Tania Kambouri »Deutschland im Blaulicht«

12. Oktober 2015

Wenn ein Buch schon wenige Tage nach seinem Erscheinen polarisiert, kann das mehrere Ursachen haben. Es kann sich um ein hochbrisantes Thema handeln, für das die Zeit reif war. Das Buch kann von radikalen Interessengruppen vereinnahmt oder bekämpft werden. Nicht zuletzt kann der Konflikt auch in der Person des Autors oder der Autorin angelegt sein.

Tania Kambouris »Deutschland im Blaulicht« polarisiert zweifellos – und dabei spielen alle genannten Ursachen eine Rolle. Gerade deshalb sollte das Buch gelesen und diskutiert werden: Es ist sachlich geschrieben, es hat mehr Stärken als Schwächen, es bietet mehr richtige als falsche Lösungen an.


Glaubwürdigkeit


Wenn »Whistleblower« aus dem Inneren einer Organisation berichten, müssen wir ihnen bis zu einem gewissen Grad vertrauen. Wir vertrauen z B. Edward Snowdens Aussagen und Daten. Wir vertrauen den Inhalten der brisanten Dokumente, die bei Wikileaks zum Download angeboten werden. In beiden Fällen müssen wir uns darauf verlassen, dass keine gefälschten Daten hinzugefügt und dass die Informationen nicht verzerrt wurden.

Auch den Erfahrungsberichten in Tania Kambouris Buch müssen wir als Leser bis zu einem gewissen Grad vertrauen. Mein Eindruck: Im Buch, in der Talkshow und in den Interviews tritt sie sehr ruhig und sachlich auf. Sie verwendet keine polarisierenden Worte oder Parolen. Sie setzt auf Differenzierung und Deeskalation.

Tania Kambouri steht mit beiden Beinen auf dem Boden des demokratischen Rechtsstaats. Sie plädiert mehreren Stellen des Buches für einen ungeteilten Rechtsstaat und gegen eine separate Rechtsprechung in Parallelgesellschaften. Sie argumentiert mit den Werten unseres Grundgesetzes. Sie stellt sich gegen Doppelmoral und Diskriminierung. Deshalb halte ich sie für glaubwürdig, obwohl ich nicht alle Argumente und auch nicht alle Lösungsvorschläge unterschreiben würde.


Die Realität des Streifendienstes in Bochum


Stark ist das Buch überall dort, wo Tania Kambouri in sachlichen Sätzen und anhand vieler Beispielen beschreibt, was sie im Polizeidienst erlebt hat: Sie wird in Bochum aus bestimmten Migrantengruppen heraus offen verachtet und diskriminiert, weil Mitglieder dieser Gruppen eine Frau im Polizeidienst nicht akzeptieren.

Die Missachtung kann in der Verweigerung der Kooperation, in üblen Schimpfworten, im übergriffigen Anfassen, durch Anspucken oder in Form körperlicher Gewalt zum Ausdruck kommen. Tania Kambouri beschreibt menschenverachtende Verhaltensweisen, die sich in bestimmten Migrantengruppen gehäuft und wiederholt gezeigt haben.

Die Beschreibungen sind ausdrücklich nur ein Ausschnitt aus dem gesamte Polizeialltag in Deutschland. In anderen Bundesländern und in anderen Großstädten können die Schwerpunkte anders aussehen. Die Autorin konzentriert sich auf die Gebiete, die ihr vertraut sind.

Das Buch ist gerade in den persönlichen Erfahrungsberichten mutig: Es ist sehr schwer, offen darüber zu reden, wenn man als Mensch so missachtet und angegriffen wird. Damit ist ja seitens der Angreifer eine Erniedrigung beabsichtigt.

Es ist auch nicht einfach, zu beschreiben, wie man als Mensch wahrgenommen wird. Die Autorin könnte nach ihrem Aussehen aus Südeuropa, aus der Türkei oder auch vom Balkan stammen. Sie schreibt an einer Stelle über die Wahrnehmung von Migranten: »Dann gehen die Schubladen in unseren Köpfen schneller auf, als wir uns dagegen wehren können …«.


