Knittelverse für die gute Sache?

30. April 2015

Wenn sich kleine Kinder früher weh getan haben, dann haben die Eltern und Großeltern sie mit Versen getröstet:

Heile, heile Segen,
morgen gibt es Regen,
übermorgen Schnee,
dann tut auch nichts mehr weh.


Seit Beginn dieser Woche werden in Dresden ähnliche Verse an Erwachsene adressiert. Die Absender sagen:

Diese Kampagne richtet sich an die Dresdner. Wir wollen intelligent und humorvoll an Gemeinsames erinnern und den Menschen bewusst machen, was sie alles verbindet – sowohl untereinander als auch mit Hinzugezogenen.

Faustregel Nr. 1: Wenn jemand seine eigene Kampagne gleich im ersten Satz als »intelligent und humorvoll« deklariert, dann fehlt es ihr mit Sicherheit an zwei Dingen – nämlich an Intelligenz und Humor.


Nach außen zeigt die Kampagne: Dresden macht alles etwas anders: Wir bagatellisieren nicht – aber wir belehren auch nicht.

Faustregel Nr. 2: Wenn jemand über seine eigene Kampagne behaupten muss, dass sie nicht bagatellisieren und nicht belehren will, dann wird er etwas bagatellisieren und dann wird er dich von oben herab belehren.

Wenn jemand dann auch noch verschweigt, was er nicht bagatellisieren will, dann steht ein Elefant im Raum, über den alle hinwegsehen sollen.


Wir wollen, dass die Dresdner schmunzeln – und sich dabei der einmaligen Errungenschaften und der besonderen Atmosphäre im täglichen Leben dieser Stadt bewusst werden.

Faustregel Nr. 3: Schmunzeln geht nicht auf Kommando. Erwachsene Menschen wollen als Erwachsene angesprochen werden. Das funktioniert nicht mit Reimchen und Bildchen, die Schüler heute spätestens ab der vierten Klasse trivial finden.


Gegen die Botschaft »Die Welt bereichert Dresden« ist nicht das Geringste einzuwenden. Das ist gleichzeitig auch das größte Problem solcher Kampagnen: Für Selbstverständlichkeiten kann und muss nicht geworben werden.

Bisher wurden in der Kampagne unter anderem erwähnt: die Wissenschaftlerin und der Gemüsehändler, der Architekt Libeskind und der Maler Canaletto, viele Touristinnen und Touristen …

»Frau Xi, die war schon dreimal hier
Für Canaletto, Libeskind und Bier.
«

Es geht auch um Kochrezepte, interkulturelle Verliebtheit und gute Begegnungen zwischen Dresdnern und Auswärtigen. Da haben zum Beispiel zwei junge Männer zusammengefunden. Schlechter Reim für eine schöne Sache:

»Benno backt für Raul Tortilla.
Um seine Hand anhalten will er.
«


Das alles ist in einer Welt des freien Austauschs und des freien Handels selbstverständlich. Übrigens gilt auch die Umkehrung: Dresden bereichert die Welt.

Aber da war doch noch der Elefant?

Doch Dresden hat in letzter Zeit eine untypische Seite von sich gezeigt. Dresdner gehen aus diffusen Ängsten vor dem „Fremden“ auf die Straße. Das Fremde, was diese Stadt erst zu dem gemacht hat, was es heute ist.

Hält man uns als erwachsene Dresdner wirklich für so naiv, dass wir auf solche billigen rhetorischen Tricks hereinfallen und alle Probleme auf einen Schlag vergessen? Dann hätte ich einen Vorschlag für das nächste Plakatmotiv:

Puste, puste, so ein Schreck,
schon ist alles weg.


Am Ende des Kampagnentextes kommt die sozialpädagogische Botschaft:

Wir wollen einen Reflektions- und Denkprozess in Gang setzen, der im besten Fall eine Aktivierung und Bewusstseinsbildung auslöst. Die Botschaft „Die Welt bereichert Dresden. Jeden Tag.“ soll anhand von alltäglichen Beispielen erlebbar und damit nachvollziehbar werden.

Danke für die Anregung. Ich habe reflektiert und nachgedacht. Ich bin zu folgendem Ergebnis gekommen:

Diese Kampagne transportiert nicht nur furchtbar schlechte Reime und furchtbar naive Bilder. Sie transportiert vor allem die Botschaft: Wir halten Dich, den Dresdner, für so doof, dass du unsere Plakate erst mit deinem Geld bezahlen und dann auch noch anschauen und gefälligst gut finden sollst.


