Wie hätte eine mutige Rede zur Verleihung des Friedenspreises ausgesehen?

25. Oktober 2016

Carolin Emcke hat eine rhetorisch gute Rede zur Verleihung des Friedenspreises gehalten. Alles was sie sagte, war richtig. Der Beifall ihres handverlesenen Publikums war groß und angemessen.

Carolin Emcke hat gut und richtig geredet – aber es war keine gute und richtige Rede. Eine gute und richtige Rede wäre es gewesen, wenn sie ihrem Publikum Widersprüche offengelegt und Lösungsansätze vorgeschlagen hätte.

Carolin Emckes Rede wurde aber von vielen Medien als gute und richtige Rede interpretiert. Hat sie nicht das Banner der Menschenrechte hochgehalten? Hat sie nicht den Respekt vor jedem Menschen betont – unabhängig von der Hautfarbe, sexuellen Orientierung und Religion?

Das ist alles richtig. Aber: Mutig wäre die Rede gewesen, wenn sie die Zielkonflikte zwischen den idealen Menschenrechten benannt und vielleicht gar Ansätze zur Lösung gezeigt hätte.


Es gibt den Konflikt zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Respekt vor den Überzeugungen des einzelnen Bürgers. In einer Gesellschaft mit freier Meinungsäußerung wird es immer Ansichten geben, die Einzelne oder ganze Gruppen verletzen. Um es deutlich zu sagen: Damit sind keine vorsätzlichen Beleidigungen gemeint, sondern öffentlich geäußerte legitime Überzeugungen etwa zur Weltanschauung und Religion.

Davon war in der Rede aber nichts zu hören. Für Carolin Emcke gibt es auf der einen Seite die Anschauungen der vielfältigen Guten und auf der anderen Seite die Anschauungen der einfältigen Bösen.


Es gibt den Konflikt zwischen dem Respekt vor der Religion und dem Respekt vor der sexuellen Orientierung eines Menschen: Wenn im Namen der Religion Homosexuelle diskriminiert, ausgegrenzt, verfolgt und gar hingerichtet werden, müssen wir abwägen, ob nun die Religionsfreiheit oder die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung wichtiger ist.

Davon war in der Rede aber nichts zu hören. Carolin Emcke hätte daran erinnern können, dass unsere Gesellschaft gegenüber allen Zuwanderern (auch aus unaufgeklärten Verhältnissen) den unbedingten Respekt vor der sexuellen Selbstbestimmung durchsetzen muss. Was wiederum den Schutz der Rechte der Kinder und Abhängigen einschließt. Noch so ein Konflikt, an den nicht jeder gern erinnert wird.


Es gibt den Konflikt zwischen den Grundrechten und ihrer Ausgestaltung im Rechtsstaat. Drastisch erkennbar ist er am Gegensatz zwischen dem Grundrecht auf Asyl bei politischer Verfolgung und dem hunderttausendfachen Missbrauch der Asyl-Verwaltungsverfahren.

Schon heute ist der Asylartikel im Grundgesetz eingeschränkt und der Widerspruch zwischen einem Grundrecht und dessen Ausgestaltung liegt schriftlich vor uns. Auch davon war in der Rede aber nichts zu hören.

Auch wenn Deutschland inzwischen sehr viel für Flüchtlinge überall auf der Welt tut, auch wenn Deutschland in Zukunft mehr für die Verbesserung der Lebensverhältnisse in armen Staaten tun muss: eine ungeregelte Zuwanderung nach Deutschland wäre das Ende der sozialen Marktwirtschaft, die wir in diesem Land aufgebaut haben.

Zuwanderung braucht Regeln, Regeln brauchen Durchsetzung – und schon sind die Menschenrechte nicht mehr so ideal und ungeteilt, wie sie in Carolin Emckes Rede scheinen sollten.


Es wäre eine mutige Rede gewesen, wenn die Rednerin die Widersprüche zwischen den Idealen und die Widersprüche zwischen Idealen und Wirklichkeit in den Mittelpunkt gestellt hätte.

Es wäre eine mutige Rede gewesen, wenn wir gehört hätten, was sich in unserem Land in Zukunft ändern soll – und was sich nicht ändern darf, wenn wir eine freie Gesellschaft bleiben wollen.

Es ist eben noch lange keine mutige Rede, wenn jemand einem handverlesenen Elite-Publikum zum tausendsten Mal die Ideale erläutert. Wir leben nicht in einer idealen und widerspruchsfreien Welt. Um das zu erkennen, muss man nur mit offenen Augen vom Ort der Rede bis zum Frankfurter Hauptbahnhof laufen.


