In der Zeit in der DDR vor der Wende hat uns beim Träumen von der Freiheit oft ein altes Volkslied berührt. Wir haben uns keine Gedanken darüber gemacht, woher es kam und wer es zuerst gesungen hat. Wir haben nur gefühlt, dass es wohl auch aus einer Zeit der Unfreiheit kam. Jeder kennt zumindest die erste Strophe. —
Die Gedanken sind frei
wer kann sie erraten?
Sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei:
Die Gedanken sind frei!
Marina Weisband, die ehemalige Geschäftsführerin der Piratenpartei, stammt auch aus einem unfreien Land. Mit ihren Eltern kam sie Anfang der 1990er Jahre aus der Ukraine nach Deutschland. Sie ist mir schon immer durch originelle Assoziationen und Gedankenspiele aufgefallen.
Marina Weisband bloggt heute dann und wann in der »F.A.Z.«. Sie hat einige Gedanken über dieses Lied aufgeschrieben. In ihrem Artikel denkt sie darüber nach, wie das Lied wohl damals durch die Zensur gekommen sein könnte:
Der Trick war also folgender: Wenn ein Zensor einen Stapel Werke zur Überprüfung auf dem Schreibtisch hatte, las er hauptsächlich die Titel der Lieder und überflog die ersten Zeilen. In diesem Fall dachte er also bei „Ich liebe den Wein“ an das hundertdrölfzigste Sauflied und genehmigte es. So konnte der Text verbreitet werden.
Und das ist die Strophe, die ich bis gestern gar nicht gekannt habe:
Ich liebe den Wein,
mein Mädchen vor allen,
sie tut mir allein
am besten gefallen.
Ich bin nicht alleine
bei meinem Glas Weine,
mein Mädchen dabei:
Die Gedanken sind frei!
Klingt plausibel ;-)
Man darf vermuten, dass sich das Lied in unfreien Fürstentümern und im unfreien Kaiserreich auch ohne Veröffentlichung weiter durchgesetzt hätte. Es ist aber eine gute Idee, auch in einer scheinbar sehr freien Gesellschaft ab und zu an den Wert der eigentlichen Freiheit zu erinnern.