Der Turm (2): Persönliche Anmerkungen

Heute ist der 7. Oktober. Es ist der Tag, an dem früher die DDR Geburtstag hatte. Am letzten Geburtstag der DDR stand ich allein in einer Um- und Ausbauwohnung im Dresdner Stadtteil Blasewitz und habe auf dem Dach des Hauses die Abdeckung eines großen Lichtschachts repariert.

Kurze Zeit später sind wir als sehr junge Familie in diese Wohnung eingezogen. Der Lichtschacht beleuchtete unsere Küche und in dieser Küche gab es eine Duschkabine, so wie man sie im ersten Teil des »Turm«-Films in der Wohnung von Josta sieht …


Der 7. Oktober ist für mich seit 1990 der Tag, an dem ich mich freue, dass es die DDR nicht mehr gibt. Als ich die ersten Szenen des zweiten Teils sah, wusste ich einmal mehr: Das wird immer so bleiben. Denn in diesen Szenen wird Christian Hoffmann auf brutale Weise in die real existierende Armee der DDR eingeführt. Nach der ersten halben Stunde wusste ich: Über den zweiten Teil des Films kann ich nicht so locker schreiben, wie über den ersten Teil.


In der Schule hatte Christian noch die Propaganda von der »sozialistischen Landesverteidigung« auswendig gelernt und vorgetragen. Nach der Einberufung erfuhr er am eigenen Leib, dass die NVA nichts als ein riesiger Unterdrückungsapparat war. Zur Verteidigung war diese Armee weitgehend ungeeignet, aber zum Schikanieren der jungen Wehrpflichtigen fehlte es nie an Ressourcen.

Die NVA war ein Unterdrückungsapparat, in dem sich die intelligenteren Offiziere oft bis zur Besinnungslosigkeit besoffen haben. Die NVA war ein Unterdrückungsapparat, in dem die dümmsten Offiziere die Soldaten manchmal bis in den Tod getrieben haben. Immer unter dem Deckmantel der DDR-Ideologie. Christian wurde aus dem »Turm« herausgerissen und diesem Unterdrückungsapparat ausgeliefert.


Christian schreibt im Film auf der Latrine einen Brief an seine Familie. Als ich ihn dort sitzen sah, musste ich an meine eigene Armeezeit denken. Ich habe meine 18 Monate im selben Alter und zur selben Zeit abgeleistet. Körperlich war das kein Problem. Die Eskaladierwand habe ich bei jedem Wetter sportlich genommen und die Läufe über 3.000 Meter habe ich geradezu genossen.

Aber ähnlich wie im Film waren Schreiben, Lesen und Denken den Vorgesetzten vom ersten bis zum letzten Tag verdächtig: Ich hatte als junger Abiturient auch Bücher im Spind, vor allem für das spätere Studium — und ein brunzdummer sozialistischer Berufsunteroffizier hat mir einen Eimer Wasser hineingekippt.

Ich habe sehr viele private Briefe geschrieben — nicht wenige davon kamen geöffnet bei den Empfängern an. Ich hatte großes Glück, dass ich für eine spontane Bemerkung im Politunterricht nicht ins Militärgefängnis nach Schwedt gekommen bin: Der junge Offizier auf Zeit war auch begeisterter Läufer und hat mich nicht verpfiffen.

Im ersten halben Jahr einer Unteroffiziersausbildung muss es aber noch viel schlimmer als bei der Grundausbildung der einfachen Wehrpflichtigen zugegangen sein. Der Grund ist offensichtlich: Die jungen Unteroffiziere sollten nach einem halben Jahr mit Hass und Härte auf die Grundwehrdienstleistenden losgelassen werden.

Möglichst alle jungen Männer sollten in der Wehrdienstzeit kapieren: Ihr habt keine Chancen und keine Rechte. Wir verbiegen das Recht bis ins Gegenteil, wenn wir euch fertigmachen wollen. Einen anderen Zweck hatte die NVA in den 1980er Jahren nicht mehr.


