Früher, so sagt man, war alles besser: Die Journalisten recherchierten. Sie vergewisserten sich. Sie wiesen etwas nach. Und dann schrieben sie ihre Artikel.
Der Chefredakteur der »Dresdner Neuesten Nachrichten« ist kürzlich bei einer Veranstaltung des Presseclubs Dresden als überzeugter Vertreter dieses Prinzips aufgetreten. Darüber ist im Veranstaltungsbericht folgendes zu lesen:
Für Dirk Birgel, den DNN-Chefredakteur, sei eine gute Ausbildung wichtig, er gebe aber auch Quereinsteigern eine Chance, wenn sie einen Blick für eine Story und die Fähigkeit zu recherchieren hätten sowie pointiert formulieren könnten. Birgel hebe eine Geschichte nicht ins Blatt, wenn sie nicht rund sei, erklärt er auf dem Podium. Er gebe seinen Redakteuren, wenn sich eine große Story biete, auch Zeit für eine intensivere Recherche.
Nun kann man sich angesichts vieler Zeitungsartikel von der Wendung »Der Chefredakteur hebt eine Geschichte ins Blatt« schon etwas veralbert fühlen. Man kann aber auch dann und wann die Probe aufs Exempel machen.
Am 09.10.2013 hat die DNN über die Auszeichnung eines Schülers für eine ganz tolle Idee berichtet: Der Schüler wollte Energie »gewinnen«, indem er mehrere »tellergroße Luftturbinen« hinter dem Windschutz an der Autofront anbringt. Damit könne man doch die Geräte im Inneren des Fahrzeugs mit Strom versorgen. Das Bild in der Zeitung zeigte, wie man sich das vorzustellen hat.
Ich habe damals nicht darüber gebloggt, sondern mir nur leise an den Kopf gegriffen und getwittert:
Deutschlands Bildungssystem 2013: Von Erwachsenen preisgekrönte Idee eines Schülers – Windkraftrotoren an fahrenden PKW.
Natürlich ist diese Idee Unsinn. Man kann mit Rotoren am Fahrzeug oder im Fahrzeug nur um einen hohen Preis Energie »erzeugen«: Der Luftwiderstand steigt und es wird mehr Kraftstoff verbraucht. Da der Wirkungsgrad dieser »Energieerzeugung« natürlich ziemlich schlecht wäre, würde die Umwelt also nicht entlastet, sondern belastet. Aber das haben die Erwachsenen dem Jungen nicht gesagt. Im Gegenteil:
In Leipzig hat er dazu von der Jury schon einige Anregungen erhalten. Seine Erfindung sei doch geeignet, etwa Laptops unterwegs zu betreiben. »Theoretisch könnte man sogar auf mehr als vier Turbinen zurückgreifen, wenn man sie etwas versetzt einbaut«, meint Konstantin. »Dann könnte man die Stromproduktion noch steigern.«
Die Redaktion hat auch diesen Absatz »ins Blatt gehoben« – und der Erscheinungstag war wirklich nicht der erste April ;-)
Fazit: Eine im Grunde irrelevante Jury fand die Idee des Dreizehnjährigen so toll, dass sie einen ebenso irrelevanten Preis dafür verliehen hat. Preis und Jury wurden erst relevant, als eine Zeitung darüber berichtet hat.
Vielleicht hält der Chefredakteur der DNN diesen Bericht bis heute für eine gute Geschichte, die man »ins Blatt heben muss« – weil sie ganz flott geschrieben ist und weil sie wunderbar in die Lokalpresse passt: Kind, Familie, Schule und Umwelt ;-)
Möglicherweise ist die Erklärung auch einfacher: Die »Leipziger Volkszeitung«, die den Mantel der DNN liefert, hatte nämlich ein »Special« über die Messe veröffentlicht (»Special« scheint ein anderes Wort für »PR-Beilage« zu sein). Dort war unter anderem zu lesen, dass man einen Neunjährigen für eine noch tollere Idee ausgezeichnet hat:
»Es wäre großartig, wenn man Energie ohne Kabel übertragen könnte.« Wie das funktioniert? Der Strom wird in Laserlicht umgeformt und mittels Solaranlage wieder in Strom umgewandelt.
Man fragt sich unwillkürlich, warum es dort noch keinen Sonderpreis für ein klimaschutzgerechtes Perpetuum mobile gab. Die DNN hätte sicher genauso enthusiastisch darüber berichtet.
Tatsächlich hätte die Zeitung eine ganz andere Aufgabe gehabt: Zu hinterfragen, was in unserem System falsch läuft, wenn solche Auszeichnungen vergeben werden und niemandem der Haken an der Sache auffällt. Wäre diese Zeitung ihrer journalistischen Aufgabe gerecht geworden, hätte sie die Geschichte jedenfalls erst nach sehr gründlicher Prüfung »ins Blatt gehoben«.