Mit dem Geld für diese Kampagne könnte man eine syrische Flüchtlingsfamilie in Dresden für mindestens ein Jahr versorgen. Und das macht mich so wütend: Dass all diese hoch bezahlten Politiker, Manager, Journalisten und PR-Leute nicht von der Wand bis zur Tapete denken konnten. Dass sie lieber Geld dafür ausgeben, die Dresdner zu verarschen, statt Notleidenden zu helfen …


Alle kursiv gesetzten Zitate aus der Selbstdarstellung der Initiative: »Die Welt bereichert Dresden. Jeden Tag.«


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Ein offener Brief an Herrn Pantelouris

6. April 2015

Sehr geehrter Herr Pantelouris,

eben las ich Ihren aktuellen Beitrag. Gestatten Sie mir, einige Fakten zu Ursache und Wirkung in Erinnerung zu rufen:

1. Die griechischen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben Klientelpolitik auf Kosten Dritter betrieben. Sie haben das Land hoch verschuldet, um jeweils ihre Klientel zufriedenzustellen. Es wurde also viel mehr Geld ausgegeben als eingenommen.

2. Die griechischen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben es nicht im Ansatz geschafft, ein zeitgemäßes Steuersystem aufzubauen, in dem Transaktionen angemessen besteuert werden. Es fehlt also auch auf der Einnahmenseite.

3. Die griechischen Regierungen der letzten Jahrzehnte haben massiv Statistiken gefälscht und verzerrt. Mit realistischen Zahlen wäre Griechenland niemals in die Euro-Zone aufgenommen worden.

4. Als die Probleme aus den Punkten 1 bis 3 in Griechenland fast zum Zusammenbruch führten, mussten die »Institutionen« einspringen – also in Wahrheit die Länder, die ihre Bürger besteuern und mit ihrem Geld besser haushalten.

5. Die Institutionen haben eine Umschuldung vorgenommen: Die Schulden Griechenlands bei privaten Geldgebern wurden weitgehend abgelöst. Für 80 % der griechischen Schulden stehen heute die Bürger der EU-Länder gerade, die ihre Bürger besteuern und mit ihrem Geld besser haushalten.

6. Ja, ich habe mich in 5. wiederholt! Weil wir als Bürger der Bundesrepublik, Frankreichs, Spaniens, der Niederlande und anderer Euro-Staaten für die jahrzehntelange Misswirtschaft und den jahrzehntelangen Betrug einstehen müssen.

7. Das hat mit Ihrem Kampfbegriff »neoliberal« überhaupt nichts zu tun. Auch wenn Sie von meinen Argumenten keines akzeptieren können, notieren Sie sich bitte wenigstens diesen Satz: Liberale sind immer gegen Korruption und Staatsverschuldung – weil in der Endkonsequenz die Menschen draufzahlen, die ehrlich gewirtschaftet und ihre Steuern bezahlt haben.

Mit freundlichen Grüßen
Ein Bürger der ehemaligen DDR,
die durch Misswirtschaft und Staatsverschuldung untergegangen ist.

.


Ergänzung: Bei Herrn Pantelouris kann über das Thema diskutiert werden.



Die schwarze Flasche und die Freiheit

4. April 2015

In den letzten Tagen habe ich in den sozialen Netzwerken manche Anmerkung über eine ominöse schwarze Flasche gelesen – und spontan gedacht: Was für ein Fall von gefühltem oder tatsächlichem Rassismus ist nun wieder ans Licht gekommen?

Es ging dann doch nicht um Rassismus, sondern um einen schlechten Witz über Zwischenmenschliches. Ein Hersteller von Fruchtsäften hatte auf eine spezielle Flasche einen blöden Spruch gedruckt. Ich muss zugeben, dass mir der Spruch auch nicht gefällt. Ich reiße nicht gern öffentlich Zoten und ich höre sie auch nicht so gern an. Das Privatleben gehört ins Schlafzimmer und Tun ist immer besser als Reden ;-)


Nun gibt es aber im Netz Kämpfer für soziale Gerechtigkeit (»Social Justice Warriors«), die aus jedem pubertären Witz eine schlimme Affäre und einen Boykottaufruf machen können. Natürlich geht es dabei nicht um den Witz, sondern um das Austesten von Definitionsmacht, um das Gewinnen von Aufmerksamkeit und um die wirksame Abgrenzung von uns nicht Erleuchteten.

In diesem speziellen Fall ist aber etwas anders: Die SJW von »indyvegan« lassen unter ihrem Artikel andere Meinungen zu, blocken Kritik nicht durch Löschen ab und antworten auf Kommentare. Das ist grundsätzlich zu respektieren. Deshalb möchte ich meine Argumente hier noch einmal zusammenfassen.