Eingrenzung der problematischen Gruppen


Problematische Gruppen in einer Gesellschaft müssen ohne pauschale Vorverurteilung beschrieben werden. Tania Kambouri betont an mehreren Stellen des Buches, dass sie gegen niemanden einen Generalverdacht in die Welt setzen will. Vor allem Selbst- und Paralleljustiz können aber aus ihrer Sicht in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert werden.

Sie grenzt die problematischen Gruppen so gut wie möglich ein – es sind vor allem stark patriarchalisch und traditionell geprägte Zuwanderer muslimischer Prägung. Probleme gibt es in ihrem Arbeitsbereich auch mit einer Minderheit der Zuwanderer vom Balkan und aus Osteuropa. Die Autorin schreibt im Vorwort [Hervorhebung von mir]:

Das soll keine Pauschalverurteilung sein und schon gar keine rassistische Vorverurteilung aufgrund der Herkunft oder des Glaubens, aber es ist schlichtweg eine Tatsache, dass manche Bevölkerungsgruppen bei bestimmten Verhaltensmerkmalen und Straftaten überrepräsentiert sind. […] Die erste Frage lautet jedoch immer, warum es zu einer Straftat kam und wie man sie in Zukunft verhindern kann. Und wenn der Migrationshintergrund bei der Beantwortung dieser Fragen von Bedeutung ist, wird er erwähnt.

Dieses Versprechen löst die Autorin in der Tat ein, wenn sie im Buch das Verhalten der problematischen Gruppen bewertet. Sie sucht nach Ursachen und findet sie in (zum Teil) archaischen Vorstellungen von Ehre, Männlichkeit, Patriarchat und Familie. Sie konstatiert eine »Verachtung des Staates« und weist darauf hin, dass diese Verachtung auch bei »Neonazis und anderen Extremisten« zu finden sei.

Die Autorin geht sehr ausführlich auf das Problem der Paralleljustiz ein. Sie beschreibt, wie sogenannte Friedensrichter auch Fälle des Strafrechts beeinflussen: durch eigenmächtige Urteile, Beeinflussung von Zeugen oder Schweigedruck.

Die Erlebnisse aus dem Polizeialltag werden ergänzt durch Berichte aus dem täglichen Leben in Bochum – mit traditionell-muslimisch geprägten und zum Teil archaisch denkenden Menschen. An mehreren Stellen des Buches kommen bizarre und inakzeptable »Normen« des Zusammenlebens in traditionell-muslimisch geprägten Gemeinschaften an den Tag: Jungen dürfen ihre Schwestern schlagen, Lehrerinnen haben Jungen nichts zu sagen, eine Mutter musste sich sogar vom eigenen Sohn (der noch ein Kind war) maßregeln lassen. Zitat:

Ganz abgesehen davon, dass es schwer ist, mit solchen Kindern Unterricht für eine ganze Klasse zu gestalten: Was soll aus diesen Kindern werden, wenn sie mit solchen Ansichten ganz selbstverständlich aufwachsen?

Wichtig ist mir der Hinweis: Es geht aus dem Buch zwar hervor, dass es moderne, gebildete, aufgeklärte Muslime gibt. Es wird aber zu wenig darauf eingegangen, wie man sie vielleicht als Verbündete gegen die Rückständigkeit gewinnen kann.


Abgrenzungen


Tania Kambouri grenzt sich namentlich gegenüber der AfD, gegenüber Pegida und gegenüber Thilo Sarrazin ab. Die Abgrenzung gegenüber Sarrazin glückt nicht ganz überzeugend:

Ich bin wahrlich kein Befürworter von Sarrazins Thesen, die zum Teil richtig bizarr sind, wenn sie mit ihren Intelligenz-Vererbungstheorien mehr oder weniger stark an Eugenik oder Rassenlehre erinnern – dennoch spricht er negative Entwicklungen an, die schlicht und ergreifend wahr sind.

Die Frage der Vererbung von Intelligenz wird wissenschaftlich untersucht und es spricht einiges dafür, dass Begabungen und Fähigkeiten vererbt werden. Diese Frage hat aber nichts damit zu tun, dass Sarrazin bestimmten ethnischen Gruppen pauschal eine höhere Intelligenz oder einen größeren Fleiß zuschreibt.