Im Film klingelt eine Freundin an der Tür von Anne Hoffmann und sagt nur ein Wort: »Genehmigt«. Sofort ist die Situation in den 1980er Jahren wieder präsent, in der wir uns angesichts der vielen Ausreiseanträge immer wieder fragten: Was hält uns hier? Was treibt uns aus dieser DDR weg? Die Mauer wurde zum Alptraum.

Im Film ist nicht nur von Ausreiseanträgen, sondern auch von Fluchtversuchen, Denunziation und Bestrafung die Rede. Im Buch begeht ein gerade in Rente gegangener Oberarzt Selbstmord, nachdem der DDR-Staat seine Kunstsammlung in den Westen verschiebt.

Man muss die Mauer, das MfS und die Methoden des DDR-Staats immer wieder in Erinnerung rufen, damit Modrow, Gysi und die jüngeren SED-Nachfolger die Geschichte nicht für ihre Zwecke zurechtbiegen können. In der SED/PDS/Linkspartei gibt es noch viele »Genossen« aus jener Zeit, die bis heute bedauern, dass nicht genügend Gewalt angewendet wurde.

Auch am 7. Oktober 2012: Keine Träne für den Staat DDR!


Später wird im Film gezeigt, wie sich Judith Schevola und Meno Rohde gemeinsam betrinken. Sie betrinken sich, weil sie im Staat DDR keine Chance haben, gute Literatur zu schreiben und unzensiert herauszugeben. Judith Schevolas Manuskript wird schließlich bei der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste am Dresdner Hauptbahnhof vernichtet …

Am Ende des Films geht vordergründig ein junger Mann in die Freiheit. Aber eigentlich werden die Bürger eines ganzen Landes in die Freiheit entlassen. Am 8. Oktober 1989 war die Polizei in Dresden zum ersten Mal gezwungen, die Gummiknüppel und Schilde niederzulegen. Am 9. Oktober 1989 war die große Demonstration in Leipzig. Wenige Monate später sagte die große Mehrheit: Weg mit dem Staat DDR!


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38 Responses to Der Turm (2): Persönliche Anmerkungen

  1. Antifa sagt:

    bei der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste am Dresdner Hauptbahnhof…

    Du hast das Adjektiv sicher nur unbewußt falsch gesetzt ;)

    • stefanolix sagt:

      Es wurden in den ersten Oktobertagen 1989 viele friedliche Demonstrationen und Versammlungen mit Gewalt beendet. Auch am Dresdner Hauptbahnhof wurden viele friedlich protestierende oder demonstrierende Menschen »zugeführt« und übel zugerichtet.

      Es trifft zu, dass es im Zusammenhang mit den Zügen aus Prag auch gewalttätige Proteste gab. Aber die Gewalt war meines Wissens eine Reaktion der verzweifelten Ausreisewilligen auf die beginnende gewaltsame Räumung.

      Ich war nicht dabei. Mit einem wenige Wochen alten Kind setzt man sich nicht auf die Schienen. »Wir wollen raus« war zu diesem Zeitpunkt für mich keine Lösung. Ich war dafür am 8. Oktober dabei und habe »Wir bleiben hier« gerufen.

      • stefanolix sagt:

        Das MfS war (neben seinen anderen Aufgaben) immer auch ein Organ zur Desinformation der Öffentlichkeit, im Osten wie im Westen. Deshalb betrachte ich alle vom MfS erstellten und geschnittenen Medien mit höchster Vorsicht.

        Ich habe die Zerstörungen auf der Nordseite des Hauptbahnhofs kurz nach den Ereignissen selbst gesehen (soweit man herankam). Zum Ablauf der Ereignisse kann das Video allenfalls Hinweise geben.


        Die friedliche Revolution begann für mich mit dem Ruf »Wir bleiben hier!« Da fühlte ich: Das DDR-Regime ist am Ende. Denn ab diesem Zeitpunkt wollten die Leute nicht mehr weg, sondern hier in Dresden und in der DDR etwas ändern.

