Auf Twitter wurde heute über den Artikel des Tagesspiegel »Woher kommt der Hass im Netz?« diskutiert. Ein Journalist empfahl den Kauf der Zeitung mit den Worten
Schon für diese Doppelseite lohnt sich der Kauf des @tagesspiegel am Sonntag.
Ich befasse mich seit mehr als 10 Jahren mit diesem Thema. Ich habe den Artikel aufmerksam gelesen und ich habe einige Anmerkungen dazu zu machen …
Beim Lesen des ersten Teils wurde mir wieder einmal klar, wie klein der deutschsprachige Bereich der sozialen Medien ist. Deutschland ist nach dem Artikel des Tagesspiegel eines von an die hundert Ländern, das die Facebook-Moderatoren von Dublin aus »bearbeiten«. Es müsste dort also Fachleute für Hass und verbale Gewalt in dutzenden Sprachen geben.
Facebook gibt an, dass im zweiten Halbjahr 2014 insgesamt 60 rechtsextreme Inhalte »eingeschränkt« worden seien. Wir wissen aber nicht, wie viele Hinweise es insgesamt gegeben hat und wie sich die 60 »Inhalte« auf ihre Urheber verteilen. Darüber hinaus fehlt die Anzahl der Fälle islamistischer Propaganda, linksextremistischer Ideologie oder des Stalkings gegen Privatpersonen.
Die 2.100 Anfragen der deutschen Strafverfolger stehen im Artikel neben der Zahl 60, werden aber nicht damit in Verbindung gebracht. Das ist die erste große Schwäche des Artikels: Viele Zahlen und Fakten stehen beziehungslos nebeneinander.
Es ist ja zu begrüßen, dass Facebook um Stellungnahmen gebeten wurde und dass wir sie in dem Artikel lesen können. Guter Journalismus sollte aber die beschriebenen Phänomene in Zusammenhänge einordnen – genau dann ist er sein Geld wert.
Eine höhere Transparenz der sozialen Medien ist in der Tat dringend erforderlich. Gerade das Unternehmen Facebook kann und sollte unabhängigen Forschern die Möglichkeit geben, die unterschiedlichen Arten asozialen Verhaltens qualitativ und quantitativ zu untersuchen.
Im Zuge einer solchen Transparenz-Offensive sollten sich IT-Sicherheitsfachleute bei der Ermittlung der Quellen des Hasses möglicherweise auch mit dem Phänomen der False-Flag-Operationen auseinandersetzen. Ein Leitmotto der Untersuchung könnte sein: »Cui bono?« – »Wem ist es zum Vorteil?«.
Psychologen könnten in der oben angeregten Untersuchung wissenschaftlich erforschen, mit welchen Mechanismen sich der Hass im Netz verbreitet und wie stark die Maxime »Der Zweck heiligt die Mittel« wirkt.
Denn immer lauter wird von den sogenannten SJW (Social Justice Warriors) und ihren Alliierten ein Doppelstandard eingefordert: Die selbsternannten Aktivisten »dürfen« im Sinne der guten Sache beleidigen und Hass verbreiten. Alle anderen dürfen sich nicht dagegen wehren.
Das Thema Doppelstandard ist eine gute Überleitung zur Aktivistin Julia Schramm, die ironischerweise in Sachen »hate speech« für die Amadeo-Antonio-Stifung arbeitet, obwohl sie u. a. Anfang 2014 selbst mit hasserfüllten Tweets aufgefallen ist. Frau Schramms Aussagen und Meinungen dominieren den zweiten Teil des Artikels – und dieser ist noch einmal deutlich schwächer als der erste.
Sei es in #Bombergate oder in den internen Auseinandersetzungen der Piratenpartei: Ihre verbalen Ausfälle sind fast schon legendär. Andere Mitglieder der Piratenpartei haben die Ausfälle mit Screenshots dokumentiert und sie wurden auch in der Presse erwähnt: etwa im Berliner Kurier, in Telepolis und in der taz.
Kurze Rückblende: Bei #Bombergate ging es darum, dass Julia Schramm je nach Lesart die Dresdner Bombenopfer vom 13. Februar 1945 als »Kartoffelbrei« verhöhnt oder im traditionell antideutschen Kontext »Bomber-Harris! Do it again!« den Dresdnern ein neues Bombardement auf den Hals gewünscht hat. Frau Schramm schrieb damals u. a.: »Sauerkraut, Kartoffelbrei – Bomber Harris, Feuer frei!« Auf welche Weise man den Satz auch interpretiert: Es ist Hassverbreitung.
Wer sich Frau Schramms Tweets aus der Zeit von Januar bis März 2014 genauer anschauen will, wird bei Tweetshots fündig. Wichtig für die Suche: Die damalige Berliner Piraten-Politikerin nannte sich auf Twitter in dieser Zeit noch »@laprintemps«.
Julia Schramms zynische Aussagen vom 13. Januar 2014 über das Töten von Babys im Mutterleib bis zum Tag der Geburt kann man als »hate speech« gegen die denkbar schwächsten Menschen interpretieren: Ein noch ungeborenes Kind am Tage der Geburt ist zweifellos ein Mensch und selbst wenn die Mutter das Kind nicht haben will, könnte sie es problemlos zur Adoption freigeben.
Zweifellos gibt es die Phänomene des Rechtsextremismus im Netz, die im ersten und zweiten Teil des Artikels angesprochen werden. Es gibt bei #Pegida unglaubliche Entgleisungen und man findet Beispiele für Menschenfeindlichkeit, die man nie für möglich gehalten hätte. Es gibt auch unglaubliche Beispiele des Stalkings gegen Einzelpersonen bis hin zu Morddrohungen und Gewaltphantasien.
Zweifellos ist eine Aufklärung über den Hass im Netz gerade in einer großen Tageszeitung notwendig. An dieser Aufgabe scheitern die Autorinnen aber doppelt. Die zweite große Schwäche des Artikels besteht darin, dass keine unabhängigen Expertinnen und Experten zu Wort kommen: Wissenschaftler, die sich mit den genannten Phänomenen wirklich auskennen und die neben der notwendigen Objektivität auch die notwendige persönliche Integrität mitbringen. Aktivismus kann eine objektive Betrachtung nicht ersetzen und er hat in einem seriösen Zeitungsartikel nichts zu suchen.
Die dritte – entscheidende – Schwäche des Artikels ist seine Unvollständigkeit: Es gibt neben der Nazi-Ideologie weitere gefährliche Ideologien, die in dem doch recht langen Text über »Hass im Netz« überhaupt nicht genannt werden. Stalinisten höhnen über Maueropfer, Religionshasser freuen sich an brennenden Kirchen, religiöse Extremisten wünschen allen Ungläubigen den Tod …
Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Ideologien hetzen genauso schlimm wie die Neonazis, sie hassen ihre »Gegner« ebenso stark, sie verzerren die Realität ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit, und sie sind wie die Rechtsextremen erbitterte Gegner des demokratischen Rechtsstaats.
Was diese anderen Hassverbreiter im Netz tun, welche Arten des Hasses sie verbreiten und wie sich der Hass rivalisierender Gruppen gegenseitig aufschaukelt – all das wird in dem Artikel verschwiegen. Mein abschließendes Urteil als passionierter Zeitungsleser: Für diesen Text würde ich mir die Zeitung ganz gewiss nicht kaufen …