Fragen zur staatlichen Förderung einer Kampagne

27. Juli 2016

Nichtregierungsorganisationen (NGO) sollen ein Teil des politischen Willensbildungsprozesses sein. Wenn der Staat einer NGO direkt und zweckgebunden Geld in die Hand gibt, ist das im Grunde ein Widerspruch in sich selbst:

Eine politische Nichtregierungsorganisation sollte gerade in demokratischen Staaten dadurch gekennzeichnet sein, dass sie unabhängig von der Regierung arbeitet und dass sie im besten Fall sogar die Regierungsarbeit kritisch begleitet. Eine NGO sollte nicht zum Sprachrohr der staatlichen Stellen werden, die über das Fördergeld entscheiden.

Je stärker Nichtregierungsorganisationen vom Staat gefördert werden, desto wichtiger ist Transparenz über die Ziele, über die Auswahlverfahren und über die Verwendung des Geldes.


Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat sich Ende der vergangenen Woche zu einer sehr speziellen Förderung geäußert:

Gefördert durch das Bundesfamilienministerium wird die „No Hate Speech“ Kampagne in Deutschland durch die Neuen deutschen Medienmacher koordiniert. Um in einem möglichst breiten Bündnis gegen Hate Speech vorzugehen und möglichst viele Menschen zu erreichen, wird ein Nationales Kampagnen Komitee das Projekt begleiten und beraten. In dem Komitee werden Akteurinnen und Akteure aus Politik, Verwaltung und der Zivilgesellschaft vertreten sein.

Aus dieser Pressemitteilung ist herauszulesen, dass das BMFSFJ eine Kampagne »No Hate Speech« fördert und dass die NGO »Neue deutsche Medienmacher« die Koordination übertragen bekommen hat. Für welche Tätigkeit die NGO tatsächlich gefördert wird, ist nicht herauszulesen. Was ist konkret mit »Koordination« gemeint?

Ich habe Vertreter der NGO »Neue deutsche Medienmacher« auf Twitter nach der Förderung gefragt und bekam leider keine wirklich aufschlussreiche Antwort:

Werden Sie gern Mitglied der NdM, ist nicht teuer, und sehen Sie in unseren Kassenbericht. Oder fragen Sie bitte das BMFSFJ.
:
@stefanolix Nicht auf Twitter, sorry. Auf Presseanfragen haben wir Auskunft gegeben, es in sozialen Medien zu verbreiten ist unseriös.


Das BMFSFJ hat mir bisher keine Antwort gegeben. Interessant ist: Auch andere Beteiligte am »Nationalen Kampagnen Komitee« werden vom Bundesfamilienministerium gefördert. Warum ist aber die Förderung von Journalisten besonders pikant?

Weil sich dadurch Abhängigkeitsverhältnisse aufbauen können: Berichtet ein Journalist objektiv über eine Kampagne, für die seine Organisation gefördert wird oder an der seine Organisation beratend beteiligt ist?

In welcher Zeitung, in welchem Sender wird überhaupt kritisch hinterfragt, wie viel Geld vom Staat für die Beeinflussung der öffentlichen Meinung ausgegeben wird, wer davon profitiert und wofür das Geld verwendet wird?

Um diesen Komplex genauer untersuchen zu können, braucht es Transparenz über die Zielsetzung, die Beschreibung des Auftrags, die Höhe der finanziellen Förderung und die Art der Evaluation. Und es braucht eine kritische Presse, die sich mit dieser Art der Verteilung von Fördergeld befasst.


Solange die Fragen nach der Förderung abgeblockt werden, lohnt sich ein Blick auf die tatsächliche Arbeit der Kampagne. Nach einem wahren Feuerwerk von Tweets am Ende der vergangenen Woche kam am frühen Freitagabend folgender Tweet:

Liebe Fans, wir sind leider erst ab Montag wieder für Ihre Sorgen da.

Gern wüsste man, wer mit »wir« gemeint ist: sind es bezahlte Mitarbeiter, Praktikanten oder Freiwillige? Seit der Verabschiedung ins Wochenende gab es jedenfalls noch einen Retweet (weil ein Radiosender über die Kampagne berichtet hatte) und einen eigenen Tweet am Montag:

Wie amüsant, wenn Leute sich nicht scheuen auf #NoHateSpeech mit Hass zu reagieren. Dient uns. Schönen Dank!

Abgesehen von diesen beiden Äußerungen gibt es Antworten auf Tweets, die vorwiegend aus der Defensive kommen und inhaltlich inzwischen kaum noch Neues bringen. Die Netzaktivistin @Zeitrafferin hat es schön auf den Punkt gebracht:

Zu der Kampagne: Ich muss sagen, dass ich es schon problematisch finde, wenn eine staatlich finanzierte Kampagne eigentlich intelligente Leute motiviert, bei Facebook mit sinnlosen Bildern herumzuposten. Diese Art und Weise der Kommunikation finde ich nicht nur sinnlos, hier wird Humankapital gebunden, sondern sogar irgendwie zynisch. […] Ich habe das Gefühl, dass diese Kommunikationsform das Gegenüber oft verachtet. Mit einem kontextaufgeladenen Bild wird derailt, es findet kein Gespräch statt.

Wenn Kritik an der Auswahl der Themen kommt, wird von @NoHateSpeechDE immer wieder kommuniziert, dass man sich ja beteiligen könne. Ergänzungen auf der Seite, etwa zu linksradikaler oder islamistischer Hassrede, sind aber nicht erkennbar. Noch einmal @Zeitrafferin:

Die Antworten des Twitter-Accounts der Kampagne sind durch eine Philosophie des unpräzisen Rumlaberns geprägt. Das produziert nicht nur Gedankenmüll, sondern erweist unseren Anliegen der Vielfalt und Toleranz einen Bärendienst.

Dem ist nichts hinzuzufügen. Es ist nicht nur schade um die verbrannte Arbeitszeit, um das Fördergeld und all die anderen Ressourcen für diese Kampagne. Es fehlt eine Recherche zum gesamten Komplex »Fördergeld für Meinungsmacher«. Welches unabhängige Medium wird diese Recherche leisten?