Direkt nach dieser Abgrenzung schreibt sie, dass ihr der ehemalige Berliner Lokalpolitiker Heinz Buschkowsky »wesentlich näher« stünde und dass sie ihm am liebsten antworten würde: »Bochum ist überall«. Das ist allerdings zu hinterfragen: Neukölln und Bochum »sind« z. B. nicht Dresden oder Leipzig. In den beiden sächsischen Großstädten gibt es schwerpunktmäßig ganz andere Probleme – auf der einen Seite die gewalttätigen Teile der Pegida und auf der anderen Seite die gewalttätigen Linksautonomen.


Tania Kambouris Bewertungen und Schlussfolgerungen


Viele der Tatverdächtigen und Täter sind noch sehr jung – ob es nun um Bochum, Berlin, Dresden oder Leipzig geht. In Sachen Jugendstrafrecht steht Tania Kambouri am ehesten der ehemaligen Jugendrichterin Kirsten Heisig nahe. Sie plädiert für ein zeitiges Einbeziehen der Eltern und der Schulen und gegen langes Abwarten.

An einigen Stellen des Buches werden Statistiken zitiert, aber es fehlen leider die Quellenangaben. Wenn »die Zahl gefährlicher und schwererer Körperverletzungsdelikte von 2003 bis 2012 um 24 % zugenommen hat«, »die Hälfte der Tatverdächtigen unter 21 Jahre alt ist« und »Männer türkisch-arabischer Herkunft dominieren« – dann hätte ich als Leser gern eine nachprüfbare Quelle.

Wenn Tania Kambouri eine Stärkung des gesamten Rechtsstaats, mehr Zivilcourage, eine neue Integrationspolitik, eine bessere personelle und materielle Ausstattung der Polizei und eine bessere Bildung fordert, kann man ihr nur zustimmen. Sie begründet diese Forderungen sachlich mit den Ergebnissen ihrer eigenen Beobachtung. Sie grenzt sehr gut ab, wo Toleranz notwendig und wo Null-Toleranz angebracht ist.

Wenn sie allerdings für die Vorratsdatenspeicherung plädiert, wird nicht deutlich, wie man damit auch nur eines der angesprochenen Probleme lösen soll. Die folgende Argumentation ist leider eine der Schwächen des Buches:

Auch beim Thema Vorratsdatenspeicherung sollten wir nicht auf eine Katastrophe warten. Wenn im Verdachtsfall auf Telefonverbindungen und andere Informationen (etwa der Migrationshintergrund) zurückgegriffen werden könnte, wäre das für die Ermittlungsarbeit sowie das Vermeiden weiterer Straftaten oft von großer Hilfe. […] Für einen günstigeren Handytarif geben jedoch viele Bürger freiwillig mehr Daten preis, als für eine bessere Präventionsarbeit und Strafverfolgung nötig wäre.


Tania Kambouris Auftritt in der Sendung »Maischberger«


Bis Anfang Oktober 2016 wird die Sendung »Maischberger« mit Tania Kambouri noch in der ARD-Mediathek verfügbar sein. Die Autorin wird nach 31:15 min als Gast in die Sendung eingeführt. Auch wenn Jakob Augstein ihr und anderen Beteiligten auf sehr unangenehme Weise ins Wort fällt: Es lohnt sich, Tania Kambouris ersten Auftritt anzuschauen.

In einem Bericht aus »Der Westen« wird Tania Kambouri zu ihrem Auftritt und zu Jakob Augsteins Dazwischenreden mit dieser kühlen Antwort zitiert:

Dass der linke „Spiegel“-Kolumnist Jakob Augstein sie da anging, hat sie indes weggesteckt. „Er kennt die Straße nicht. Deswegen kann ich ihn in dieser Sache nicht ernstnehmen“, entgegnet sie trocken. Sie selbst sei couragiert. „Ich kann mich durchsetzen auf der Straße“, versichert sie mit einer Überzeugung in der Stimme, die etwaige Zweifel sofort erstickt.