  2. hostmami sagt:

    Ein ergreifender Blogeintrag,von dem ich hoffe,das ihn viele lesen werden…Viele Grüße aus dem Norden Xeniana

  3. Hendrik sagt:

    Täglich habe ich geschaut, was Du zu dem viel stärkeren Teil 2 bloggst. Endlich! ;)

    Ich habe den Film in der Mediathek gesehen und musste hin und wieder pausieren, weil er der Authentischste war, was meine Erlebnisse betrifft. Schon fast verschüttete Emotionen pur.

    Meine Top-10 Liste der besten Filme wurde aktualisiert! ;)

    Der Kernsatz aus Deinen persönlichen Worten: „Auch am 7. Oktober 2012: Keine Träne für den Staat DDR!“

    Zum Mitmeiseln auch gerade für Deine Trolle. Mit besten Grüßen, von mir – in Dresden geboren und in dieser Zeit in der DDR aufgewachsen. ICH werde es nie vergessen. Und allen erzählen, die zum Verstehen bereit sind.

    • stefanolix sagt:

      Aber das kann jetzt nicht zur Gewohnheit werden. Ich muss nebenbei noch gewissen beruflichen Tätigkeiten nachgehen, habe Familie und Schlafdefizit ;-)


      Ich muss ehrlich sagen: Ich hätte dem Roman eine dreiteilige Verfilmung gegönnt. Ich hätte mir auch einen dritten 90minütigen Teil angesehen und gern darüber gebloggt.

      Das russische Fernsehen hat das Buch »Der Meister und Margarita« in einer Serie von insgesamt zehn Stunden verfilmt …


      Keine Träne für den Staat DDR — ich hoffe, dass viele Leser des Artikels den Unterschied zwischen DDR-Staat und DDR-Bürgern verstehen. Viele DDR-Bürger sind in diesem System menschlich, kameradschaftlich und treu geblieben. Den Begriff »integer« kannte ich damals noch nicht, aber es gab im Rückblick viele integere Menschen in der DDR. Es gab auch solche Menschen wie die Figur Meno Rohde, die unter Druck integer geworden sind.

      Eigentlich kann man dem Film und dem Buch in ihrer ganzen Tragweite mit Bloggen nicht gerecht werden. Man müsste wieder so eine Atmosphäre schaffen, wie sie früher in den Kneipen der Wendezeit herrschte, und eine ganze Nacht darüber quatschen …

      • Rayson sagt:

        Keine Träne für den Staat DDR — ich hoffe, dass viele Leser des Artikels den Unterschied zwischen DDR-Staat und DDR-Bürgern verstehen.

        Ich kann nie verstehen, wie man auf die Idee kommen kann, dass vernunftbegabte Menschen diesen Unterschied nicht machen. Anderenfalls hätte es ja nie zu dem Beitritt kommen dürfen… Im Gegenteil: Es hätte keinen Grund gegeben, die DDR nicht beizubehalten.

      • stefanolix sagt:

        Wenn es keine Bundesrepublik mit genau diesem Grundgesetz gegeben hätte, wäre es sehr interessant gewesen, einen Weg in die Demokratie und Marktwirtschaft ähnlich wie die Tschechen, Ungarn, Balten oder Polen zu gehen. Ich wage zu behaupten: Wir hätten das auch geschafft.

  4. rialto sagt:

    Sehenswerter Film und sehr guter Kommentar (durch Zufall hier drüber gestolpert), vor allem ist er für die nach 1989 geborenen zu empfehlen.

    Ich selbst hatte damals großes Glück. Nachdem ich 1987 meine 3-Jahres Verpflichtung für die NVA zurückgezogen hatte, wurde meine Akte wahrscheinlich ganz unten hingelegt. :-)

    Danach wollte weder die eine noch die andere Armee etwas von mir wissen.