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Wie eine gemeinsame Aktion gegen Hassrede aussehen müsste

24. Juli 2016

Disclaimer: Es werden in diesem Artikel keine Gesetzesverschärfungen, Verbote, Kontrollen, Überwachungen oder staatlichen Kampagnen gefordert. Wenn Sie solche Maßnahmen befürworten, sind Sie hier falsch. Wenn Sie solche Maßnahmen nicht befürworten, lesen Sie bitte weiter.

Es geht in diesem Artikel um die Verbesserung der Kommunikation in einer freien Gesellschaft. Im Grundgesetz und im Strafgesetzbuch sind dafür Rahmenbedingungen gesetzt und die Organe des Rechtsstaats setzen die Regeln mehr oder weniger gut durch. Den entscheidenden Rest müssen wir selbst beitragen.


Technische Maßnahmen können keine sozialen Probleme lösen

Eine schärfere staatliche oder private Kontrolle der sozialen Netzwerke wäre ein tiefer Einschnitt in die Freiheit: Jedes Kontrollwerkzeug kann missbraucht werden, um unliebsame Meinungen zu unterdrücken.

Jedes Kontrollwerkzeug kann außerdem sabotiert werden, fehlerhaft eingesetzt werden und auch technisch versagen. Die gesammelten Daten können und werden irgendwann in falsche Hände geraten.


Staatlich geförderte Erziehung von Erwachsenen funktioniert nicht

Staatlich geförderte Kampagnen werden uns bei der Lösung dieses Problems auch nicht helfen, weil die zuständigen Behörden erstens die falschen Anreize setzen und zweitens die Adressaten gar nicht erreichen:

Der Staat setzt die falschen Anreize, weil er Geld für Maßnahmen ausgibt, die sich im Grunde selbst überflüssig machen müssten. Die Ziele der Maßnahmen sind unscharf formuliert und ihr Erfolg ist nicht messbar. Also werden die beauftragten Akteure das Geld nehmen und in Zukunft mehr Geld fordern, weil das Problem nicht kleiner geworden ist. Was verständlich ist: aus deren Sicht ist es die Maximierung ihres persönlichen Nutzens.

Der Staat erreicht die Adressaten nicht, weil gerade die gesellschaftlichen Gruppen mit den größten Problemen nur noch ein sehr schwaches Vertrauen in den Staat haben. Welchen Erfolg haben denn Stellungnahmen der Ministerin Manuela Schwesig oder des Ministers Heiko Maas in den sozialen Medien? Sicher sind die Politiker des eigenen Lagers und einige Agitprop-Journalisten davon hellauf begeistert. Aber wer vergibt bitte für Frau Schwesig oder Herrn Maas aus privater Überzeugung auf Twitter ein Herzchen?


Zwischenfazit: Wir müssen selbst klarkommen, weil uns weder der Staat noch die Betreiber der sozialen Netzwerke helfen können. Und so schwer ist das gar nicht.


Regeln und Regelverletzungen

Im Grunde sind sich doch in den sozialen Netzwerken fast alle Nutzerinnen und Nutzer einig: wir wollen keine üblen Gehässigkeiten hören. Die meisten von uns haben die simple »Goldene Regel« verinnerlicht:

Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.

Wir wollen folglich auch nicht, dass unsere Freunde mit gehässigen Äußerungen überzogen werden. Wir wollen sogar mit unseren schärfsten Kontrahenten und Gegnern lieber sachlich diskutieren, als uns ihre Klagen über Hassreden anzuhören.


Soweit das Ideal. Die Realität: Jeder kann im Netz zum Ziel gehässiger Äußerungen werden. Es ist deshalb völlig verfehlt, die Empfänger solcher Äußerungen in »Opfergruppen« einzuteilen und andere Gruppen willkürlich als nicht betroffen zu deklarieren. Um das zu verstehen, soll folgende Definition für Hassrede eingeführt werden:

Hassrede ist eine legale Äußerung, mit der eine Person oder Personengruppe öffentlich herabgesetzt werden soll. Mit einer Hassrede wird die »Goldene Regel« (meist) vorsätzlich gravierend verletzt.

Abgrenzung 1: Strafbare Äußerungen wie Volksverhetzung, Verleumdung, üble Nachrede oder Beleidigung werden hier bewusst ausgeklammert, weil sie schon vom Rechtsstaat verfolgt werden.

Abgrenzung 2: Eine Äußerung wird nicht schon dadurch zur Hassrede, dass sie von einigen Empfängern aus persönlichen, weltanschaulichen oder ideologischen Gründen abgelehnt wird.

Mehrfach wurde die Frage gestellt: Wozu dienen die Abgrenzungen?

  1. Wenn strafbare Äußerungen mit gehässigen Äußerungen vermischt werden, besteht die Gefahr einer Unterdrückung unliebsamer legaler Meinungen unter dem Vorwand der Bekämpfung von Hassreden.
  2. Wenn die Sicht der Empfänger in den Vordergrund gestellt wird, besteht die Gefahr einer Unterdrückung unliebsamer legitimer Kritik unter dem Vorwand der Bekämpfung von Hassreden.

Mit meiner Definition sollen Äußerungen eingegrenzt werden, die einerseits legal sind und andererseits für viele Nutzer ein Ärgernis darstellen: Beschimpfungen, Wutausbrüche, Menschenverachtung, Grenzüberschreitung.

Es gibt in sozialen Netzwerken kaum Grenzen, deshalb kann sich Ärger schnell verbreiten. Das Netz vergisst nie. Hass wird kopiert und zitiert, auf Screenshots gebannt und für lange Zeit dokumentiert.


Wann beginnt Hassrede?

Wenn mit gehässigen Reden vorsätzlich die allgemein anerkannte »Goldene Regel« verletzt werden soll, dann stellt sich die Frage: Wann beginnt das eigentlich?

Mit drei oder vier Jahren testen Kinder aus, welche Worte in ihrer Umgebung akzeptiert oder nicht akzeptiert werden. Mit fünf oder sechs Jahren und später in der Grundschule verwenden sie bereits Worte, um andere Kinder bewusst zu verletzen.

Im Kindergarten oder in der Familie werden Gehässigkeiten ähnlich wie körperliche Übergriffe behandelt: Man weist die Kinder auf die »Goldene Regel« hin und man verhängt im Wiederholungsfall auch Sanktionen.