Die Reaktion der Bochumer LINKEN


Die LINKE in Bochum lehnt das Buch mit Hilfe billiger Strohmann-Argumente ab. In ihrer Mitteilung wird der Inhalt des Buchs stark verzerrt und simplifiziert. Man wirft Tania Kambouri offenen Rassismus vor. Zitat aus der Mitteilung der Bochumer LINKEN:

Ihre Aussagen, nach denen es besonders Muslime seien, denen es an Respekt vor der Polizei fehle, ist eine pauschale Verunglimpfung der etwa 30.000 Bochumer Muslime, darunter AkademikerInnen, ArbeiterInnen, SchülerInnen und Selbstständige.

Ich habe das Buch ja nun sehr gründlich gelesen – eine Pauschalverurteilung der 30.000 Bochumer Muslime oder der Bochumer Migranten insgesamt kommt definitiv nicht vor. Im Gegenteil:

Die meisten hier lebenden Migranten sind hart arbeitende Menschen. Sie haben sich vorbildlich integriert, respektieren das Land und die Gesetze, Regeln und Normen, ohne dabei ihre Herkunft und Identität zu verleugnen. So soll es auch sein. [Zitat vom Beginn des ersten Kapitels.]

Für die LINKE hat der Einsatz der »Rassismuskeule« den Vorteil, dass man über das Buch nicht mehr reden muss. Das können wir uns als Gesellschaft aber nicht leisten. Wenn wir den demokratischen Rechtsstaat aufrechterhalten wollen, darf es keine Parallelgesellschaften geben, in denen unser Recht gar nicht mehr oder nur noch teilweise akzeptiert wird.


Tania Kambouri und der feministische Buchversand


Zum Schluss noch eine Ironie der Geschichte. Das Buch »Deutschland im Blaulicht« ist ja das Werk einer engagiert berufstätigen Frau, die selbstbestimmt und selbstbewusst auftritt. Eigentlich müsste doch nun eine große Solidarität aus dem feministischen Lager spürbar sein – geradezu ein #Aufschrei gegen die Diskriminierung Tania Kambouris als Frau und Migrantin.

Bei der Recherche für diesen Beitrag am Morgen des 11. Oktober fand Google das Buch noch auf der Seite eines feministischen Buchversands. Eingeordnet war es beim feministischen Buchversand laut Googles Cache noch am 09. Oktober unter:

  • Arbeit & Beruf
  • Frauenleben weltweit
  • Feminismus & Emanzipation
  • weitere Themen: Sexismus

Wenn Sie den folgenden von Google gefundenen Link anklicken oder bei dem Buchversand nach dem Namen der Autorin suchen, werden Sie sehen, dass es dort nicht mehr verfügbar ist. Der Buchversand lehnt nach eigener Aussage im Bestellgeschäft ausschließlich »sexistische, rassistische oder Gewalt verherrlichende Publikationen« ab. Das offensichtliche Auslisten des Buchs ist dann wohl die Anwendung des Prinzips »feministische Filterblase« …


Ein sehr persönliches Fazit


Ich wünsche dem Buch eine weite Verbreitung und ich wünsche mir, dass es die richtigen Leute lesen. Ich wünsche mir, dass die Autorin (vielleicht mit einem berufsbegleitendem Studium) aufsteigt – damit sie mehr Überblick und mehr Einfluss bekommt. Sie kann sich sicher auch im höheren Dienst oder in der Politik durchsetzen, wenn sie es will – und das kann ein Gewinn für unsere Gesellschaft sein.


Fortlaufend ergänzt: einige weitere Stimmen zum Buch.

  1. Bericht in der »WELT«
  2. Bericht über Buch und Talkshow in »Der Westen«
  3. Vorstellung der Autorin im WDR
  4. Ein Interview im DLF als MP3-Podacst
  5. Ein aktuelles SAT1-Interview zu Flüchtlingen via Youtube

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Was geschah bei der Pegida-Demonstration am 21.09. vor dem Dresdner Schauspielhaus?