Links (werden ergänzt):

Die Meinung eines ZEIT-Autors zu Carolin Emckes Credo und ihrem letztem Buch.

Thomas Fischer schreibt in der Einleitung zu seiner aktuellen Kolumne über die Preisträgerin.

Die SPON-Kolumnistin Margarete Stokowski ist dezidiert anderer Meinung und verteidigt die Rede.


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Vergiftete Geschenke?

18. Oktober 2016

Don Alphonso hat in seinem letzten Beitrag den Beitrag bei »Read on, my dear« über die »vergifteten Äpfel« empfohlen. Ich lese diesen Text als Beispiel dafür, wie sehr politische Debatten schaden können, wenn sie uninformiert und populistisch geführt werden. Am Ende leiden immer diejenigen, die am wenigsten dafür können.

Wenn die große Politik in das Leben der kleinen Schwester eingreift, kann man das aus mehreren Perspektiven sehen: aus der Sicht der EU, aus der Sicht verschiedener Interessengruppen, aus nationaler und regionaler Sicht. Man kann die Auswirkungen auf die Kommune, die Schule und den einzelnen Menschen betrachten.

Bitte lesen Sie zuerst die Sicht der direkt Betroffenen (der großen und der kleinen Schwester), wenn Sie den Text noch nicht kennen. Ich will versuchen, auch andere Perspektiven zu zeigen. Gehen wir dazu zurück in die Jahre 2008/09.


In Deutschland war das »EU-Schulobst- und -gemüseprogramm« von Anfang an umstritten. Die Bundesländer wollten damals politisch durchsetzen, dass der Bund den nationalen Eigenanteil allein trägt. Daraus wurde allerdings nichts. Die Teilnahme ist den Bundesländern freigestellt.

Der Freistaat Sachsen teilte damals mit, dass er sich nicht am Schulobstprogramm der EU beteiligen würde:

Für die Umsetzung des Programms würden in Sachsen pro Kind im Alter von sechs bis zehn Jahren im Schuljahr maximal 9,45 Euro zur Verfügung stehen. »Das wären ganze 24 Cent pro Woche. Was das an Portionen Obst bedeutet, kann jeder bei einem Besuch beim Obsthändler selbst herausfinden«, so Kupfer weiter. Empfohlen für eine gesunde Ernährung werden fünf Portionen pro Tag, also 35 Portionen pro Woche.

Politiker der LINKEN in Sachsen begrüßen das Programm als soziale Maßnahme und als Maßnahme der Gesundheitsförderung im Kinder- und Jugendalter. Das Fördergeld sei nun einmal vorhanden und müsse genutzt werden:

Ich bedauere es daher sehr, dass die schwarz-rote Koalition zum x-ten Mal die Kofinanzierung für dieses EU-Programm ablehnt. Deutschland erhält mittlerweile 28 Mio. Euro Förderung pro Schuljahr. Sächsische Schulen können leider dieses seit 2009 bestehende EU-Programm nicht nutzen.


Kritisiert wurde das Programm von liberalen Politikern: wegen des hohen bürokratischen Aufwands und wegen der Eingriffe in den Markt. Sie sahen außerdem das Subsidiaritätsprinzip verletzt:

Jede Kommune, jedes Bundesland, jede Region soll ihre Aufgaben zunächst einmal selbst lösen. Die höhere Ebene (Nationalstaat, EU) soll nur für die politischen Aufgaben zuständig sein, die die untergeordneten Ebenen nicht lösen können.

In der Realität ziehen aber die höheren Ebenen immer mehr Macht, Geld und Einfluss an sich. Wenn Äpfel für das Schulfrühstück, Interrail-Tickets oder andere Wohltaten von ganz oben verteilt werden, ist das mit viel bürokratischem Aufwand verbunden und der Wirkungsgrad sinkt.


Eine Kritik der liberalen Blogger aus der Zeit um 2008/09 will ich auch nicht verschweigen: Wir sahen es als bevormundend an, den Familien vorzuschreiben, was die Kinder in der Schule essen sollen. Diese Form des Paternalismus empfanden wir als Anmaßung von Wissen.

Ich sehe das heute nicht mehr ganz so streng – Empfehlungen und Unterstützung können Kindern aus Familien mit geringem Einkommen helfen. Zuständig sollten aber auf jeden Fall die private, kommunale und allenfalls die regionale Ebene sein. Die EU-Ebene muss nicht die Verteilung von Obst an Schulen in NRW, Bayern oder Sachsen regulieren.