Irgendwann spaltet sich dann jede Generation in zwei Teile auf: die einen haben es verinnerlicht und die anderen haben es nicht verinnerlicht.


Welche Arten der Hassrede treten im Netz auf?

In den Anfangszeiten des Internet waren fast nur Nutzerinnen und Nutzer aktiv, die die »Goldene Regel« verinnerlicht hatten. Sie haben diese Regel sogar noch erweitert: »Be conservative in what you send and liberal in what you accept from others.«

Das war im gewissen Sinne eine Elite: Ingenieure, Wissenschaftler, Studenten. Heute ist das Netz ein Spiegelbild der gesamten Gesellschaft – mit allen Vorteilen und Nachteilen.

In den sozialen Netzwerken einer freien Gesellschaft kann man heute nicht mehr davon ausgehen, dass elementare Regeln des Zusammenlebens beachtet werden. Im Netz entsteht Hassrede unter anderem aus folgenden Gründen:

  • Ausgegrenztheit: Menschen fühlen sich von der ökonomischen, sozialen und technischen Entwicklung abgehängt.
  • Unwissenheit: Menschen verstoßen gegen Regeln oder verletzen kulturelle Normen, die sie gar nicht kennen.
  • Aggressivität: Jemand zieht Befriedigung daraus, andere zu verletzen und/oder aus ihren Räumen zu verdrängen.
  • Selbstüberhöhung: Das Ich steht im Mittelpunkt. Das kann mit der Suche nach Anerkennung und der Gier nach Aufmerksamkeit verbunden sein.
  • Kalkulation: Jemand will politischen oder gesellschaftlichen Gegnern schaden, indem er Hass in die Welt setzt. In der schlimmsten Ausprägung: Hassrede unter falscher Flagge.

In all diesen Fällen ist die staatlich empfohlene Methode von »no-hate-speech.de« völlig fehl am Platze: Noch nie wurde jemand dadurch überzeugt, dass man ihn mit Sprüchen auf Bildchen wie einen Idioten behandelt und in die Ecke gestellt hat.


Wie könnte also eine nachhaltige Arbeit gegen Hassrede aussehen?

Wenn wir Gehässigkeiten nicht durch staatliche oder private Kontrolle aus der Welt schaffen können, dann müssen wir möglichst viele Nutzer

  1. psychisch so stark machen, dass sie Widerspruch, Gegenwind und auch Gehässigkeiten aushalten,
  2. technisch so kompetent machen, dass sie mit den vielen Funktionen der sozialen Netzwerke umgehen können,
  3. sozial so kompetent machen, dass sie die Ursachen für Gehässigkeiten kennen und einordnen können,
  4. rechtlich so sicher machen, dass sie ihre Pflichten und Rechte, ihre Spielräume und Grenzen kennen.

Wenn Menschen nämlich ihre Rechte kennen und wenn sie sich kompetent in sozialen Netzwerken bewegen, dann werden sie auch mit Äußerungen umgehen können, die ihnen Schmerz zufügen sollen. In den Schulen und Familien muss Medienkompetenz vermittelt werden.


Und was können wir als medienkompetente Nutzer in der Praxis tun?

Bitte erwarten Sie von mir keine Patentrezepte. In den Kommentaren können gern noch mehr Vorschläge gemacht werden.

  1. Keine Doppelstandards zulassen: Kein Zweck rechtfertigt die Verbreitung gehässiger Reden, auch nicht der edelste soziale Zweck. Es wäre anmaßend, der Gruppe A das Recht auf Gehässigkeit zuzugestehen und es der Gruppe B abzusprechen.
  2. Offen und interessiert sein: Die Wand der Filterblase sollte so dünn wie möglich sein. Man wird vielen Meinungen nicht zustimmen können, aber man sollte sie kennen. Und sei es, um ihnen kompetent entgegentreten zu können.
  3. Aufklärung: Jeder von uns ist auf mindestens einem Gebiet kompetent und kann Informationen gut einordnen. Mit relativ wenig Zeitaufwand kann man Gerüchten und Lügen entgegentreten und Wahrheit verbreiten. Gerüchte sind oft die Quelle des Hasses.
  4. Hassreden entgegetreten: Wenn Gehässigkeiten in die Timeline kommen und wenn man die Möglichkeit hat, kann man angemessen reagieren. Aber das will gut abgewogen sein.

Die Hoffnung stirbt am Ende doch nicht.


Ich danke den vielen Nutzern, die mit mir auf Twitter über die Definition von Hassrede und über die Ursachen für Hassrede diskutiert haben.



Wenn der Staat eine Kampagne gegen Hassrede in Auftrag gibt …

23. Juli 2016

Nicht erst seit Sommer 2016 beziehen Interessengruppen und staatliche Institutionen im Netz Position gegen Hassreden (hate speech) im Netz. Befürworter einer stärkeren Kontrolle des Netzes sagen: »Staat, Medien und soziale Netzwerke müssen endlich mehr gegen die Hassreden tun.« Ist das nicht ein schönes und gutes Ziel?

Ziele sollen immer spezifisch, messbar und realistisch sein. Das Ziel »Wir möchten weniger Hassrede im Netz haben« scheint mir diese Anforderungen nicht zu erfüllen. Um ein spezifisches Ziel zu setzen, müsste der Tatbestand der Hassrede erst einmal klar eingegrenzt werden. Es muss also gefragt werden: Was wollen wir eigentlich bekämpfen? Woran messen wir den Erfolg? Können wir das Ziel mit angemessenem Aufwand und legitimen Methoden erreichen?

Kritiker dieser Kampagnen geben zu bedenken, dass der vordergründig gut gemeinte Kampf gegen Hassrede zur Unterdrückung legitimer Meinungen instrumentalisiert werden kann. Sie verweisen dabei auf die Geschichte der DDR oder auf die McCarthy-Ära in den USA. Erinnerung: Obwohl die USA ein sehr freies Land sind, gab es in dieser Zeit eine Verfolgung von Andersdenkenden und eine Unterdrückung der freien Rede.