    • stefanolix sagt:

      Die NVA hat Dich bestimmt nicht vergessen. Sie wollte Dich zum 26. Geburtstag mit einer Einberufung nach Marienberg überraschen. Und das hätten sie auch getan, selbst wenn Du eine Frau und zwei Kinder gehabt hättest. Mit mir waren viele 26- bis 27jährige grundwehrdienstleistende Ehemänner und Väter aus der Region Chemnitz und Erzgebirge bei der Armee. Nicht selten aufgrund solcher Racheakte der Bürokratie: »Verdirbst du uns die Planzahlen, verderben wir dafür dein Leben.«

  5. Krischan sagt:

    Vielen Dank für den Kommentar. Ich lese gerade (zum zweiten Mal) den „Turm“, übrigens ohne die Verfilmung bisher wahrgenommen zu haben. Ist aber auf jeden Fall auf der Liste, nur nicht in der MediaThek :-)

    Zwischen Christian Hoffmann und mir liegen rund 10 Jahre, der Wehrdienst zu DDR-Zeiten blieb mir somit erspart – gottseidank, möchte ich sagen. Aber Schule habe ich noch ausführlich kennengelernt, mit allen Doppelzüngigkeiten, die es so gab. Und natürlich die Wendezeit – in der ich als Agitator (!) auf einmal Wandzeitungen gestalten konnte, die Schüler und Lehrer freiwillig und mit viel Interesse gelesen haben. Rückblickend betrachtet, war das der Augenblick in meinem Leben, an dem ich Freiheit unmittelbar erfahren habe – ich kann schreiben, was ich will, ohne dafür belangt zu werden. Geht mir heute noch unter die Haut, obwohl ich da erst 12 war.
    Schön, dass das Zwangsfernsehen doch ab und zu mal einen Lichtblick landet.

    • stefanolix sagt:

      Das Buch ist natürlich wichtiger, aber es erreicht eben auch viel weniger Leser. Ich habe es schon zwei Mal gelesen, allerdings (wie gesagt) ohne Vorwort. Ich denke, dass sich später geborene Leserinnen und Leser mit jemandem unterhalten sollten, der 1989 miterlebt hat. Schon die Generation 30+ kennt viele Personen aus der DDR nicht mehr.

      »Der Anwalt im Buch ist dem DDR-Anwalt Vogel nachempfunden« — »Wer war das?«.


      Für mich als Studenten und jungen Familienvater (22) war es hochinteressant, wie sich die Schulen nach 1989 verändert haben. Solche Wandzeitungen sind mir auch in Erinnerung ;-)


      PS: Wo kann man denn diesen Film noch bekommen? Wartest Du auf die DVD oder auf eine Kino-Aufführung?

      • Krischan sagt:

        DVD wäre schön, wird es sicher geben, im Spezialitätenhandel :-)

      • stefanolix sagt:

        In einem Kommentar weiter unten ist die DVD schon avisiert. Ich habe als Mensch ohne Fernseher früher viele DVDs gekauft, wenn mich ein Film oder eine Serie interessiert hat. In diesem Fall schwanke ich noch: Eigentlich glaube ich nicht mehr an die Zukunft der DVD ;-)

  6. […] Techblog (Dresden/1394) 19. PadMania.de (Dresden/1402) 20. Rotebrauseblogger (Leipzig/1458) 21. stefanolix  (Dresden/1471) 22. Thomas Schneider(Breitenbrunn/1627) 23. Blechblog (Dresden/1865) 24. Der Google […]

  7. OstTimoR sagt:

    Ich frage mich (und euch), ob es bei der Bundeswehr in den 80ern nicht ähnlich schikanös zugegangen ist. Ich habe 1990/91 Zivildienst gemacht und daher gar keine Armeeerfahrung.

    Und was wäre passiert, wenn ein Schüler im westdeutschen Internat oder in der Schule mit Naziliteratur erwischt worden wäre? Hätte das keine Konsequenzen gehabt?

