Es ist wieder einer dieser typischen Fälle des ruinösen Wettbewerbs um Aufmerksamkeit. Vermutlich läuft es so ab: Die Redaktionen haben eine Pressemitteilung mit einer griffigen Formulierung erhalten. Die Zeitung muss noch irgendwie gefüllt werden. Die Zeit drängt.
Die Qualitätsjournalisten in den Redaktionen haben nun zwei Möglichkeiten. Sie können aus der Formulierung eine reißerische Schlagzeile machen. Sie können diese Formulierung aber auch auf ihren Sinn und ihren Wahrheitsgehalt überprüfen.
Natürlich denken die meisten Journalisten nicht im Traum daran, den Sinn und Wahrheitsgehalt der Schlagzeile zu prüfen. Im Gegenteil: Sie überbieten sich darin, diese Formulierung dramatisch auszuschmücken. Also lauteten die Schlagzeilen:
»Eine Badewanne Alkohol pro Jahr«
»Wir trinken im Jahr eine Badewanne voll Alkohol«
»Jeder Deutsche trinkt eine Badewanne voll Alkohol«
Man fragt sich unwillkürlich: Wie viel Restalkohol ist im Spiel, wenn sich jemand eine solche Überschrift ausdenkt oder wenn er sie ungeprüft übernimmt?
Die Dresdner Zeitungen haben die alkoholgefüllte Badewanne natürlich auch im Programm. So titelt die »Sächsische Zeitung«: »Badewanne voll Alkohol gefährlicher als manche Trenddroge«.
Merkwürdigerweise lassen die Fakten im Text aber überhaupt nicht auf eine Badewanne voller Alkohol schließen. Es geht allenfalls um ein alkoholisches Getränk, das sehr stark verdünnt wurde. Aber dazu später. Gönnen wir uns einen kleinen Faktencheck.
Wie voll ist die Badewanne?
Eine ordentliche Badewanne fasst etwa 180 bis 200 Liter Wasser. Die Badewanne in der Pressemitteilung soll mit 136.9 Litern Flüssigkeit gefüllt sein. Mit dieser Menge an Flüssigkeit wird also längst nicht jede Badewanne voll. Allerdings gibt es wohl einen Trend zu kleineren Badewannen – wegen des umstrittenen Wassersparens.
Wie viel Alkohol ist in der Badewanne?
Von den 136.9 Litern Flüssigkeit sind ganze 9.6 Liter reiner Alkohol. Der Rest des Mixgetränks besteht aus Wasser, Zucker und anderen weitgehend ungefährlichen Stoffen. Der Alkoholgehalt der Mischung beträgt also ganze 7 %.
Wie viel Alkohol ist das pro Tag?
Diese dünne Mischung verteilt sich nun auf 365 Tage. Folglich muss der Durchschnittsdeutsche davon 0.375 Liter am Tag trinken, bis die bei weitem nicht volle Badewanne geleert ist. Der reine Alkohol verteilt sich dabei natürlich auch auf 365 Tage.
Das sind 0.0263 Liter Alkohol pro Tag – in die Realität umgerechnet ergibt das etwa eine Flasche etwas stärkeres Bier (mit 5.25 % Alkoholgehalt) am Abend. Mit 365 Flaschen Bier (182.5 Liter) könnte man die Badewanne auch ganz gut füllen. Aber daraus wäre ja keine dramatische Schlagzeile entstanden.
Was ist denn nun wirklich wahr? Einen relativ seriösen Text ohne reißerische Überschrift leistet sich die F.A.Z. (Hervorhebung von mir):
Die größten gesundheitlichen Belastungen entstehen laut der DHS jedoch immer noch durch Alkohol- und Tabakkonsum. Jeder Deutsche hat 2011 im Schnitt 136,9 Liter alkoholische Getränke wie Bier, Wein oder Spirituosen konsumiert. Das entspricht einer randvoll gefüllten Badewanne. Umgerechnet entfielen damit wie im Vorjahr auf jeden Deutschen rund 9,6 Liter reinen Alkohols.
Abgesehen von dem ausschmückenden Wort »randvoll« ist der Text in Ordnung. Die Überschrift lautet übrigens »Gefährliches Spiel«.
Eigentlich sollte man konsequent sein und nach jeder dieser Panik-Schlagzeilen eine Woche lang keine Zeitungen mehr kaufen. Ob die Vertreter der »Qualitätspresse« es dann kapieren würden?
Gestern im Radio hörte ich sinngemäß: „Jeder Deutsche konsumiert demnach pro Jahr 9,6 Liter reinen Alkohols. Das entspricht etwa 140 Litern alkoholischer Getränke wie Bier, Wein oder Schnaps“, worauf ich mich auch fragte, ob es echt zu viel verlangt gewesen, diesen Satz so zu formulieren, dass er einigermaßen richtig wird.
Wenn man schon bei der Formulierung mit dem »reinen Alkohol« ist, dann beginnt die Textzeile ja wenigstens vielversprechend.