In dem Werbetext geht es offenbar um eine Frau, die ihre Freundin für weniger schön hält und ihr gönnerhaft eine Verabredung ermöglicht. Da zeigt sich ein hässlicher Charakterzug. Aber dieses Vergleichen und Abgrenzen gehört nun mal zu den sozialen Interaktionen unter (vor allem jungen) Menschen. Auch das Spielen mit Wendungen, die früher tabu waren – wie eben das »Blasen im Dunkeln« …

Kernpunkt der Kritik ist: Der Safthersteller habe nicht das Recht, das Wort »hässlich« zu verwenden und Frauen in einer sexuellen Rolle (Fellatio) darzustellen. Es könnten sich Frauen herabgesetzt fühlen und die dargestellte Rolle sei passiv. Deshalb müsse man für die Betroffenen und gegen den Safthersteller kämpfen.


In einem Rechtsstaat bestimmen nicht allein die Betroffenen oder Opfer, was Recht ist. Es gibt im Rechtsstaat Parlamente, es gibt Gesetze und es gibt Gerichte. Bisher gibt es in diesem Land kein Gesetz gegen pubertäre Witze. Ein solches Gesetz wäre wohl selbst der größte Witz ;-)

Montesquieu hat gesagt: »Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.« Man kann Schönheit und Hässlichkeit, Aktivität und Passivität oder auch gute und schlechte Witze nicht mithilfe von Rechtsnormen und auch nicht mit allgemeingültigen inoffiziellen Normen regulieren.

Der kleinste gemeinsame Nenner muss die Würde des Menschen sein. Diese Würde kann aber durch derart unbestimmte Witze überhaupt nicht verletzt werden. Wer soll denn allgemeingültig bestimmen, was »hässlich« oder »schön«, »geschmackvoll« oder »geschmacklos« ist?

Es gibt im Volksmund den Spruch »Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters«. Jeder (junge) Mensch, der gerade eine Partnerin oder einen Partner sucht, unterscheidet nach Aussehen, Humor, Intelligenz, Mode, Frisur und oft auch nach materiellen Gesichtspunkten.

Dabei gibt es Gegensatzpaare: Schönheit und Hässlichkeit, Humor und Humorlosigkeit
, moderne und unmoderne Kleidung, relativer Reichtum und relative Armut. Die meisten Frauen und Männer legen bei der Partnerwahl individuelle Maßstäbe an. Es gibt nirgends eine objektive Skala für Schönheit oder für Humor – und wenn wir ehrlich sind, auch nicht für Mode, Frisuren und materiellen Reichtum.

Wer Maßstäbe anlegt und unterscheidet … der diskriminiert. Eben dieses »unterscheiden« ist die ursprüngliche Wortbedeutung von »diskriminieren« und es gibt in der Fachsprache nicht wenige Beispiele für positive Diskriminierung.


Ich kann verstehen, dass sich Menschen von dieser Werbung getroffen fühlen. Manchen ist schon das Thema Sex peinlich, andere fühlen sich phasenweise unwohl in ihrem Körper. Das war zu allen Zeiten so. Das ist mir passiert, das passiert meinen Kindern, das wird irgendwann meinen Enkeln passieren.

Wenn heute eine Gruppe im ÖPNV oder ICE laut über Sex redet oder wenn zwei Reihen neben mir eine Frau laut und detailliert über ihre letzte Nacht telefoniert, schaue ich lieber in ein Buch und setze mir manchmal sogar Kopfhörer auf. Ich muss das nicht haben.

Aber mit solchen Geschmacksfragen mussten alle Generationen klarkommen. In den Städten Europas sind heute zwischen einer sehr puritanischen und einer sehr lockeren Einstellung tausende Abstufungen möglich. Wir leben in einer permissiven Gesellschaft, in der viele Verhaltensweisen akzeptiert werden und in der im Gegenzug auch vieles akzeptiert werden muss.

Die Lösung kann nicht so aussehen, dass wir uns selbst in einem Kokon verstecken und alle »Betroffenen« vor solchen Wahrnehmungen schützen. Die Lösung kann nur sein, dass wir Selbstbewusstsein und Abwehrkraft aufbauen – und gegebenenfalls anderen Menschen dabei helfen.


Mir ist es lieber, in einem Land mit etwas zu viel Freiheit und etwas zu viel dummen Witzen zu leben, als in einem Land, in dem jedes einzelne Wort zu einer Klage oder einem Boykottaufruf führen kann.

Menschen müssen mit Freiheit umgehen und sie müssen das täglich neu lernen. Menschen können an Dingen wachsen, über die sie sich geärgert haben. Sie können Widerstandskraft aufbauen und somit resilient werden. Unsere weitgehend liberale Gesellschaft ist der beste Raum zum Wachsen – mit allen Fehlern die eine freie Gesellschaft hat und mit allen Unsicherheiten, die aus der Freiheit erwachsen.


Link: Artikel und Kommentare auf »indyvegan«. Abschließend: Es muss ein glückliches Land ohne große Probleme und mit einer wunderbaren Zukunft sein, in dem man so intensiv über pubertäre Witze auf Saftflaschen diskutiert ;-)