Margot Käßmann ist Herausgeberin des Magazins Chrismon und Botschafterin des Jubiläums der Reformation im Jahr 2017. Ihre Kolumne vom August 2014 erschien unter der Überschrift »Wenn Bildung Sünde ist«.
Zu Beginn bringt sie mehrere Beispiele für die Auswirkungen des religiösen Fundamentalismus. Das erste Beispiel ist: Islamisten rücken auf Bagdad vor. Das ist grob verharmlosend: Die ISIS-Terroristen rücken nicht nur vor oder zurück. Sie morden, vertreiben und foltern, sie versklaven Menschen, sie zerstören Kulturgut.
Margot Käßmanns Schlussfolgerung aus dem »Vorrücken« der ISIS und einigen anderen Beispielen für religiösen Fundamentalismus? Das seien
Schlagzeilen, die die Vermutung nahelegen: Religiöser Fundamentalismus greift um sich. Das ist beängstigend. Denn in ihrer fundamentalistischen Spielart befeuert Religion ethnische und politische Konflikte – oder wird zur Rechtfertigung autoritärer Macht missbraucht.
Diese Schlussfolgerung ist genauso verharmlosend wie die Wendung vom »Vorrücken auf Bagdad«. Es geht eben nicht um das Befeuern von Konflikten. Der religiöse Fundamentalismus ist die Ursache der Konflikte und autoritäre Machtausübung ist die Grundvoraussetzung für religiösen Fundamentalismus.
Dann erinnert sich Margot Käßmann an ihre Rolle als Reformationsbotschafterin und behauptet:
Schon die Reformatoren wollten Bildung für alle, damit Menschen selbst lesen, frei denken, eigenständig fragen können.
Auch das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Natürlich war die Bibelübersetzung ein großer Fortschritt: Es konnten sich auch Menschen mit der Bibel befassen, die kein Latein und kein Griechisch beherrschten.
Aber an den Religionskriegen nach der Reformation waren beide Seiten beteiligt und es ist nicht zu erkennen, dass eine Seite aufklärerischer oder gebildeter gekämpft hat.
Der Reformator Martin Luther hat mit »Argumenten« gegen die Juden gehetzt, die mit Aufklärung oder Bildung nun wirklich nichts zu tun hatten. Von seiner Schrift gegen die Befreiungsbewegung der Bauern gar nicht zu reden.
Hexen wurden nach der Reformation auch in protestantischen Gebieten verbrannt – in einigen Gebieten sogar intensiver als unter katholischer Herrschaft. Im Zuge der Bilderstürmerei wurden wertvolle Kulturgüter für immer vernichtet.
Die Rolle der Reformatoren war also eine durchaus zwiespältige und der Beitrag der Reformation zu Bildung und Aufklärung ist äußerst differenziert zu betrachten.
Nicht nur die ISIS hat bei Margot Käßmann einen Anspruch auf Verharmlosung, auch die nigerianische Terrororganisation Boko Harum. Mit der Zwischenüberschrift
Bildung: auch für Mädchen der Ausweg aus Armut und Elend
sind die folgenden Überlegungen verbunden:
Die nigerianische Terrortruppe, die derzeit Angst und Schrecken verbreitet und es heldenhaft findet, junge Mädchen zu entführen, hat nicht umsonst den Namen »Boko Haram«, was so viel bedeuten soll wie »westliche Bildung ist Sünde«.
Diese Terrorgruppe verbreitet nicht nur Angst und Schrecken. Wenn sie in Schulen eindringt, ermordet sie die Schüler und entführt die Schülerinnen. Der Mord an den Jungen kommt bei Margot Käßmann gar nicht vor. Stattdessen reitet sie ihr Steckenpferd:
Wahrscheinlich meinen diese brutalen Schlächter vor allem: »Weibliche Bildung ist Sünde.« Bildung bedeutet Freiheit. Und Bildung bedeutet auch für Mädchen den Ausweg aus Armut und Elend.
Nein, das meinen die Terroristen eben nicht! Sie bestrafen die männlichen Schüler für ihre Anwesenheit in der Schule mit dem Tod, weil sie die Bildung von Jungen für gefährlicher halten. In dem Schema dieser Fundamentalisten ist ein Mädchen viel weniger wert als ein Junge.
Die entführten Mädchen haben vielleicht noch eine Chance auf Befreiung aus der Geiselhaft und Sklaverei. Die ermordeten Jungen haben nie wieder eine Chance.
Auch in ihrem Fazit bleibt Margot Käßmann im Irrtum:
Religion darf sich nicht missbrauchen lassen für Machtgelüste, Gewaltorgien oder bewaffnete Konflikte. Dafür gilt es, klar einzutreten. Religion darf sich nie und nimmer verführen lassen, Öl ins Feuer politischer und sozialer Konflikte zu gießen.
ISIS und Boko Harum sind kein Zeichen für den Missbrauch von Religion. Dort hat sich nicht die Religion »verführen lassen«. Von wem denn? Dort ist die Religion ins Extremistische gewachsen und hat Menschen in ihren Bann gezogen, die dann zu Verbrechen fähig wurden.
Deshalb hilft gegen Boko Harum in Nigeria auch keine Bildung allein. Zivilisation und Bildung müssen zuerst mit Waffengewalt abgesichert werden. Danach müssen sie eine wirtschaftliche Basis bekommen – und das kann nur die Marktwirtschaft im Rahmen eines demokratischen, wehrhaften Rechtsstaats sein.
Link: Kolumne von Margot Käßmann in der Zeitschrift Chrismon.