Die Gleichsetzung der unterschiedlichen Getränke enttäuscht dann um so mehr.
Richtig wäre gewesen: Das entspricht einer bestimmten Menge Bier (da gibt es nur relativ geringe Abweichungen, die meisten Biere liegen in der Größenordnung von 5 % Alkoholgehalt).
Nachdem ich gerade kürzlich eine Brauereiführung mitgemacht habe, weiß ich, dass das zwar grundsätzlich stimmt, aber auch wieder nicht ganz, denn es gibt anscheinend auch Starkbiere, die über 10% erreichen.
Klar. Aber der Anteil dieser Starkbiere am Gesamtumsatz mit Bier in Deutschland ist m. W. verschwindend gering. Im Grunde genommen müsste sich der Artikel auf die Aussage zum reinen Alkohol beschränken. Oder er müsste die Art des Bieres (Export, Pilsener …) genau benennen.
Es ist doch keine Neuigkeit, dass in Überschriften Sachverhalte nur verkürzt dargestellt werden (können). Ob die Formulierung nun sprachlich korrekt ist, sei einmal dahin gestellt. Ich denke Rezipienten werden so wie hier auch einen Unterschied zwischen „reinem“ Alkohol und alkoholischen Getränken ziehen können. Vielleicht hat sich auch einfach nur etwas an der Bedeutung des Wortes geändert?
In dem verlinkten Artikel aus der Sächsischen Zeitung heißt es ja dann auch ähnlich wie in der FAZ: „Eine Badewanne voll alkoholischer Getränke hat jeder Mensch in Deutschland 2011 im Schnitt konsumiert […]“. Und auch wenn die durchschnittliche Menge in Deinen Augen vielleicht gering erscheint, ist sie doch für den Tod von rund 74.000 Menschen im Jahr zumindest mitverantwortlich.
Mir ging es in erster Linie um die reißerischen und dummen Schlagzeilen, die ja auf einer (ungeprüft übernommenen) interessengeleiteten Pressemitteilung basierten.
Folgender Mechanismus stört mich:
1. Die PR eines Unternehmens oder einer Organisation denkt sich Texte mit reißerischen Schlagzeilen, griffigen Slogans oder aus dem Zusammenhang gerissenen Zahlen aus.
2. Die Zeitung übernimmt es ungeprüft.
Das Thema Alkohol war eine gute Gelegenheit, wieder einmal darauf hinzuweisen. Journalisten sollen von keiner PR-Abteilung irgend etwas übernehmen – sei es noch so gut gemeint. Sie sollen ihre Artikel und Überschriften selbst formulieren.
Wenn in der Badewanne nur knapp zehn Liter Alkohol drin sind, dann darf man sie nicht als »voll mit Alkohol« bezeichnen.
Es liegt mir fern, das Problem des Alkoholismus zu bagatellisieren. Aber die Schlussfolgerung mit den 74.000 Toten beruht auf interessengeleiteten Schätzungen. Das darf man nicht vergessen. Die Organisationen, die darauf hinweisen, wollen Steuer- und Spendengeld haben. Deshalb tun sie es so plakativ.
Es ist immer zu hinterfragen, welche Einflussfaktoren noch zum Tode geführt haben könnten. Wodurch kommt ein starker Raucher zu Tode, der betrunken eine Treppe herunterfällt und sich den Hals bricht? Wäre er bald darauf an Lungenkrebs gestorben? Hatte er sich soeben wegen der Diagnose Lungenkrebs bis zur Besinnungslosigkeit betrunken? Oder lag es an der kaputten Treppe?
Keine Ahnung woher die FAZ ihre Zahlen hatte, aber der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung würde ich nicht unterstellen wollen, dass sie auf Steuer- und Spendengelder spekulieren. Sie geben in Sachen Alkohol eine Zahl von 40.000 an. Ganz real sind die Zahlen zu alkoholbedingten Unfällen im Straßenverkehr 2011: „Bei 16 046 der 589 755 an Unfällen mit Personenschaden beteiligten Personen war die Verkehrstüchtigkeit durch Alkoholeinfluss beeinträchtigt.“, insgesamt 400 starben.
Steht doch im Artikel der F.A.Z.: »Das geht aus dem „Jahrbuch Sucht 2013“ hervor, das die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) am Mittwoch präsentierte.«
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Hauptstelle_f%C3%BCr_Suchtfragen
Wie ich vermutete: Ein Interessenverband (man könnte auch sagen: eine Lobby-Organisation).
Daraus erklärt sich meiner Meinung nach auch die Differenz zwischen 74.000 und 40.000 Toten. Die größere Zahl klingt dramatischer.
Es ist übrigens erschreckend, dass im internationalen Vergleich noch mit Daten aus den Jahren um 2005 gearbeitet wird:
http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_alcohol_consumption
Der WHO-Bericht ist aus dem Jahr 2011 und bezieht sich auf Verbrauchsdaten bis zum Jahr 2007:
http://www.who.int/substance_abuse/publications/global_alcohol_report/en/index.html