Begrüßt und gefördert wurde das Programm naturgemäß von den Erzeugern: sie sahen ein Millionengeschäft auf sich zukommen. Viele Tonnen Äpfel müssten nun nicht mehr vernichtet oder zu Apfelessig verarbeitet werden. Die EU würde die Äpfel für gutes Geld aufkaufen, um sie dann an die Schülerinnen und Schüler zu verteilen.

Das Bundeslandwirtschaftsministerium sieht sich von jeher als Interessenvertreter der Erzeuger. Es hat das Schulobstprogramm im Sommer 2016 bilanziert:

Mit dem Programm werden jährlich europaweit 150 Millionen Euro Unionsbeihilfe für die Mitgliedstaaten bereitgestellt. In der Regel müssen die Mitgliedstaaten 25 Prozent der Kosten aufbringen, die verbleibenden 75 Prozent werden von der EU übernommen.

[…]

Im beginnenden Schuljahr wird das Schulobst- und -gemüseprogramm weiter ausgebaut: Deutschland erhält dafür rund 30 Millionen Euro Unionsbeihilfe. Am Schulobst- und gemüseprogramm beteiligen sich neun Bundesländer: Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Auch in Österreich wachsen schöne Äpfel. So verwundert es nicht, dass der österreichische Landwirtschaftsminister sehr von dem Programm eingenommen ist und die Erhöhung des Umsatzes mit den Äpfeln EU-Fördervolumens begrüßt.


Warum wird das »EU-Schulobst- und -gemüseprogramm« nun in Großbritannien als Symbol für den negativen Einfluss der EU gesehen? Mögliche Erklärungen:

  • Das Programm wurde im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon beschlossen. In diesem Vertrag wurden Kompetenzen von den Staaten auf die EU verlagert. Die negativen Konsequenzen zeigten sich in den folgenden Jahren.
  • Großbritannien ist Nettozahler der EU, aber die Landwirtschaft Großbritannien dürfte von dem Programm eher nicht profitieren.
  • Frankreich setzte für seine ehemaligen Überseegebiete durch, dass auch deren Bananen ins Programm aufgenommen werden. Das musste die Nationalisten in Großbritannien natürlich besonders schmerzen …

Die große Politik trifft die Kinder aus der traurigen Geschichte über die »vergifteten Äpfel« trotzdem zu Unrecht. Wenn die Geschichte die Situation richtig wiedergibt, wird das Obst ja gern angenommen und die Verteilung des Frühstücks hat eine soziale Funktion.

Was wäre also zu tun, um die Obstversorgung zu erhalten? Zuerst muss das Problem von der großen Politik und vom Nationalpopulismus entkoppelt werden. Wenn eine vernünftige Ernährung mit Obst und Gemüse gewünscht wurd, muss man sie eben privat und kommunal organisieren.

Deshalb sollten sich alle einen Tisch setzen, die das Schulfrühstück fortsetzen wollen – und dann das Gemeinsame betonen, nicht das Trennende. Das sollte auch in der Zeit des #Brexit möglich sein. Vielleicht könnte man dabei von Bayern lernen – womit wir wieder bei Don Alphonsos Beitrag sind.


Ergänzung 1: Wenn Deutschland allein 30 Millionen von 150 Millionen Euro Fördergeld für das Schulfrühstück bekommt, dann scheint das doch etwas merkwürdig. Es leben ja ganz sicher nicht ein Fünftel aller EU-Kinder in Deutschland. Deutschland stellt etwas mehr als ein Zehntel der EU-Einwohner. Der Anteil der bis zu 14jährigen beträgt hierzulande nur 13,1 % und ist in anderen EU-Ländern zum Teil deutlich höher.

Ergänzung 2: Großbritannien hat bisher zwar für das laufende EU-Schulobst- und -gemüseprogramm mit bezahlt, aber es hat seine eigenen Schulen nicht fördern lassen. Wie die Gegner in der besagten Schule also auf die Idee kommen, das Obst käme »von der EU«, erschließt sich nun erst recht nicht mehr. Hier werden die letzten Daten der EU präsentiert.



#Interrail

11. Oktober 2016

In einer Umfrage haben sich 16 % der befragten jungen Leute aus Deutschland gegen ein kostenloses Interrail-Ticket als Geschenk zum 18. Geburtstag ausgesprochen. 84 % waren dafür. Obwohl es hart klingt: Ich stimme der Minderheit zu.