Immerhin hat die Redaktion in der aktuellen Wochenendausgabe zwei kritische Leserbriefe zu dem Artikel abgedruckt. Leserbriefe sind aber immer nur eine Meinungsäußerung – und zur Physik kann es nun wirklich keine zwei Meinungen geben. Hier hätte der Chefredakteur eine Richtigstellung »ins Blatt heben« müssen …
Zu einem ähnlichen Fall* las ich kürzlich eine mögliche Erklärung: man wolle Nachwuchs-Erfinder nicht durch Kritik am Erfinden abhalten bzw. braucht dringend Wunderkind-Geschichten.
* Sandsäcke, gefüllt mit (unschädlichen?) Chemikalien: http://www.metafilter.com/133201/Science-For-the-Win
Hier wäre es aber ziemlich einfach gewesen, dem 13jährigen einen Wink zu geben: Bau Dir vier solche »Windturbinen« ans Fahrrad und fahre bei Gegenwind einmal auf der Hauptallee längs durch den Großen Garten. Wiederhole den Versuch auf der gleichen Strecke (wieder mit Gegenwind) ohne »Windturbinen«.
Womit du evtl. bei ihm einen Erkenntnisgewinn erreichst, aber das „Schüler pwned“ ist keine gute Schlagzeile.
Das Problem ist ja wirklich: sollte man auf solchen Events Preise vergeben und sogar überregional darüber berichten? Jeder, der alberne Gewinnervorschläge durchschaut, wird jedenfalls schlecht von „den Großen“ denken, die den Erfindernachwuchs veralbern.
Ich bin nicht ganz sicher, ob ich Dich richtig verstehe: Mit meinem heutigen Artikel und meinen Tweets von damals wollte ich jedenfalls auf keinen Fall die beiden Jungen veralbern (nur damit das klar gesagt ist).
Meinem Sohn würde ich jedenfalls in aller Ruhe erklären, was es mit dem Wirkungsgrad und der Energieumwandlung auf sich hat. Das kann man mit 12 oder 13 Jahren schon verstehen.
Meiner Ansicht nach hat die Jury entweder den Jungen veralbert oder (was schlimmer wäre): Die Jury war so inkompetent, dass sie es nicht gemerkt hat. Und die LVZ/DNN haben dabei kräftig mitgemacht.
Will ich auch nicht. Aber ich erinnere mich grob an die „Messe der Meister von Morgen“-Veranstaltung in meiner Grundschule und da war viel Quatsch dabei, über den hoffentlich kein lobender Artikel im Regionalblatt erschien.
oder anders: Wie sollte der Tonfall sein bzw. die Herangehensweise, wenn man weder Tüftler verschrecken noch Leser für dumm verkaufen will?
Erstens sollte eine Zeitung im redaktionellen Teil nicht unkritisch über die PR-Maßnahmen einer Messe berichten. Das wäre alles nicht passiert, wenn die LVZ/DNN eine kritische Distanz bewahrt hätten.
Zweitens: Ich kann als Vater und Autor ganz sachlich mit einem 12/13-jährigen Jungen reden. Ich kann ihm sagen: Tüfteln ist toll, aber Du bist gerade auf einem Holzweg.
Ich darf bei einem Gymnasiasten in der 7. Klasse aber auf keinen Fall die Illusion erzeugen, dass man mit dieser Methode ganze Laptops mit Strom versorgen kann. Oder (um ein anderes Beispiel zu nennen): Dass die Kinder durch »Stadtradeln« CO2 einsparen und das Klima retten können.
Ja, wir hatten in der 89. POS in Dresden auch eine »MMM«. Das herausragende Projekt war ein Leuchtkasten pro Etage, mit dem vom Lehrerzimmer aus angezeigt werden konnte, ob die große Pause eine Hofpause sein soll. Eine klasse Idee, realisiert von einigen Jungen und dem Hausmeister.
Am peinlichsten finde ich, abgesehen von dieser redaktionellen Glanzleistung, übrigens die Familie des Schülers: „Die ganze Familie unterstützt ihn bei seinem neuesten Projekt. (…) Das Verständnis für Technik spielt im Elternhaus des Schülers eine große Rolle. Der Vater ist Informatiker, die Mutter Verfahrenstechnikerin.“
Vor allem der Vater, also ein Informatiker, der auf jeden Fall logisch denken können sollte und hier den Denkfehler nicht sieht … au weia!
Das Ding mit Stromerzeugung aus dem eigenen Fahrtwind erinnert mich übrigens an diesen Chinesen: http://www.youtube.com/watch?feature=player_detailpage&v=nQGvXx4rfUY#t=43
Vielleicht ist das wie früher in der DDR? – Manche Eltern wollen es ihren Kindern leicht machen, indem sie die grundlegende Richtung aus der Schule in das persönliche Leben übernehmen. Auch gegen besseres Wissen.