    Was mich noch interessiert, ist dieses sog. „Ostrom“. Gab es in Dresden wirklich so ein abgesperrtes, überwachtes Wohngebiet und wenn ja, wo genau war das?

    Die DVD ist übrigens bereits seit dem 5. Oktober für 15 € erhältlich (und noch immer kostenlos in der Mediathek der ARD :-) ).

    • stefanolix sagt:

      Ich war in den 1980er Jahren nicht bei der Bundeswehr. Ich kann nur wiedergeben, was ich aus vielen Erzählungen weiß.

      Die Soldaten konnten in der Regel an fast jedem Wochenende nach Hause fahren und hatten zusätzlich noch Urlaub. In der DDR hatte man Anspruch auf einen Kurzurlaub (verlängertes Wochenende) und einen Erholungsurlaub (wenige Werktage) pro Halbjahr. Beides konnte dem Wehrpflichtigen unter diversen Vorwänden auch noch verdorben werden. Ansonsten hatte man Anspruch auf nichts: Selbst den Ausgang am Dienstort gab es nur auf Antrag.

      Die Kasernen, die ich in der DDR gesehen habe, waren so konstruiert, dass der Stacheldraht auf der Mauer nach innen gerichtet war. Mehr muss man dazu nicht sagen(?)

      Wer derart eingesperrt ist und weiß: Draußen ist keinerlei Rechtsstaat — der dürfte in einer deutlich anderen Situation sein, als bei der Bundeswehr.


      Bei der Bundeswehr hätte man einen Rekruten mit gesundheitlichen Problemen nicht über die Sturmbahn gejagt und unter Gasmaske rennen lassen, bis er kollabiert, sondern man hätte ihn je nach Intelligenz an einen Rechner gesetzt, ins Büro oder ins Bekleidungslager gesteckt. Es werden ja überall Hilfsdienste benötigt.


      Wie man nach der Wende erfahren hat, gab es in der Bundeswehr unter den Soldaten an manchen Standorten Ekel-Rituale wie im Dschungelcamp, also ekelhafte Dinge essen, Schlamm, Schleim und Feuchtigkeit. Das gab (oder gibt) es aber auch in diversen Internaten.

      • E-Haller sagt:

        Die Bundeswehr in den 80ern wird ganz gut in „Neue Vahr Süd“ beschrieben. Tatsächlich ging es da lockerer zu – insbesondere die Wochenendheimfahrten führten zu dem Spruch, man müsse nur Freitag nach 1 in die BRD einmarschieren…

        Das es manchmal Todesfälle wegen (unentdeckten) Krankheiten auch bei der Bundeswehr gab. Insbesondere die Unteroffiziersränge sind und waren in der BW gegenüber Abiturienten auch schnell mal schikanös eingestellt, insbesondere wenn sie vermeintliche Schwächen ahnten (der simuliert bloß…)

        An abgesperrte Wohngebäude kann ich mich in DD nur im Zusammenhang mit einigen Häusern der sowjetischen Streitkräfte erinnern – z.B. um die Radeberger Straße, die Mauer steht noch: http://bit.ly/Pn3dHI .

      • Lenbach sagt:

        Insbesondere die Unteroffiziersränge sind und waren in der BW gegenüber Abiturienten auch schnell mal schikanös eingestellt,

        Das kann ich bestätigen. Es kam irgendwie unausgesprochen zu gewissen Allianzen nach Bildungsgrad. Die Offiziersanwärter hatten in der Regel den Abiturienten gegenüber ein gewisses Verständnis, während die Unteroffiziere den „Luschen, die noch nie gearbeitet hatten“, zeigen wollten, wo der Hammer hängt. Ich erinnere mich da insbesondere an einen Geländelauf mit Gasmaske (Verzeihung, ABC-Maske natürlich) und voller Ausrüstung, der mich an den Rand der Ohnmacht brachte.