7. Oktober 2015

Die »Sächsische Zeitung« aus Dresden hat heute einen Artikel zu dem Vorfall veröffentlicht, der vor etwa zwei Wochen bundesweit Schlagzeilen machte: Damals hieß es, dass vor dem Dresdner Schauspielhaus aus einer #Pegida-Demonstration heraus junge Leute angegriffen und beschimpft worden seien.

Die damals veröffentlichten Artikel waren fast alle so einseitig wie dieser Artikel bei SPON: Alle Schuld an dem Vorfall wurde #Pegida zugewiesen. Dieses einseitige Bild lässt sich nicht aufrechterhalten.


Um den Vorfall beurteilen zu können, muss man wissen, wie das Dresdner Schauspielhaus aufgebaut ist: Es gibt vor den Ein- und Ausgängen Arkaden, die (aus dem Gedächtnis geschätzt) 30 bis 40 Meter lang sind. Auf der Website des Staatsschauspiels kann man sich ein Bild davon machen.

Wenn man als Teil des Publikums aus dem Theater kommt, kann man nicht den ganzen Bereich überblicken. Es ist also durchaus möglich, dass die Beteiligten am hinteren Ende der Arkaden etwas anderes wahrgenommen haben als die Beteiligten am vorderen Ende der Arkaden. Das gilt für #Pegida, Polizei, Schüler und Pädagogen.


Zu dem Vorfall kursierten in Dresden schon lange gegensätzliche Darstellungen und sie wurden (wie ich jetzt erst sehe) auch veröffentlicht. Wenn Sie den zweiten Teil dieses Berichts von »Radio Dresden« lesen, finden Sie etwa die Informationen, die heute in der »Sächsischen Zeitung« veröffentlicht wurden.

Es gab offenbar Provokationen von beiden Seiten. Auch erwachsene Beteiligte des Theaterprojekts sollen gegen #Pegida protestiert haben. Auf der anderen Seite wirkte die Reaktion der Demonstranten bedrohlich auf die Schüler. In der »Sächsischen Zeitung« ist nun zu lesen, dass selbst #Pegida-Demonstranten die Reaktion auf die Schüler im Nachhinein als zu hart empfanden. Um den Bericht von »Radio Dresden« zu zitieren:

Wie ein Polizeisprecher abschließend am Abend auf Nachfrage unserem Sender sagte, gebe es von keiner Seite eine Anzeige. Es gab verbale Auseinandersetzungen, es gab aber keine Bedrohung im Sinne des Strafgesetzbuches. Die Situation sei für die Kinder aber durchaus verstörend und bedrohlich gewesen.


Um den Vorfall in ein Gesamtbild einzuordnen: Die #Pegida-Demonstranten haben seitdem wiederholt Pressevertreter bedroht und schon seit Monaten ihre Verachtung gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat gezeigt. Aber es muss trotzdem objektiv darüber berichtet werden, dass es Provokation und Gegenprovokation gegeben hat. Die Beteiligten des Theaterprojektes haben ihren Teil zu der verbalen Eskalation beigetragen.



Warum man Studien über Anleger nicht blind vertrauen sollte

7. Oktober 2015

Wenn Sie heute oder morgen Ihre Lokalzeitung aufschlagen, werden Sie vielleicht folgende Überschrift lesen:

Dresdner Männer sind bundesweit die schlechtesten Privatanleger

Diese Idee für eine Überschrift halten Sie im Moment vielleicht noch für pure Phantasie eines Bloggers – bis Sie das Original aus einer aktuellen Pressemitteilung der ING DiBa lesen:

Privatanlegerstudie: Hamburger Seniorinnen sind die erfolgreichsten Privatanleger in Deutschland


Vielleicht erinnern Sie sich an diesen Artikel aus der »Sächsischen Zeitung«, in dem es 2013 hieß:

Dresdner legen ihr Geld am cleversten an

Der Analyse einer Direktbank zufolge erzielen sie bundesweit die höchste Rendite – und gehen dafür höhere Risiken ein.

Nur zwei Jahre später sind die Dresdner das weit abgeschlagene Schlusslicht derselben Studie und die Sachsen sind Vorletzter. Man darf also gespannt sein, welches Ergebnis die Dresdner im Jahr 2017 erzielen: Erster, Letzter oder Mittelfeld? Und man darf sich fragen: Waren die Dresdner 2013 besonders clever oder sind sie 2015 besonders dumm?