Am Freitag ist nun die staatlich geförderte Website »no-hate-speech.de« ans Netz gegangen. In den sozialen Netzwerken begann eine Kampagne zu diesem Thema und es gab viele erstaunlich sachliche Diskussionen. Ich werde in diesem Artikel zunächst einen speziellen Punkt (Hassrede gegen die Religion) herausgreifen und danach das gesamte Konzept der Seite kritisch betrachten.

Grundsätzlich hat es mich positiv überrascht, dass die Betreiber der Seite einige Mitarbeiter für einen echten Dialog eingesetzt haben und ohne Ironie will ich auch anerkennen: Die meisten Social-Media-Mitarbeiter haben sich Mühe gegeben, viele von ihnen haben einen ganzen Tag lang sachlich diskutiert.

Leider ist die Website inhaltlich in mehreren Punkten sehr schwach und ich möchte nicht in der Haut derer stecken, die sie verteidigen müssen. Die Mitarbeiter stießen inhaltlich sehr schnell an Grenzen und waren ihrer Aufgabe zum Teil überhaupt nicht gewachsen. Sie formulierten via Twitter unerreichbare Ziele wie etwa

»Wir wollen, dass alle Menschen vor Diskriminierung auch im Netz sicher sind.«

Sie konnten oder wollten nicht erkennen, dass das notwendigerweise zu Zielkonflikten führen muss. Es ist nämlich auch eine Diskriminierung, wenn Kritik, Karikaturen oder Satire unterbunden werden, weil sich jemand dadurch »gehasst« fühlen könnte.


Mich haben vor allem die Argumente zum Thema Religion interessiert, weil ich in einer sehr speziellen Religionsgemeinschaft aufgewachsen bin und weil mich die (sachliche) Auseinandersetzung mit Religionen mein Leben lang begleitet hat.

Die Herausgeber der Seite sind der Auffassung, dass es einen »antimuslimischen Rassismus« gibt und dass sich dieser in Hassreden äußert. Das folgt allerdings einer sehr weit gefassten und allenfalls in Nischen anerkannten Definition von Rassismus.

Das Thema Religion hat nichts mit einer »Rasse« oder einer ethnischen Gruppe zu tun. Ein Deutscher kann zum Muslim werden, eine Syrerin kann zum Christentum konvertieren, ohne dass sie ihre ethnische Gruppe verlassen. Religion ist kein unveränderliches Merkmal des Menschen (wie Hautfarbe oder Abstammung).

Auf Anfragen via Twitter verwiesen die Mitarbeiter der Seite zunächst auf die (nicht zitierfähige) Wikipedia, später auf die Definition der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb).

Ironischerweise ist die Religion in der offiziellen Definition der bpb gerade nicht enthalten. Dort heißt es, dass Rassismus »eine Homogenität biologischer Rassen aufgrund äußerlicher Unterschiede von Menschen (wie z. B. der Hautfarbe)« unterstellt. Und in der Folge:

Den so konstruierten Gruppen werden fälschlicherweise bestimmte Wesenszüge und Charaktereigenschaften zugeschrieben. Diese werden in Bezug auf die eigene Gruppe überhöht und in Bezug auf andere Personen oder Gruppen abgewertet. Der Rassismus fördert damit das eigene Überlegenheitsgefühl und erzeugt Vorurteile, Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber anderen Menschen und führt zu sozialer Ausgrenzung.

Diese Definition hat sich in der Öffentlichkeit allgemein durchgesetzt. Niemand würde ernsthaft von einem »antichristlichen« oder »antibuddhistischen« Rassismus sprechen. Der Antisemitismus ist dagegen zweifellos eine Form des Rassismus, weil er sich gegen alle Juden unabhängig von ihrer Weltanschauung richtet.


In Deutschland und in anderen freien Gesellschaften wird das Christentum aufs Schärfste kritisiert und von manchen Menschen auch gehasst, aber niemand käme auf die Idee, dies als »antichristlichen Rassismus« zu bezeichnen.

(Es gibt in einigen Ländern der Welt eine Verfolgung von Christen, die durch Mord, Gewalt, Enteignung und Ausweisung geprägt kann. Ursache dieser Verfolgung ist dann aber kein Rassismus, sondern die totalitäre Durchsetzung der Herrschaft des Islam.)

Die Betreiber der Seite no-hate-speech.de haben auf ein Dokument verwiesen, in der dieser »antimuslimischen Rassismus« definiert werden soll. Dort heißt es:

Islamfeindliche Inhalte kennzeichnet, dass sie den Islam als Religion ablehnen oder abwerten. Sie münden oft in muslimenfeindlichen oder antimuslimischen Äußerungen und Reaktionen, also einer generell feindseligen Haltung gegenüber Muslimen.

Darf man Religionen denn bewerten oder gar ablehnen? Im Grundgesetz wird die positive und negative Religionsfreiheit garantiert. Negative Religionsfreiheit beinhaltet das Recht, jede Religion oder einzelne Religionen abzulehnen und natürlich auch zu bewerten.

Somit läuft der Versuch der Definition eines »antimuslimischen Rassismus« ins Leere. Eine bessere und vor allem in der Öffentlichkeit anerkannte Definition konnte mir bisher niemand zeigen – die Mitarbeiter von »no-hate-speech.de« haben sich solchen Fragen einfach verweigert.

Das Grundgesetz erlaubt jedenfalls eindeutig eine kritische Auseinandersetzung auch mit dem Islam. Die Grenzen dieser Auseinandersetzung sind in unseren Gesetzen festgelegt. Verboten sind etwa klar volksverhetzende Äußerungen, üble Nachrede oder die persönliche Beleidigung einzelner Muslime.


Es ist nachvollziehbar, dass sich tief religiöse Christen, Muslime oder Juden von Kritik an ihrer Religion und mehr noch von der Schmähung ihrer Religionen getroffen fühlen. Ich habe das erlebt: In meiner Kindheit und Jugend wurde ich für meine damalige Religionsgemeinschaft verspottet, obwohl ich sie mir sicher nicht ausgewählt hatte.

Jede Kritik an der Religion kann von streng religiösen Menschen als Hassrede interpretiert werden – in Fragen der Weltanschauung und des Glaubens sind viele Menschen sehr empfindlich. Es kann aber nicht die Lösung sein, dass Religionsgemeinschaften selbst definieren, was sie als inakzeptabel betrachten.

