Ein »Mediendienst Integration« hat heute zwei Kennzahlen zur Flüchtlingskrise ausgewählt und in grafischer Darstellung veröffentlicht: die Anzahl der Asylbewerber pro 1.000 Einwohner und die Anzahl der Flüchtlinge in ausgewählten Ländern.
Eine dieser Zahlen ist irrelevant und die andere ist schon lange nicht mehr aktuell. Beide Zahlen sind zwar für sich genommen nicht falsch. Sie sind aber irreführend, denn sie verschleiern die Folgen der Flüchtlingskrise.
Online-Leitmedien wie die ZEIT bringen diese irreführenden Zahlen in ihren Artikeln, viele Aktivisten geben sie bei Twitter weiter. Morgen werden sie gedruckt in manchen Zeitungen stehen.
Die Anzahl der Asylbewerber pro 1.000 Einwohner
Zur Darstellung der Zahl der Aufgenommenen pro 1.000 Einwohner wird lediglich die Anzahl der Asylanträge im Jahr 2015 herangezogen. Damit hätte Deutschland in der Tat »nur« 5 Flüchtlinge pro 1.000 Bürger aufgenommen. Ich habe schon heute Mittag auf den gröbsten Fehler in dieser Darstellung hingewiesen:
.@MDIntegration Das ist falsch, weil »Aufnahme« nicht gleich »Asylanträge« ist. 400.000 Menschen durften 2015 gar keinen Antrag stellen.
Es ist gesichert, dass im Jahr 2015 etwa 400.000 Menschen registriert und versorgt wurden, die gar keinen Asylantrag stellen durften – weil das Amt überlastet ist. Hintergrund: Die Laufzeit der Asylverfahren beginnt erst, wenn das BAMF zur Entgegennahme eines Antrags bereit ist.
Meine Quelle für diese Zahlen ist die F.A.Z. von Ende November. Man darf also konservativ mit 400.000 Menschen mehr rechnen, die Deutschland aufgenommen hat, wie auch aus einem sehr aktuellen Artikel der F.A.Z zu den Asylanträgen hervorgeht.
Addiert man die Zahl dieser Menschen zu den 477.000 registrierten Asylbewerbern, kommt man bei 80.000.000 Deutschen auf mehr als 10 Aufgenommene pro 1.000 Einwohner. Somit ist die Grafik des Mediendienstes eine grobe Irreführung, denn man ignoriert darin fast die Hälfte der tatsächlich Aufgenommenen.
Die Flüchtlingsbevölkerung weltweit
Auch die zweite grafisch aufbereitete Kennzahl ist für den März 2016 irrelevant und irreführend. Es handelt sich um die Säulengrafik der Flüchtlingsbevölkerung unten im »Mediendienst«-Artikel.
Jeder weiß, dass die wirklich große Menge der Flüchtlinge erst im zweiten Halbjahr nach Deutschland kam und dass dafür viele Flüchtlinge andere sichere Staaten verließen.
Eine Grafik aus dem ersten Halbjahr 2015 ist heute völlig irrelevant, wenn etwa eine Million Menschen noch im zweiten Halbjahr 2015 das Land gewechselt haben und die meisten davon nach Deutschland kamen.
In den beiden Zahlen in meiner Berechnung im oberen Teil sind die nicht registrierten, illegalen Migranten noch gar nicht enthalten. Viele von ihnen enthalten vermutlich Hilfe von Freiwilligen.
Der Rest des Artikels komplettiert die Verwirrung. Der Artikel ist zwar in einem betont nüchternen Ton gehalten. Beispiel:
Will man allerdings die Auswirkung der Flüchtlingsmigration auf die Gesellschaft messen, muss man die Asylbewerberzahlen im Verhältnis zur Größe der Bevölkerung betrachten. Hier ändert sich das Ranking deutlich: Dann steht Deutschland mit seinen 81 Millionen Einwohnern im europäischen Vergleich lediglich auf Platz sechs.
Aber die Zahlen klären nicht auf, weil sie einen sehr wichtigen Teil der Realität ausblenden. Hier noch ein Zitat, das ebenfalls ungeprüft weiterverbreitet wird:
2015 erhielten hier lediglich 141.000 Menschen einen Schutzstatus, weil ihr Antrag bewilligt wurde. Das entspricht ungefähr der Hälfte aller Anträge, die gestellt wurden.
Die verlinkten Artikel aus der F.A.Z. zeigen, wie irrelevant diese Zahlen sind: 400.000 Menschen sind 2015 noch nicht einmal bis zur Antragstellung vorgedrungen. Erst danach kann man entscheiden, ob sie einen Schutzstatus erhalten. Außerdem liegen über 300.000 Anträge unerledigt im BAMF.
Damit wären wir bei der entscheidenden Frage: Warum redet man die großartige humanitäre Leistung unseres Landes im Jahr 2015 klein? Wir haben nicht nur die Antragsteller im Land – wir haben insgesamt über eine Million Menschen aufgenommen und versorgt. Warum macht man unser Land schlechter, als es ist?
Aktualisierung 1: Ich darf natürlich nicht Don Alphonsos Artikel aus dem FAZ-Blog zu diesem Thema unterschlagen.