Die ING DiBa hat für die Presse in dieser PDF-Datei einige Zahlen zusammengefasst. Diese Zahlen sind für eine seriöse Bewertung des Anlageerfolgs der Dresdner oder der Hamburgerinnen, der Bayern oder der Hessen, der Jungen oder der Alten weitgehend wertlos.

Die Bank hat nach eigener Aussage etwa 584.000 Wertpapierdepots ausgewertet und man darf davon ausgehen, dass sie Geschlecht, Wohnort und Anlageerfolg richtig zusammengefasst hat. Das Problem sind nicht die Zahlen. Das Problem sind die Schlussfolgerungen, die aus den Zahlen gezogen werden.

Warum ist bei der Veröffentlichung von Schlussfolgerungen aus der Studie größte Vorsicht angebracht? Die ING DiBa veröffentlicht eine Zusammenfassung, ohne die zugrunde liegenden Daten zu veröffentlichen. Daraus ergeben sich die folgenden statistischen Einwände:

  1. Die Größe der Stichprobe lässt keinen Rückschluss auf ihre Repräsentativität zu.
  2. Die Zusammensetzung der Stichprobe nach den Merkmalen Wohnort, Alter und Geschlecht ist der Öffentlichkeit unbekannt.

Allein aus diesen beiden Gründen sind Rückschlüsse auf Dresden oder Hamburg nicht seriös: Wir wissen nicht, wie sich die Depots nach Geschlecht, Wohnort oder Alter verteilen. Und die Teilnehmer der Studie wurden nicht regulär repräsentativ ausgewählt, sondern per Selbstauswahl zusammengestellt.


Schon der Rückschluss auf die Anlageerfolge der Frauen und der Männer (wie in diesem Artikel) erscheint mir sehr gewagt – erst recht das Ableiten eines Trends aus den Studien 2013 und 2015. Absolut spekulativ sind aber Schlussfolgerungen auf Kombinationen aus mehreren statistischen Merkmalen:

In der Schlagzeile »Hamburger Seniorinnen sind die erfolgreichsten Privatanleger in Deutschland« stecken drei Merkmale, deren Verteilung wir nicht kennen: Wohnort, Geschlecht, Alter. Es ist völlig spekulativ, daraus eine Spitzenleistung bei der Geldanlage abzuleiten – obwohl es natürlich für Hamburg eine schöne Schlagzeile gibt.


Liebe Journalistinnen und Journalisten in Hamburg: Verkneift Euch Jubelmeldungen über den Anlageerfolg Eurer Einwohner. Liebe Dresdner Männer: Lasst Euch nicht die Laune verderben. Es ist ein Zahlenspiel ohne jede gesellschaftliche Relevanz.

Und liebe Verschwörungstheoretiker: Mit der #Pegida, den Chemtrails, der Klimaerwärmung, den Russen oder der deutschen Teilung haben die Ergebnisse auch nichts zu tun.

Es ist reine PR – denn mit den Berichten über die Studie kommt der Name der Bank in die Zeitung. Mehr steckt nicht dahinter …


Ergänzung: Wenn zu einer Studie keine Rohdaten veröffentlicht werden, ist sowieso immer Misstrauen angebracht. Die Zusammenfassung in Form bunter Folien und Diagramme ist schön und einfach – aber ohne zugrunde liegende Daten kann man weder die Diagramme noch die Rangfolgen beurteilen.



Zum Krankenstand bei Frauen und Männern

5. Oktober 2015

Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Berufsleben ist ein hohes Gut. Eine zweifelhafte Auslegung von Statistiken kann aber kein Argument für mehr Berufstätigkeit von Frauen sein.


Am Ende der vergangenen Woche hat meine Lokalzeitung DNN eine Pressemitteilung der BARMER GEK verarbeitet. Die journalistische Leistung beschränkte sich dabei wie so oft auf das Kürzen und Umformulieren der Pressemitteilung – aber das soll nicht Gegenstand der Kritik sein.