Die Reaktion auf Religionskritik kann auf keinen Fall sein, den Kritikern den Mund zu verbieten oder ihnen immer engere Grenzen zu setzen. Sie kann nur darin bestehen, dass die Gläubigen lernen, mit den Freiheiten unserer Gesellschaft umzugehen.


Stellt sich die Frage: Welche Lösung haben denn nun die Betreiber der Seite no-hate-speech.de als Antwort auf Kritik parat? Ich will das an einem kurzen Dialog zeigen. Jemand postet auf Twitter ein Bild, auf dem Muslime Plakate mit Todesdrohungen gegen »Ungläubige« zeigen. Der »Konter gegen Hassrede« soll nun ein Bild mit folgendem Motto sein:

»Hat ein anti-islamisches Meme gesehen – Ist jetzt Islam-Experte.«

Es gibt in einer Zusammenstellung zum Thema Islam ähnliche Bilder für andere Anlässe: Weist z.B. jemand darauf hin, dass im Iran oder in Saudi-Arabien rigide islamische Kleidungsvorschriften gelten und brutal durchgesetzt werden, soll man ihm wohl ein Bild der Königin Elisabeth mit Kopftuch oder das Bild einer überzeugten Kopftuchträgerin entgegenhalten. Das ist völlig absurd.

Die Seite mit den Argumenten zum »antimuslimischen Rassismus« ist in jeder Hinsicht eine bedauernswerte Fehlleistung. Weder wird dort sachlich argumentiert, noch sind die »Konter-Memes« geeignet, für mehr Sachlichkeit und Ruhe im Netz zu sorgen. Im Gegenteil: Viele davon sind geeignet, die Spannungen zu verschärfen, weil die Adressaten sich verhöhnt vorkommen. Außerdem beleidigen sie die Intelligenz.


Damit zurück zur Gesamtkonzeption der Seite. Bereits kurz nach der Veröffentlichung wurde Kritik an der Auswahl der Themen geübt. Der linksradikale Hass gegen Teile unserer eigenen Bevölkerung, der Hass von Autonomen gegen Polizisten oder auch der Hass gegen Christen wird überhaupt nicht thematisiert.

Der Hass der radikalen Islamisten auf alle freiheitlichen Menschen wird erst recht nicht thematisiert – das könnte ja als »antimuslimischer Rassismus« gewertet werden?

Es gibt nach wie vor keine Definition für »hate speech« und keinerlei Abgrenzung des »hate speech« von der legitimen freien Meinungsäußerung. Diese Abgrenzung kann und darf in einem Rechtsstaat nicht allein Sache der Betroffenen sein, denn damit werden die Grundrechte anderer Beteiligter eingeschränkt. Das Netz hat dafür den ironischen Spruch »Your rights end where my feelings begin« geprägt.

Die meisten Meme-Bildchen zeigen eine Antwort in der Art: »Du hast mit etwas gezeigt, was ich nicht in Ordnung finde. Dafür zeige ich dir jetzt, dass ich dich für einen Idioten halte.« So zu antworten ist aber einfach nur dumm und wird den Hass im Netz eher noch verstärken.


Die Mitarbeiter des Familienministeriums als Auftraggeber der Kampagne flüchteten sich bei Nachfragen auf Twitter oft in allgemeine Aussagen wie: »Es gibt keine eindeutige Definition. Aber Volksverhetzung, Beleidigung, Verleumdung oder üble Nachrede sind strafbar.« (aus diesem Dialog). Strafbare Äußerungen können natürlich durch Hass motiviert sein – dagegen helfen allerdings keine »Meme«-Bildchen, sondern nur Anzeigen und rechtsstaatliche Verfahren.

Grundsätzlich gilt: Die Parteinahme des Staates für oder gegen bestimmte Äußerungen muss einheitlichen Grundsätzen folgen. Dabei müssen alle Interessengruppen in gleicher Weise behandelt werden. Grundrechte sind sorgfältig gegeneinander abzuwägen.

Gefährlich wird es immer dann, wenn Interessengruppen oder Politiker ohne klare Definition aus dem Bauch heraus erklären: Aussage A ist Hassrede, Aussage B ist akzeptabel. Denn dann besteht die Gefahr, dass auch legitime Meinungen und Werturteile unterdrückt werden, die in der Nähe der Aussage A liegen.

Wenn man wirklich eine Seite für besseres Benehmen und weniger Hassrede ins Netz stellen will, dann muss sie überparteilich und unabhängig sein. Sie darf nicht auf willkürlich ausgewählten Negativbeispielen beruhen. Es muss klare Grundsätze geben und diese Grundsätze müssen für alle Beteiligten gelten.

Die Seite »no-hate-speech.de« ist in dieser Form bestenfalls ein Beispiel für die nutzlose Symbolpolitik des BMFSFJ. Dann wäre es schade um das Steuergeld. Sie ist schlimmstenfalls der Einstieg in eine Kontrolle der öffentlichen Meinung im Netz. Dann wäre es schade um unsere Freiheit.



Schuldig aufgrund seiner Verbindungen

22. Juli 2016

Es gibt ein Muster, das sich in allen totalitären Herrschaftsformen wiederfindet: im Stalinismus, im Maoismus, im SED-Staat oder in Nordkorea. Kurz gefasst:

Wenn man eine unbequeme Person nicht aufgrund ihrer Taten kaltstellen kann, dann sucht man nach Verbindungen mit den bereits überführten Schurken oder man konstruiert Verbindungen mit dunklen Mächten. Diese Person muss dann selbst gar nichts Illegales getan haben – allein die Verbindung reicht.


Wir leben nicht in der DDR Erich Mielkes, in der UdSSR der Stalinzeit oder in der Türkei der Erdogan-Herrschaft. Aber eine ähnliche Methode wird auch in unserer Demokratie mit ihrer sehr weit reichenden Meinungsfreiheit verwendet, um Menschen ins Abseits zu stellen oder um zumindest auf billige Weise einen Wirkungstreffer zu landen. Die Argumentation geht so:

»Was mein Kontrahent schrieb, wurde kurze Zeit später von einem Vertreter der XYZ zitiert. Ist das die Art von Journalist, der Sie Ihr Vertrauen schenken wollen?«

Es wäre nach dem gestrigen Abend sehr einfach, mit dem Zeigefinger auf einen Journalisten zu zeigen, der diese Methode gerade mit wenig Erfolg an einem Kontrahenten ausprobiert hat. Die viel interessantere Frage lautet doch: Bin ich selbst gegen diese Versuchung immun?