        Ansonsten wurde uns eingetrichtert, daß wir Glück hätten, bei der Bundeswehr dienen zu dürfen, denn bei der NVA herrschten andere Sitten. Ich hatte damals die Vorstellung, sollte es wirklich zum Ernstfall kommen, hätten wir verweichlichte BRDler gegen die abgehärteten bis verrohten Ostblock-Soldaten keine Chance. Gruselig.

      • Zum Glück gehört die Gorch Fock nicht zur Bundeswehr.

      • stefanolix sagt:

        Es ist ein Unterschied, ob man den Wehrdienst in einem demokratischen Rechtsstaat oder in einer Diktatur leistet.

        In einem demokratischen Rechtsstaat werden Vorfälle und Unfälle untersucht, während sie in einer Diktatur vertuscht werden. Vorgesetzte, die geltendes Recht brechen, müssen im Rechtsstaat damit rechnen, dass man sie bestraft.

        In einem demokratischen Rechtsstaat gibt es keine Gesinnungsdelikte [von extremen Ausnahmen wie Volksverhetzung abgesehen], während man in einer Diktatur schon für die bloße Unterstellung oder nach einer Denunziation ins Gefängnis kommen kann.

      • E-Haller sagt:

        „In einem demokratischen Rechtsstaat werden Vorfälle und Unfälle untersucht, während sie in einer Diktatur vertuscht werden.“ Das klingt ein wenig naiv, mit Verlaub…auch in einem Rechtsstaat wird genug vertuscht – was logischerweise aber nicht ans Licht kommt, weil es vertuscht wurde ;)

      • Antifa sagt:

        In einem demokratischen Rechtsstaat werden Vorfälle und Unfälle untersucht, während sie in einer Diktatur vertuscht werden. Vorgesetzte, die geltendes Recht brechen, müssen im Rechtsstaat damit rechnen, dass man sie bestraft.

        Was zu meiner Zeit vertuscht wurde und das war ein Abiturientenjahrgang! Von Drogen über Politik war im Prinzip alles dabei. Die Bundeswehr hat da ihre ganz eigene Auffassung von Recht und Unrecht, noch in den 90er Jahren landete man für kleine Vergehen auch mal schnell für zwei Wochen in Arrest.

  8. Das ist sehr schön geschrieben. Ich wollte den Film anfangs gar nicht sehen und bin mit meiner Frau gemeinsam froh darüber, dass wir es dann doch getan haben.

  9. Lenbach sagt:

    Ich habe hier noch ein interessantes Interview zur damaligen Situation in Dresden entdeckt:

    Im Herbst 1989 sah alles nach einer Eskalation aus, als sich in Dresden das Volk und die Polizei gegenüberstanden. Doch warum wurde am Ende nicht geschossen? Zwei Hauptakteure, Kaplan Frank Richter und Offizier Detlef Pappermann erinnern sich.

    http://www.tagesspiegel.de/politik/8-oktober-1989-das-wunder-von-dresden/7168480.html

    • Antifa sagt:

      Was für eine verzerrte Darstellung der Realität, aber klar, passt nicht in das Geschichtsbild der „friedlichen Revolution“.

  10. Lenbach sagt:

    Lieber Stefanolix,

    wie wäre es mit einer unregelmäßigen Serie mit Erinnerungen und Annekdoten aus erster Hand? Für jemanden wie mich, der diese Zeit auf der anderen Seite erlebt hat, wie auch für die Jüngeren unter uns, wäre das sehr interessant.

