Ich habe mich nicht nur in meinem eigenen Blog, sondern auch bei der Bloggerin Antje Schrupp an der Diskussion über #waagnis beteiligt. Ich sehe das Wegwerfen der Waagen als nutzlosen symbolischen Akt an und vertrete die Meinung, dass
- wir uns in unserem reichen Land auf Gesundheit, Maßhalten und das körperliche Gleichgewicht besinnen sollten
- man mit geringem finanziellen Aufwand Maß halten und genießen kann, wenn man bereit ist, etwas Zeit und Überlegung in die Ernährung zu investieren
- es angesichts des Hungers auf dieser Welt völlig absurd ist, in Deutschland über mehr »fat acceptance« zu diskutieren …
Ich greife jetzt eine Argumentation auf, die mich in dieser Diskussion am meisten befremdet. Es wird uns ein fester marxistischer Klassenstandpunkt auf den Teller gepackt und das geht so:
- Die Arbeiter und Angestellten seien ein Opfer der Lebensmittelindustrie und der kapitalistischen Verhältnisse.
- Ihnen würden die industriell hergestellten Lebensmittel geradezu aufgezwungen.
- Sie könnten auch aus Zeitmangel unmöglich selbst kochen.
- In früheren Jahrzehnten (1950er oder 1960er Jahre) sei das noch nicht so schlimm gewesen.
Früher war ja fast alles schwerer. Es war viel schwerer, sein tägliches Brot zu verdienen. Es war auch viel schwerer, den Haushalt zu bewältigen. Aber die Menschen waren im Durchschnitt noch nicht so schwer wie heute.
Was spricht zuerst gegen die These von der unterdrückten Klasse, die vor lauter Unterdrückung nicht kochen kann? Dass die durchschnittliche Arbeitszeit seit den 1960er Jahren gesunken ist.
Gegen diese These spricht auch, dass es noch nie so viele Geräte gab, die uns das Leben im Haushalt leichter machen. Eine Grundausstattung mit solchen Geräten ist für alle Arbeiter und Angestellten verfügbar. Wer sich noch an das Leben in der DDR erinnert, kann die Verbesserungen besonders gut nachvollziehen.
Aber vor allem spricht gegen diese These, dass Lebensmittel (auch frische Lebensmittel) seither im Verhältnis immer günstiger geworden sind. Es gibt Statistiken, in denen man nachlesen kann, wie lange ein durchschnittlicher Beschäftigter in den 1950er und 1960er Jahren für die notwendigen Grundnahrungsmittel arbeiten musste und wie lange er heute dafür arbeitet.
Halten wir fest: Die Arbeiterklasse wird nicht durch die bösen Kapitalisten am Kochen gehindert. Es liegt nicht an der »Klassenzugehörigkeit«. Entscheidend sind Motivation und Information. Information gibt es genug: Man findet im Netz kostenlos abertausende Rezepte, die man für wenig Geld, mit ganz einfacher Ausrüstung und mit relativ wenig Zeitaufwand nachkochen kann.
Nur am Rande: Viele faszinierend einfache und leckere Rezepte stammen traditionell aus den »Klassen« der Arbeiter und Bauern. Man findet so viele gute Rezepte, dass ein Leben nicht reicht, um sie alle nachzukochen. Man muss einfach nur ein wenig Motivation aufbringen und damit anfangen.
Nun ging ich einen Schritt weiter als die versammelten Elitefeministinnen und argumentierte: Unsere Lebensmittelversorgung geht zum Teil zu Lasten der Menschen in den armen Ländern und zum Teil auch zu Lasten der Umwelt. Die Ressourcen sind nicht fair verteilt. Neben diesem Problem werden die Befindlichkeiten und #waagnisse ganz unbedeutend.
Wenn wir vernünftiger mit Essen umgehen würden [und wenn wir nicht für das Greenwashing Biomasse einsetzen würden], blieben mehr Ressourcen für Menschen in den Hungergebieten übrig. Ich habe heute Nacht in der Diskussion bei Antje Schrupp sinngemäß geschrieben:
Die Hinweise auf die sozialen Aspekte und auf den Umweltaspekt des Übergewichts sollten zeigen, dass es einfach wichtigere Dinge auf dieser Welt gibt als die Frage, ob sich ein gesunder Mensch etwas zu dick oder etwas zu dünn fühlt. Und wenn man diese wichtigeren Dinge verstanden hat, kommt man zwangsläufig zum Maßhalten.
Ist diese unfaire Verteilung der Ressourcen kein Grund, die unendlich hoch abgehobene Diskussion über Befindlichkeiten wie »fat acceptance« zu unterbrechen? – Um vielleicht darüber nachzudenken, was die Überernährung der Menschen in reichen Ländern mit der Unterernährung der Menschen in armen Ländern zu tun hat? Da kommt nur betretenes Schweigen. Sie verstehen es nicht oder sie wollen es nicht verstehen. Sie setzen lieber öffentlichkeitswirksam ihre Waagen aus.
Die Bandbreite der Antworten in Antje Schrupps Blog reichte von »faschistoid« über »menschenfeindlich« bis zu der rätselhaften Sentenz:
… damit irgendwelche missionarischen Grün-Wähler durch die Bekehrung anderer ihr Vielflieger-Gewissen sanieren können.
Ich lasse mir ja viele harte Worte an den Kopf werfen, aber »Grünen-Wähler« geht definitiv zu weit. Geflogen bin ich zum letzten Mal vor 15 Jahren und ich habe immer noch kein Auto. Meine »Luxusreisen« sind lange ICE-Fahrten in interessante Gegenden und eine teure ÖPNV-Jahreskarte für eine der schönsten Städte Deutschlands.
Es ist aber interessant, dass diese Leute lieber die Argumente ihrer Kontrahenten verzerren und Kommentatoren in Schubladen einordnen, als sich mit Argumenten auseinanderzusetzen. Fehlt eigentlich nur der Kampfbegriff »neoliberal« (der muss noch kommen, wenn jemand nachrechnet und Fakten gegen den linken Klassenstandpunkt auf den Tisch legt).
Inzwischen wird die Entwicklung dieser Diskussion als »fat shaming« bezeichnet und man setzt sogar Trigger-Warnungen in die Welt. Zur Erklärung: Eine Trigger-Warnung wird normalerweise ausgesprochen, wenn von sexuellem Missbrauch und Gewalt die Rede ist. Das ist klar: Betroffene sollen vor Texten gewarnt werden, die sie an das erlittene Leid erinnern.
Inzwischen gibt es aber eine Trigger-Warnung, weil jemand zum Maßhalten aufruft. Verkehrte Welt. Wäre es nicht angeraten, einfach mal etwas mehr Bewegung ins Leben und mehr Vernunft in die Ernährung zu bringen, statt »fat acceptance« einzufordern und schon vor der Erwähnung des Maßhaltens zu warnen?