Ein Beispiel: Ist es mehr als 25 Jahre nach der Wende noch sinnvoll und angemessen, auf die Mitarbeit einer Person für das MfS der DDR zu verweisen? Ich frage das als ehemaliger Student, der in einer Evangelischen Studentengemeinde das Ziel von MfS-Bespitzelungen war.

Ich hatte Glück: Ein Jahr später kam die friedliche Revolution. Viele andere hatten kein Glück: sie traf zwangsweise Exmatrikulation, ein Berufsverbot oder gar politische Haft und Abschiebung in den Westen. Ich kann verstehen, dass einige Leute immer noch fordern: »Keine Vertrauenspositionen und kein Staatsgeld für ehemalige IM!«

Aber die DDR hat verloren. Das MfS hat verloren. Die roten Agitatoren haben verloren. Heute ist es wichtig, dass die Agitatoren der Gegenwart keine Macht über uns gewinnen. Dabei ist die Vergangenheit für mich eher zweitrangig.

Die große Mehrheit dieser Agitatoren war nämlich niemals beim MfS oder in der SED. Argumentiert man nun, dass eine Person vor Jahrzehnten für das MfS tätig war, ist das noch kein gültiges inhaltliches Gegenargument gegen aktuelle Agitation und Propaganda. Es ist streng genommen nur ein Argument gegen die Person.

Dieses Argument kann Gewicht haben, wenn z. B. Funktionen oder Vertrauenspositionen besetzt werden, die der Staat direkt oder indirekt bezahlt. Aber inhaltlich ist »Person X hat Unrecht, weil sie vor vielen Jahren für das MfS gearbeitet hat!« noch kein Argument.

Das wollte ich nur gesagt haben. Ich werde jetzt meine Tweets nicht »säubern«, in denen ich sicher auch schon auf Aspekte der DDR-Vergangenheit hingewiesen habe. Aber ich will in Zukunft den aktuellen Inhalt höher als die verfaulenden Akten der alten DDR gewichten – damit wir nicht in den nächsten Totalitarismus abrutschen.



Mathematische und statistische Modelle für menschliches Verhalten

21. Juli 2016

Anlässe dieses Artikels sind: ein lauter Stoßseufzer von Wolf Lotter auf Twitter, eine heiße Vollmondnacht, sowie Schlaflosigkeit nach einem wunderbaren Abendmenü, in dem gegrillter Fisch und mediterranes Gemüse eine wichtige Rolle spielten. Es ist lange nach drei Uhr nachts …


Wolf Lotters Tweet-Stoßseufzer:

Kann bitte, bitte, bitte jemand deutschen Sozialwissenschaftlern erkläre, was ein Homo Oeconomicus ist – und vor allem: Was nicht. 1001 Dank!

Und etwas später:

… und dann gibt es Leute, die glauben, der HO ist alt, weiss, männlich, habgierig und ein Carnivore.


Dann kamen einige interessante Fragen auf, die in diesem Thread nachzulesen sind. Zusammengefasst:

  1. Kann man mit dem »Homo oeconomicus« auch Handlungen erklären, die vorwiegend intrinsisch motiviert sind?
  2. Wie müsste dann die Nutzenfunktion aussehen?
  3. Kann man das Vermeiden von Schäden erklären? Meist geht es doch nur um den Nutzen?

Im Grunde geht es eigentlich darum: Kann man mit mathematischen und statistischen Modellen soziales Verhalten beschreiben? Wo liegen die Grenzen der Anwendung solcher Modelle? Ist es berechtigt, wenn sich Sozialwissenschaftler darüber echauffieren?


Wenn ich an solche Modelle denke, fällt mir nicht zuerst der Homo oeconomicus ein, zu dem Felix @Bruck in der Diskussion schon einige kluge Sätze schrieb. Seine drei Tweets zusammengefasst:

Der Homo oeconomicus ist zunächst einmal eine abstrakte Modellkonstruktion, er hat nicht den Anspruch, menschliches Verhalten in der ganzen Komplexität zu erklären. Und noch weniger ist er ein Verhaltensmaßstab, an dem sich alle zu orientieren haben. Leider gibt es Ökonomen, die das glauben.


Ich denke bei solchen Modellen zuerst an die Einordnung von Menschen nach soziodemographischen Eigenschaften und Kaufkraft in die Sinus-Milieus. Damit ist nämlich auch eine Frage von @dieterjosef zumindest halb beantwortet: Ja, man kann intrinisische Motivation in solche Modelle einbeziehen.

Da das Sinus-Modell urheberrechtlich geschützt ist, verweise ich auf die Seite des Sinus-Instituts [Einteilung für Deutschland] und die Wikipedia-Seite zu den Sinus-Milieus.

Es ist klar, dass diese Milieus eine Vereinfachung darstellen. Menschen sind sehr komplexe Wesen und ihre langfristigen Entscheidungen (etwa: für ein Auto, einen Motorroller, ein Fahrrad oder eine Jahreskarte des ÖPNV zur Fortbewegung in der Großstadt) sind eben nicht aus ihrer Zugehörigkeit zu einem der Milieus endgültig erklärbar.

Selbstverständlich könnten sich nun Sozialwissenschaftler darüber echauffieren, mit welch simplen und banalen Methoden die Marktforschung arbeitet. Aber das wäre wahlweise nur schlechtes Theater oder Ignoranz, denn die Modelle sind einfach nicht für eine qualitative Sozialforschung gemacht, etwa zur umfassenden Erklärung der Motivation menschlicher Entscheidungen.

Das Sinus-Modell enthält z.B. nicht das Geschlecht und die sexuelle Orientierung eines Menschen. Es gibt aber Entscheidungen, die dadurch beeinflusst werden und wahrscheinlich »verlassen« dann einige Akteure auch ihr Milieu. Trotzdem sind die Schöpfer des Modells überzeugt:

Mit den Sinus-Milieus versteht man, was die Menschen bewegt und wie sie bewegt werden können. Denn die Sinus-Milieus nehmen die Menschen ganzheitlich wahr, im Bezugssystem all dessen, was für ihr Leben Bedeutung hat.