Zum einen muss jemand für die Kosten aufkommen. Das sind entweder die Steuerzahler oder die Bahnkunden. Die EU-Parlamentarier, die den Vorschlag eingebracht haben, sagen jedenfalls nicht, welche EU-Ausgabe stattdessen eingespart werden soll. Sie verteilen also das Geld fremder Leute um. Im Endeffekt müssen die Nettozahler mehr Geld nach Brüssel überweisen – wobei sich einer der größten Nettozahler gerade aus der EU verabschiedet hat.

Zum anderen zementiert das Ticket die soziale Spaltung. Der Vorschlag bedeutet de facto für die ärmeren europäischen Länder, dass viele Jugendliche gar nicht teilnehmen können. Dort ist die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch und die meisten Eltern können es sich auch nicht leisten, ihrem Nachwuchs das Reisegeld vorzuschießen.

In den reicheren europäischen Ländern wäre das Ticket für viele Jugendliche dagegen eine Subvention, die eigentlich gar nicht gebraucht wird. Die Jugendlichen können sich das Geld selbst verdienen oder sie bekommen es von den Eltern. Ein gewisser Anteil wird sich aber auch bei uns in Deutschland die Reisekosten für Übernachtung und Verpflegung im Ausland nicht leisten können.

In der Logik des Umverteilens wird nun folgendes passieren: Jedes »Förderprogramm« des Staates oder der EU zieht Forderungen nach mehr Geld oder nach einer Ausweitung des Empfängerkreises nach sich.

Um nicht unsozial zu erscheinen, müsste die EU streng genommen Reisezuschüsse nach Bedürftigkeit vergeben oder die Staaten müssten ihren bedürftigen Jugendlichen unter die Arme greifen. Was bei uns in Deutschland zu einem Wust an Bürokratie führen würde (siehe: Teilhabegesetz), während die ärmeren Staaten wiederum an Grenzen stoßen würden.

Mein Gegenvorschlag: Man sollte Geld in europäische Ausbildungsprogramme und in die Förderung von Fortbildungen stecken. Damit junge Erwachsene später auf der Basis des Einkommens aus ihrer eigenen Leistung ein Ticket kaufen können. Oder zwei. Oder drei.



Das Klima in Dresden

11. Oktober 2016

Die Dresdner Neuesten Nachrichten (DNN) haben heute in einem Artikel über die Klimaziele der Stadt Dresden berichtet. Den Artikel kann man auch online lesen, das dazugehörige Diagramm fehlt dort leider. Dazu später mehr.

Es geht im Kern darum, dass die Stadt Dresden den CO2-Ausstoß pro Einwohner und Jahr verringern möchte. Um so mehr verstört ein Zitat aus dem DNN-Artikel (Hervorhebung von mir):

Obwohl die Einwohnerzahl seit Jahren wächst, sind die Privathaushalte nicht die Verursacher der hohen Werte, rechnete Korndörfer vor. Den entscheidenden Anteil an der miesen Bilanz hat nach den Zahlen der Stadt die Industrie.

Wenn es um den CO2-Ausstoß pro Einwohner und Jahr geht, sollte man doch meinen, dass eine höhere Bevölkerungszahl eher leicht positiv wirkt. Ein bestimmter fixer Anteil des Energieverbrauchs verteilt sich dann auf mehr Einwohnerinnen und Einwohner, also wirkt sich eine leicht gestiegene Einwohnerzahl eher entlastend als belastend aus.


Aber wir waren ja gerade bei der Industrie. Umweltamtsleiter Korndörfer weiß, warum in Dresden so viel Energie verbraucht wird:

»Dresden wird von der Mikroelektronik dominiert, diese Betriebe benötigen viel Strom«, so der Umweltamtsleiter. Diesen würden sie an der Strombörse einkaufen. Da wegen der großpolitischen Wetterlage Kohlekraftwerke wieder lukrativ seien, sei auch der von der Dresdner Industrie verbrauchte Strom nicht sauber und verhagele so die Bilanz.

Auch hier erschließt sich die Logik der Aussage nicht: Der Anteil der »Erneuerbaren« am Strommix nimmt doch seit Jahren zu. Gerade bei einem Überangebot ist der Strom an der Energiebörse EEX auch billiger als sonst. Und wir kennen den konkreten Strommix der Dresdner Industrie nicht – alle Schätzungen beruhen auf Kennzahlen für den Strommix in Deutschland.


Korndörfers Angaben sind also zumindest kritisch zu hinterfragen – aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist, dass Dresden keinen Einfluss auf die Energieanbieter hat, an denen die Stadt nicht beteiligt ist. Dresden kann aufgrund der Eigentumsverhältnisse allenfalls den Strommix der DREWAG und der ENSO beeinflussen.

