein Mann hinterfragt übrigens jeden Punkt der Einkaufsliste, ob das denn wirklich alles notwendig ist. Letztendlich kauft er dann aber doch alles … 

Treffer.


Fassen wir den Verwertungskreislauf kurz zusammen: Die Volkspartei initiiert eine herzergreifende Home-Story in einer bunten Publikumszeitschrift. Die Zeitschrift produziert diese Home-Story. Das fertige Produkt wird auf der Kampagnen-Website der Partei ausgiebig zitiert.

Dabei schafft die CDU ein besonderes Kunststück der politischen PR: Der Kandidat wird im ersten Satz als sparsam und im zweiten Satz als großzügig beschrieben. Das ist vermutlich optimal für solche Wählerinnen und Wähler, die sich immer nur einen Satz gleichzeitig merken können.


Zum Abschluss noch ein Bonbon für Freunde der politischen Blähsprache. Die Überschrift auf der Website der NRW-CDU lautet:

Ebba und Norbert Röttgen gemeinsam im Gespräch mit der BUNTEN.

Merke: Im Wahlkampf muss man in jeder Situation das Wort »gemeinsam« verwenden, auch wenn es sich eigentlich von selbst versteht.

Vermutlich ist die ganze Aktion als subtil(st)e Wahlwerbung für die anderen Kandidaten angelegt und ich habe es nur noch nicht gemerkt.



Die Piraten nehmen die Sitze der Linkspartei ein …

6. Mai 2012

Im Jahr 2009 war es in Schleswig-Holstein en vogue, die Linkspartei zu wählen, wenn man seinen Protest gegen die »etablierten Parteien« ausdrücken wollte. Das blieb weitgehend folgenlos. Die Linkspartei wollte mit niemandem koalieren und niemand wollte mit der Linkspartei koalieren.

Im Jahr 2012 ist es in Schleswig-Holstein en vogue, die Piraten zu wählen, wenn man seinen Protest gegen die »etablierten Parteien« ausdrücken will …



Die Logik der Piraten und ihrer Anhänger (1)

6. Mai 2012

Um es vorwegzunehmen: Mein erstes Beispiel stammt nicht von einem Mitglied der Piraten, sondern von einem ihrer prominentesten Befürworter im Netz. Der Berliner Fefe betreibt eines der reichweitenstärksten Blogs. Er hat unter den Piraten und ihren Sympathisanten viele Fans. Seine Rants sind legendär. Heute morgen schreibt Fefe:

Zum Bundeshaushalt gibt es online einige interessante Dokumente, u.a. die 20 größten Steuervergünstigungen des Bundes. Platz 1: die Strommafia. Platz 11: die FDP-Hoteliers. […] Ich würde gerne mal erklärt bekommen, wieso eine Branche mit Milliardengewinnen wie die Energiemafia noch 2,3 Milliarden Steuergeschenk vom Bund kriegt. WTF?! [Hervorhebungen von mir.]

Diese Reaktion ist typisch für die Klientel der Piraten und Linken: Man liest die beiden Begriffe Steuerbegünstigung und Stromerzeugung in einer Zeile — also muss es natürlich um die »Energie-Mafia« gehen. Als »Energie-Mafia« werden in den Kreisen der Piraten und Linken die vier großen Stromkonzerne und die Netzbetreiber bezeichnet.


Empört man sich zu recht? Schauen wir genau hin, was in dem Subventionsbericht steht. Wofür verzichtet der Staat auf 2.300.000.000 Euro Steuern? Es geht um die

Steuerbegünstigung für die Stromerzeugung und die gekoppelte Erzeugung von Kraft und Wärme (§§ 37, 53 EnergieStG)

Nach meinem Verständnis dient es nicht der Transparenz, diese beiden Positionen in einer Zeile zu behandeln. Es ist auch interessant, dass das Energiesteuergesetz in der Liste sieben(!) Mal auftaucht. Wäre die Summe zu groß, wenn man alle Positionen in einer einzigen zusammenfassen würde?

Aber schauen wir uns an, worum es bei diesen 2.300.000.000 Euro geht. Was steht zu dieser Position im Energiesteuergesetz?

Es geht in §37 um die Förderung der Energieerzeugung aus Kohle. Kohle wird dabei geringer besteuert als Heizöl oder Erdgas. Damit soll wohl eher der Kohlebergbau unterstützt werden als die »Energie-Mafia«.

Es geht in §53 um die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung. Das ist eine technisch vernünftige Maßnahme, mit der man den Wirkungsgrad der Kraftwerke erhöhen will. Dabei wird z.B. in Dresden die Abwärme eines Kraftwerks in Fernwärme umgewandelt. Die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung dient indirekt auch der Versorgungssicherheit. Sie kommt vor allem Stadtwerken und eher dezentralen Energieversorgern zugute.

Insgesamt erscheint die Zuspitzung der Kritik an diesem Posten auf die »Energie-Mafia« also nicht gerechtfertigt. Es ist vielleicht eine gut gemeinte Empörung, wie vieles bei den Piraten gut gemeint ist. Aber es ist nicht durchdacht.


Ergänzung: Ein sehr schönes Beispiel für die Verschleierung von Subventionen findet man auf der Seite des Bundesfinanzministers zur Energiesteuer. Es geht um die Energiesteuersätze für unterschiedliche Energieträger.

Energietraeger

Screenshot: Besteuerung unterschiedlicher Energieträger

Fällt Ihnen etwas auf? Die Bezugsgrößen der Steuern sind so gewählt, dass man unmöglich erkennen kann, welcher Energieträger bevorzugt oder benachteiligt wird. Um die Besteuerung von leichtem Heizöl und von Kohle (bezogen auf ein GigaJoule) miteinander zu vergleichen, muss man erst den Brennwert und die Dichte des leichten Heizöls herausfinden.


Hinweis: Es wurde die Korrektur einer Zahl notwendig: Es sind 2.300.000.000 Euro im Jahr 2012. Da fehlten drei Nullen am Ende.