Das stimmt in dieser Schärfe nicht. Modelle sind immer Vereinfachungen – aber sie können trotzdem zum Verständnis beitragen. So ist es mit den Sinus-Milieus, mit dem Homo oeconomicus und den Kostenfunktionen. So ist es mit vielen anderen mathematischen Funktionen oder statistischen Modellen.


Man muss als Befürworter und als Kritiker einfach die Grenzen und die Anwendbarkeit der Modelle kennen. Man muss anderen Wissenschaftszweigen und anderen Wissenschaftlern die Fairness entgegenbringen, die man für sich selbst erwartet.

Nein, der Homo oeconomicus ist kein Modell, mit dem man den Menschen vollständig beschreiben könnte. Er ist aber auch keine Strohpuppe, in deren Gestalt man die gesamte Theorie zum Modellieren ökonomischer Entscheidungen verbrennen kann.

Als Strohpuppe wird der Homo oeconomicus so beschrieben: Er ist ein eiskalter Egoist, der aus allen Situationen für sich den maximalen [finanziellen] Nutzen herausholt. [Verschwiegen wird beim Strohpuppenbasteln auch, dass der Homo oeconomicus spenden kann.]

Man kann man das Modell aber erweitern: Mehrere Akteure können eine Balance zwischen Konkurrenz und Kooperation finden. Unkooperatives Verhalten wird dann bestraft, weil es allen schadet [was die Strohpuppenbastler natürlich negieren].

Außerdem kann in einer Marktwirtschaft jeder Akteur sowohl Anbieter, als auch Nachfrager sein. Auch auf diese Weise wird rein egoistisches Verhalten relativ wirksam verhindert. Nicht zu vergessen: Menschen geben sich Regeln und Rahmen vor. Also lassen wir die Kirche im Dorf – und der Homo stefanolix geht jetzt doch mal schlafen ;-)


Hinweis: Ergänzungen in eckigen Klammern wurden am Morgen danach u. a. aufgrund einiger Hinweise via Twitter eingefügt.



Die Überwachung der sozialen Medien als Gefahr für die Demokratie

18. Juli 2016

Meinungsfreiheit ist eine Lebensgrundlage der Demokratie. So wie ein Mensch nicht mit einem halben Herzen leben kann, kann auch eine Demokratie nicht mit geteilter Meinungsfreiheit leben.

Der deutsche Justizminister Heiko Maas hat laut Pressemeldungen an Facebook geschrieben:

»Das Ergebnis Ihrer Anstrengungen bleibt bisher hinter dem zurück, was wir in der Task Force gemeinsam verabredet haben. […] Es wird noch immer zu wenig, zu langsam und zu oft auch das Falsche gelöscht.«

Diese Äußerung des Justizminister kann man als problematisch für die Meinungsfreiheit betrachten, denn eine »Task Force« ist kein Organ des demokratischen Rechtsstaats. Sie ist auch nicht dazu befugt, über die »Zulässigkeit« von Äußerungen oder über die »Richtigkeit« von Löschungen zu urteilen.

Facebook hat auf seinen Plattformen grundsätzlich das »Hausrecht« und kann somit Äußerungen zulassen oder unterdrücken. Dann hat aber auch ein Minister nicht darüber zu befinden, ob Löschungen »richtig« oder »falsch« sind. Das ist die Aufgabe der Gerichtsbarkeit.


Mit dem deutschen Grundgesetz sind Einschränkungen der Meinungsfreiheit nur im Ausnahmefall vereinbar. Der § 130 StGB definiert Volksverhetzung in den Absätzen 1, 3 und 4 als ein Äußerungsdelikt, das »geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören«.

Der Begriff der Äußerung ist sehr weit gefasst: dazu gehören Schriften, gesprochenes Wort, Bilder, Karikaturen, Gesten und symbolische Handlungen. In der heutigen Zeit also auch öffentliche Facebook-Artikel, Blogbeiträge und Tweets.

Wenn man diesen Paragraphen unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit betrachtet, wird schnell klar, wie weit dehnbar er ist. Zum einen muss die Äußerung in der Öffentlichkeit wirksam sein. Zum anderen muss sie geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. Mit diesem Paragraphen muss also sehr verantwortungsbewusst umgegangen werden, denn er ist sehr anfällig für Missbrauch.


Über umstrittene Äußerungen müssen im Zweifel Gerichte befinden. Einige Äußerungen wurden dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Am bekanntesten sind die Urteile von 1992, 1994 und 1995 über die Äußerung »Soldaten sind Mörder«.

Ich war 1995 am Ende meiner Studienzeit und ich war auf der einen Seite sehr stolz, in einer Gesellschaft zu leben, in der so frei geredet werden durfte. Auf der anderen Seite war mir bewusst, dass es auch nach dem Kalten Krieg eine Bundeswehr geben musste, um das Land zu verteidigen und die Bündnispflichten zu erfüllen. Es war schwer zu akzeptieren, dass die Soldaten eine Parlamentsarmee pauschal als Mörder bezeichnet werden duften.

Was viele nicht mehr wissen: Es gab nach den Urteilen aus Karlsruhe im Parlament eine Abwägung zwischen dem Ehrenschutz für die Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der Bundeswehr und der freien Meinungsäußerung. Die CDU scheiterte mit einem Gesetzentwurf, nach dem jemand bestraft werden sollte, der

Soldaten in Beziehung auf ihren Dienst in einer Weise verunglimpft, die geeignet ist, das Ansehen der Bundeswehr oder ihrer Soldaten in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen […]

Auch in diesem Fall hätten sich Staatsanwaltschaften und Gerichte mit jeder einzelnen Äußerung befassen müssen.


Der Rechtsstaat hat vor kurzem Ermittlungen wegen Volksverhetzung gegen die Mitglieder einer geschlossenen Facebook-Gruppe aufgenommen. Dabei wurden auch Wohnungen durchsucht, Rechner beschlagnahmt und Informationen zur Kommunikation in der Gruppe gesichert.