    Was mir beispielsweise bis heute nicht klar ist: Wie funktionierte das Leben direkt nach der Maueröffnung, in den ersten Wochen und Monaten? Gingen die Menschen ganz normal weiterhin zur Arbeit? War man sich über das Ausmaß bewußt, was nun kommen würde? War die Versorgung besser/schlechter als vorher? Funktionierte die Verwaltung/Polizei weiterhin? Gab es plötzlich ungeahnte Eigeninitiativen, das Leben in die eigene Hand zu nehmen oder wartete man eher ab? Immerhin könnte ich mir vorstellen, daß eine nicht unerhebliche Zahl an Menschen auf die Idee kommen konnte, in einem quasi rechtsfreien Raum zu leben, wenn der Staat vor eigenen Augen zusammenbricht…

    • stefanolix sagt:

      In der Zeit zwischen den Oktober-Demonstrationen und der Maueröffnung gab es natürlich eine große Unruhe. Schritt für Schritt kamen immer mehr Informationen über SED und MfS an die Öffentlichkeit. Akten und Dokumente wurden tonnenweise vernichtet, bis die Bürgerrechtler die Reste sicherten.

      Nach dem Tag der Maueröffnung wollten alle DDR-Bürger erst mal in den Westen. Nachdem klar war, dass die Mauer nicht wieder geschlossen werden würde, habe ich zuerst weiter an der Wohnung gearbeitet und bin dann einige Wochen später nach Westberlin gefahren. Wichtigstes Mitbringsel: Papier (Erzeugnisse der freien Presse und Bücher).

      Anfang 1990 bis zu den ersten freien Wahlen: Es wurde in weiten Teilen der Bevölkerung sehr engagiert und produktiv über die politische Zukunft gestritten. Ein demokratischer Rechtsstaat sollte es natürlich sein. Aber konnte es einen eigenständigen Weg geben oder war die Wiedervereinigung unumgänglich?

      Diese Frage beantwortete sich mit dem Ergebnis der ersten freien Wahlen. Dann hatten wir zum ersten Mal eine Volkskammer, die diesen Namen verdient hat. Wir saßen vor den Geräten, wenn sie tagte. Die Präsidentin und der Vizepräsident der Volkskammer hatten traumhafte Einschaltquoten ;-)

      Einen rechtsfreien Raum gab es eigentlich nie.

  11. hostmami sagt:

    @Lenbach Die Idee finde ich Klasse. Mich hat dieser Blogeintrag auch sehr berührt. Es waren sofort Bilder da .Ich fände es schade,wenn diese Blogeinträge keine Gewohnheit werden würden.Es würde sich so lohnen.Viele Grüße xeniana

    • stefanolix sagt:

      Ich habe die Wünsche registriert. Aber ich kann zur Zeit keine Termine zusagen. Das vierte Quartal ist immer das vollste ;-)

      • hostmami sagt:

        Es taugt sicher auch im 5.Quartal noch als Zeitzeugnis:)
        Es wäre einfach schön noch einige solcher gekonnten Artikel zu dieser Zeit zu lesen.

  12. thg sagt:

    Danke für deinen Blogbeitrag. Ich habe Teil 2 eben erst in der Mediathek geschaut und besinne mich wieder auf das Buch, das ich nun sicher noch mal lesen werde.
    Ich habe das Buch damals, kurz nachdem mein Vater es gelesen hatte, regelrecht verschlungen. Ich kann mich an diese Zeit nicht mehr erinnern, gleichwohl ich schon auf der Welt war. Naturgemäß hatten wir, wie sich dann in vielen Gesprächen herausstellte, völlig unterschiedliche Sichtwinkel auf das Buch: Mein Vater war auch sehr persönlich betroffen (und regte sich, für mich amüsant, wahnsinnig über die Sprache auf). Ich habe mich schon immer für diese Zeit interessiert und hatte danach natürlich noch viel mehr Fragen als vorher schon… Ich fände es gut, wenn nach dem Schauen des Filmes jetzt bei vielen das Gleiche passiert: gewecktes Interesse und viele Nachfragen. Das ist sososo wichtig, wenn man sieht, wie leicht und gern viele gewisse Dinge vergessen.

    • stefanolix sagt:

      Das Buch ist kein einfaches Stück Lesestoff und viele Leute werden wohl enttäuscht sein, wenn sie es nach dem (bewussten) Anschauen des Films lesen. Ich kann nur empfehlen: Überspringt das Vorwort und beginnt mit dem ersten Kapitel.