Frauenpower für die Wirtschaft
Barmer GEK: Vollzeitbeschäftigung als Mittel gegen die Auswirkungen des demografischen Wandels


Meine Statistik-Sensoren reagierten auf folgenden Abschnitt:

Sachsen_AU_Detail

Ausriss: DNN, 01. Oktober 2015, Seite 4


Es schien sich um Rosinenpickerei zu handeln: Das Argument der höheren Lebenserwartung ist ganz sicher ein Null-Argument – weil die Lebenserwartung beider Geschlechter ohnehin weit jenseits des Rentenalters liegt. Entscheidend ist doch für die Beschäftigung: Wer geht real eher in Rente?

Und ausgerechnet die Anzahl der Tage pro Krankschreibung heranzuziehen – das schien mir dann doch sehr außergewöhnlich. Normalerweise sind andere statistische Kennzahlen wichtiger: Der Krankenstand für die Arbeitgeber und die Ausfälle bezogen auf die Versicherungsjahre für die Krankenkassen.


Nachdem ich die Daten im Gesundheitsreport der Barmer GEK überprüft hatte, stellte ich am Montagvormittag auf Twitter diese Frage:

Statistik-Übung: Was ist an den Aussagen zur Gesundheit und Berufstätigkeit von Frauen statistisch zweifelhaft? [Link zum Tweet]

Die Diskussion war kurz und interessant: Sehr schnell wurde klar, dass es letztlich nicht auf die Daten ankommt, die in der Pressemitteilung und im Artikel der DNN (gedruckte Ausgabe) hervorgehoben wurden.


Im Gesundheitsreport der Barmer GEK stehen die wirklich relevanten Daten, hier für 2014 und 2013:

Sachsen_AU_breit

Ausriss: Gesundheitsreport der Barmer GEK, 2015, Seite 8


Diese Daten zeigen, dass sowohl in der Pressemitteilung als auch im Zeitungsartikel Rosinenpickerei betrieben wurde. In fast allen Kennzahlen (bis auf eine) sind die Männer »besser« als die Frauen.

Insgesamt sieht man aber in keiner der Kennzahlen einen wirklich relevanten »Vorsprung« eines Geschlechts. Und der einzelne Arbeitgeber stellt ohnehin keine Kennzahl ein, sondern einen Mann oder eine Frau.

Hinweis: Das Demaskieren dieses statistischen Tricks hat nichts damit zu tun, dass die Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Berufsleben selbstverständlich ist.

Dieser Artikel richtet sich in keiner Weise gegen berufstätige Frauen, sondern nur gegen schlechte Interpretationen der Statistik und gegen schlechten Journalismus …



Ein erster Ansatz: Zehn Gebote für bessere Diskussionen

5. Oktober 2015

1. Du sollst nicht die Person deiner Kontrahenten angreifen, sondern ihre Argumente. [Abwertung der Person]

2. Du sollst die Argumente deiner Kontrahenten nicht verzerren, nur um sie einfacher angreifen zu können. [Strohmann-Argument]

3. Du sollst nicht von wenigen Fällen auf eine große Gesamtheit schließen. [Vorschnelle Verallgemeinerung]

4. Du sollst Deine Behauptungen nicht durch einen Zirkelbeweis belegen.

5. Du sollst nicht ohne schlüssige Belege behaupten, dass ein früheres Ereignis die Ursache eines späteren Ereignisses ist. [Zeitliches Nacheinander]

6. Du sollst Argumente nicht fälschlich auf zwei Möglichkeiten reduzieren. [Schwarz-Weiß-Malerei]

7. Du sollst nicht aus Mangel an Vorstellungskraft und Wissen darüber urteilen, ob eine Behauptung wahr oder falsch ist. [Appell an das Nichtwissen]

8. Du sollst die Beweislast nicht auf diejenigen abwälzen, die deine Behauptungen in Frage stellen.

9. Du sollst nicht behaupten, dass B aus A folgt, solange du keine Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen A und B beweisen kannst.

10. Du sollst nicht behaupten, dass ein Argument schon deshalb wahr ist, weil es populär ist. [Autorität der Mehrheit]


[Inspiriert durch diesen Beitrag von »Alles Evolution«.]