Dieses rechtsstaatliche Verfahren ist richtig: Es gab einen Anfangsverdacht, es gab Ermittlungen, es gibt nun ein Verfahren.

Problematisch wird es aber, wenn der Justizminister und seine Task Force ein privates Unternehmen zur Löschung von Meinungsäußerungen drängen, ohne dass ein rechtsstaatliches Verfahren geführt wird.

Was dabei in der Endkonsequenz gefordert wird, ist ein umfassender Überwachungsapparat für Facebook und andere soziale Netzwerke. Sehr viele Mitarbeiter müssten in Vollzeit mit dem Beurteilen von Kommentaren oder Artikeln beschäftigt werden.

Bestimmte Interessengruppen signalisieren bereits, wie weit Hassrede ihrer Meinung nach gehen könnte. Setzten sie sich durch, käme es zu gravierenden einseitigen Beschränkungen der Meinungsfreiheit und der Überwachungsapparat müsste stark erweitert werden. Alle bürokratischen Apparate haben immer die Tendenz, zu wachsen und neue Kompetenzen an sich zu ziehen.


Deshalb ist es hochproblematisch, wenn der Straftatbestand der Volksverhetzung mit dem rechtlich unbestimmten Begriff der sogenannten »Hassrede« vermischt wird. Das geschah, nachdem die Ermittlungen gegen die rechtsextreme geschlossene Facebook-Gruppe bekannt wurden. In diesem Sinne äußerten sich etwa der Minister Heiko Maas:

Heiko Maas twitterte am 13. Juli:

Entschlossenes Vorgehen gegen #Hasspostings sollte jedem noch mal zu denken geben, bevor er in die Tasten haut.


Der Begriff »Hassrede« ist juristisch nicht klar definiert. »Hassrede« ist im ersten Ansatz eine Äußerung, die bei einigen oder auch bei vielen Menschen Ablehnung und Entrüstung hervorruft, weil bestimmte Werte verletzt wurden.

Nach dieser Definition wäre aber der Spruch »Soldaten sind Mörder« ebenfalls eine Hassrede, genauso wie die Sprüche im »#Bombergate« gegen die Dresdner Bevölkerung oder die permanente linksextreme Gewalthetze gegen Polizisten. Es wird immer derart polarisierende und umstrittene Äußerungen geben.

Wenn Grundrechte miteinander kollidieren (im Fall des Soldatenurteils: die Würde der Soldaten mit der freien Meinungsäußerung), hat das Bundesverfassungsgericht meist geurteilt, dass die Meinungsfreiheit sehr hoch zu gewichten ist.

Auch wenn es manchmal richtig weh tut: Kontroverse Äußerungen und auch offensichtlich mit Hass oder Abwertung erfüllte Reden müssen in einer Gesellschaft mit Meinungsfreiheit ausgehalten werden. In den seltenen Fällen, die wirklich Volksverhetzung sind, muss der Rechtsstaat entscheiden. Denn eine zu stark beschnittene Meinungsfreiheit ist keine mehr. Womit wir wieder beim Vergleich mit dem Herzen des Menschen sind …


Nachgetragene Links:

Die Überwachung unserer Gesinnung ist aus anderer Perspektive auch ein Thema in Don Alphonsos FAZ-Blog (17.07.2016).

Die FAZ berichtet in einem kurzen Artikel über Heiko Maas‘ Äußerungen. Sie geht dabei auch darauf ein, dass Maas mit stärkerer Regulierung droht. Wie soll diese Regulierung aussehen – ohne dass man einen Überwachungsapparat installiert? Für Demokraten ist das ein Alptraum.



Konzentration

16. Juli 2016

Ich mache es kurz: aus persönlichen und beruflichen Gründen werde ich in den nächsten Monaten seltener twittern und kommentieren. Ich habe heute bei Hamed Abdel-Samad diese Worte gelesen, die mir aus der Seele sprechen:

Man muss nicht zu allem Stellung nehmen. Ich versuche mich seit Monaten aus den täglichen Debatten zurückzuziehen, weil sie meine Energie rauben und die Welt um mich immer mehr als einen hässlichen Ort erscheinen lassen. […] Ich bin ratlos und weiß ehrlich gesagt nicht, was wir gerade brauchen, um solche Tragödien zu überwinden und deren Wiederholung zu verhindern.

Mir geht es seit einiger Zeit ähnlich. Ich habe auch lange darüber nachgedacht, die Zeit in den sozialen Netzwerken zu reduzieren. Es ist einerseits spannend: Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument oft im Sekundentakt. Es ist aber andererseits auch aufwendig.

Ich gehe nicht ganz weg. Aber ich will einfach wieder mehr Themen für einen Artikel im Blog recherchieren oder auch mal ein gutes Buch lesen. Mein Motto bleibt trotz Krisen und Unruhen: »Die Hoffnung stirbt zuletzt doch nicht.«


Hamed Abdel-Samad fährt in seinem Artikel zu Nizza fort:

Ich brauche aber meine Energie, um zu schreiben und um das, was immer noch in dieser Welt genießbar ist, zu genießen!

Jetzt kommt der berufliche Grund: Ich habe in dieser Woche das OK für einen Programmierauftrag bekommen. Das Programm wird Technikern eines Unternehmens die Arbeit erleichtern. Je eher desto besser. Deshalb haben wir einen anspruchsvollen (aber realistischen) Zeitplan festgelegt. Parallel muss ich Fachtexte schreiben und fremde Fachtexte bearbeiten.


Wir sehen uns.



Warum mir Fußball ab der Halbzeitpause egal war

7. Juli 2016

Es war der Bericht in den ZDF-Nachrichten über die beiden getöteten Schwarzen (bei den Polizeieinsätzen in den USA). Das ist so extrem bitter. Einen Menschen auf diese Weise zu erschießen, der wirklich gar keine Möglichkeit hat, die Polizisten bei ihrem Einsatz anzugreifen.


Fehlerkorrektur

1. Juli 2016

Wer Medien und Politiker kritisiert, muss mit eigenen Fehlern transparent umgehen. Deshalb weise ich darauf hin, dass ich in meinem ersten Artikel zur Studie »Die enthemmte Mitte« einen inhaltlichen Fehler korrigiert habe. Die Ergänzung ist gekennzeichnet.