      Ich werde sicher mit »Turm«-Beiträgen weitermachen und freue mich schon auf die Diskussionen. Aber jetzt hat heute und morgen erst mal die Arbeit Vorrang und am Sonntag werde ich mich als Nachhilfe-Lehrer betätigen müssen. Das Kind hatte in diesem Schuljahr am Gymnasium noch keinen nennenswerten Mathematik- und Physikunterricht …

  13. Jörg sagt:

    Wenn ich hier die Kommetare über die NVA lese, auch den des Blogbetreibers, kann ich mich nur wundern.

    Natürlich wurde in der NVA hart ausgebildet. Natürlich, und daran war das Diktat der Russischen Vormachtsstellung innerhalb des Warschauer Vertrages Schuld, wurde bei der ständigen Gefechtsbereitschaft, aus heutiger Sicht, stark übertrieben, was zur Folge hatte, dass die NVA, zu 85 % in den Kasernen war und die Bundeswehr bei Muttern Kuchen aß.

    Aber das ein Mann Briefe auf dem Klo schreiben mußte, ist Unsinn. Dumme Unteroffizere gab es und gibt es in jeder Armee dieser Welt.
    Aber Wasser über Bücher kippen habe ich nie erlebt und es wäre auch ein Grund, den Mann sofort zu bestrafen, der das getan hat.

    Auch in der NVA-Kaserne gab es normale Freizeit wo man lesen konnte, das Kino in der Kaserne besuchen konnte, in irgendwelchen Arbeitsgemeinschaften tätig sein konnte oder Sport betreiben.

    Zu den Zeiten, als sich NATO und WV noch gegenüber standen, war es in der NVA und auch in der BW durchaus üblich, dass man Soldaten heranbildete und keine Rosenzüchter.
    in einer Armee, die nicht nur Showeffekt haben soll, muss man halt ausbilden und den Soldaten auf möglichst viele Unbill eines möglichen krieges vorbereiten.

    • stefanolix sagt:

      @Jörg: Ich weiß nicht, aus welcher Position heraus Sie kommentieren. Ich habe meinen Artikel als Grundwehrdienstleistender mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen geschrieben. Ich war unter anderem als »Ersatzarbeiter« in Waldheim, ich habe bei tiefsten Temperaturen im Braunkohlentagebau gearbeitet und ich habe auch an Übungen teilgenommen.


      Es trifft zu, dass es in der Kaserne eine Bibliothek gab. Es trifft auch zu, dass es in jeder Einheit einen Fernsehraum gab. In der Bibliothek gab es allerdings nur ideologisch eingefärbte Bücher, die keiner freiwillig gelesen hat. Im Fernsehraum gab es natürlich nur Ost-Fernsehen. Dass Lauftraining möglich war, habe ich schon erwähnt.


      Der Feldwebel, der mir das Wasser in den Schrank gekippt hat, wurde nicht bestraft, sondern befördert.

      Ich habe selbst erlebt, dass Soldaten (mit junger Familie!) aus reiner Schikane über Wochen und Monate nicht nach Hause fahren durften, während das für die Soldaten der Bundeswehr selbstverständlich war und im Zweifel auch durchgesetzt wurde.

      Die Gefechtsbereitschaft war nur ein Vorwand. Es waren doch am Wochenende fast keine Führungskräfte in der Kaserne, die im Ernstfall die Führung übernommen hätten. Mal ganz abgesehen davon, dass der Alkoholismus bei vielen Berufskadern schon gravierende Folgen hatte.

      Ich bleibe bei meiner prinzipiellen Darstellung: Ein Soldat der NVA hatte wesentlich weniger Rechte als ein Soldat der Bundeswehr. Die unmenschlichen Zustände in Schwedt werden im Film nur angerissen. Im Buch werden sie deutlicher beschrieben. An den Beispielen MfS und NVA konnte man am deutlichsten sehen, wie verlogen die Ideologie der SED und der DDR-Staatsführung war.

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