Ich gebe zu: Ich sehe Werbespots nur im Kino oder im Internet. Ein kleiner Teil der Werbespots gefällt mir gut. Die meisten sind mir gleichgültig. Einige gefallen mir gar nicht.
Werbung trifft bei jedem Menschen auf bestimmte Wertvorstellungen und auf einen bestimmten Geschmack. Werbung ist immer eine Meinungsäußerung und nicht jede Meinung kann jedem Menschen gefallen.
Es liegt in der Natur der Werbung, dass darin Menschen idealisiert werden. Die Menschen in der Werbung sehen ganz anders aus als die Menschen in meiner Umgebung und sie verhalten sich auch anders.
Werbung hat in den allermeisten Fällen nichts mit mir zu tun. Ich muss mich damit abfinden, dass ich nicht so schön und so jung bin wie der Mann in der Coca-Cola-Werbung. Ich werde wohl auch nie in einem Werbeclip lässig Basketball spielen oder locker von der Klippe ins Meer springen.
Die Figuren aus der Werbung beeinflussen überall im Land Gedanken, Gespräche und Geschriebenes. Männer und Frauen träumen je nach ihrer sexuellen Orientierung von idealisierten Figuren des eigenen oder des anderen Geschlechts. Oder von beiden. Oder von niemandem.
Der Anbieter des Getränks BIONADE hat in einem Werbespot mit dem Thema Travestiekunst und Illusion gespielt: Eine geheimnisvoll lächelnde Person legt nach der Show ihre falschen Fingernägel, Haare und Wimpern ab. Das Motto des Spots: Es geht auch ohne künstliche Zusätze.
Radikale Netzaktivistinnen haben den Spot gesehen und sofort ihre Chance erkannt: Man kann diese Werbung als diskriminiernd denunzieren. Man kann damit Aufmerksamkeit erregen. Man kann den Spot für eine Machtprobe nutzen.
Der Trick ist einfach: Sie sehen in dem Werbespot nicht die Kunst der Travestie und der Illusion. Sie versetzen diesen Werbespot in das reale Leben und schließen dann messerscharf: Hier wird eine Minderheit diskriminiert. In ihrer merkwürdigen Sprache liest sich das so: Es sei ein »trans*feindlicher, heteronormativer Werbespot«.
Würde man dieses Urteil ernst nehmen, müsste die Mehrzahl aller Werbespots sofort aus dem Kino, aus dem Fernsehen und aus dem Internet verbannt werden. Es gibt wohl kaum einen Spot, der nicht in irgendeiner Form als »normativ« betrachtet werden kann.
Die Werbung für die meisten Kosmetika zielt auf heterosexuelle Frauen und Männer. Natürlich ist sie »heteronormativ«. Aber es wird niemand gezwungen, sich die Werbung anzuschauen oder das Parfüm zu kaufen.
Die Autowerbung ist autonormativ. Sie diskriminiert die überzeugten Fahrradfahrer, die Fußgänger und alle Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen kein Auto fahren können. Die Werbung für Alkoholika diskriminiert die Abstinenzler. Die Werbung für Zigaretten diskriminiert die Nichtraucher.
Wer auch nur einen Werbeblock im Kino zur Kenntnis nimmt, dürfte sich mit etwas Anstrengung in fünf Minuten ein Dutzend Mal diskriminiert gefühlt haben.
Zum Glück kennen die meisten Menschen den Unterschied zwischen Werbung und dem richtigen Leben: In der Werbung werden Illusionen erzeugt. Im richtigen Leben müssen wir mit diesen Illusionen klarkommen. Ohne Toleranz und gesunden Menschenverstand kommen wir damit nicht zurecht.
An manchen Tagen geraten Toleranz und gesunder Menschenverstand allerdings schnell in Vergessenheit. Auf der Facebook-Seite mit dem bewussten Spot werden die Social-Media-Mitarbeiter des BIONADE-Anbieters beschimpft und man kann viele persönliche Boykottankündigungen lesen. Die Seite ist zu einer Spielwiese der Trolle geworden.
Kurt Tucholsky hat 1919 geschrieben: »Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.« Heute gibt es fast keine politischen Witze mehr – und wenn doch noch einer auftaucht, dann nimmt ihn niemand mehr übel.
Dafür gibt es selbsternannte Aktivisten, die jegliche Toleranz und jeglichen gesunden Menschenverstand über Bord werfen, wenn sie nur jemanden unter einem gutmenschlichen Vorwand boykottieren und niederbrüllen können.
Ein Boykottaufruf oder ein Shitstorm sind völlig unangemessen, wenn man mit Toleranz und gesundem Menschenverstand berücksichtigt, dass sich die Werbung und das richtige Leben unterscheiden.
Nachgetragen wurden die folgenden Links:
BIONADE-Werbespot und Reaktionen
Kurt Tucholsky über Satire (1919)
Definition des Begriffs Travestie
Polemik: trans*feindlicher, heteronormativer Werbespot.