Dresden hat aber keinen Einfluss auf die Verträge, die etwa Infineon oder Globalfoundries (ehemals AMD) mit anderen Anbietern abschließen. Insofern muss sich die Stadt Dresden den Strom-Mix der hier ansässigen Unternehmen auch nicht zurechnen lassen.

Dazu kommt: Gerade Infineon oder Globalfoundries stellen energiesparende Bauteile her, die überall auf der Welt für eine Reduzierung des Energieverbrauchs sorgen. Bevor diese Bauteile veraltete Technik ablösen können, benötigt man für ihre Herstellung im Reinstraum aber zunächst einmal Energie.

Es erschließt sich nun überhaupt nicht, warum sich Dresden den Stromverbrauch negativ zurechnet, der für die Herstellung modernerer Technik notwendig ist. Wenn diese Werke geschlossen würden und sich außerhalb Dresdens ansiedelten, hätten wir weniger Stromverbrauch, aber auch einige tausend Arbeitslose mehr. Das kann ja wohl nicht Sinn und Zweck der Sache sein.


Eher eine lustige Anekdote ist diese Maßnahme der Stadtverwaltung, die von der »obersten Klimamanagerin« der Stadt Dresden vorgestellt wurde:

Der Fuhrpark der Stadt werde Schritt für Schritt elektrifiziert, kündigte sie an. Verrichten jetzt noch vier E-Pkws ihren Dienst für die Verwaltung, so sollen es bis Ende des nächsten Jahres zehn mehr sein.

Es wurde in weiser Voraussicht darauf verzichtet, diese Maßnahme in CO2-Äquivalente umzurechnen. Das war der Stadtverwaltung dann wohl doch zu peinlich. In Dresden gibt es etwas mehr als 240.000 angemeldete Fahrzeuge.


Auch die Umweltbürgermeisterin Jähnigen wird in dem DNN-Artikel zitiert. Sie hat in der Stadtverwaltung einen neuen Bürokratiezweig einen Stab für Klimaschutz aufgebaut.

»Damit ist das Thema jetzt der zentrale Schwerpunkt meiner Arbeit«, kündigte sie an. Stadtverwaltung und städtische Unternehmen könnten unter fachlicher Aufsicht des Stabes gemeinsam ihren Anteil zur Reduzierung der Treibhausgase leisten.

Das ist interessant. Zu den Klimazielen und zur notwendigen Reduzierung gibt es nämlich sehr unterschiedliche Aussagen der Stadtverwaltung. Als Ziel wird in einer Pressemitteilung vom September 2016 z.B. das Jahr 2020 und eine Reduktion um 30 % angegeben:

Etwa zehn Tonnen klimaschädliche Treibhausgase wurden 2014 pro Dresdnerin bzw. Dresdner ausgestoßen. Bis 2020 sollen diese Emissionen um 30 Prozent reduziert werden.
[Quelle: Pressemitteilung des Amtes für Wirtschaftsförderung]

Bis 2020 sind es wohlwollend gerechnet fünf Jahre. Dann müssten die Emissionen also »nur« um 6,9 % pro Jahr sinken, nachdem sie trotz aller Klima-Bemühungen zehn Jahre lang auf konstantem Niveau geblieben sind. Das ist völlig illusorisch: Sie können bis 2020 nicht plötzlich so stark sinken. Wer setzt solche völlig unrealistischen Ziele in die Welt?


Wenn Ihnen das Ziel auch etwas zu ambitioniert vorkommt, habe ich hier zum Trost eine ganz andere Zahl aus derselben Stadtverwaltung:

Mit dem Beitritt zum Klimabündnis europäischer Städte hat sich Dresden bereits 1994 verpflichtet, den CO2-Ausstoß aller zehn Jahre um fünf Prozent zu senken. [Quelle: Pressemitteilung der Stadtverwaltung vom 10.10.2016]

Eine Senkung aller zehn Jahre um fünf Prozent entspräche einer kontinuierlichen Senkung pro Jahr um etwa ein halbes Prozent. Da wundert sich der Dresdner: Sollen wir die Emissionen nun um fast sieben Prozent oder um ein halbes Prozent pro Jahr senken? Oder lassen wir einfach alles, wie es ist? Hat ja in den letzten zehn Jahren auch niemanden gestört.


Offenbar weiß in der Stadtverwaltung die rechte Hand nicht, was die linke veröffentlicht. Was sagt eigentlich der Chef des Dresdner Umweltamts dazu?

»Künftig müssten pro Jahr drei bis vier Prozent CO2 eingespart werden, um das Dresdner Ziel von sechs Tonnen CO2-Ausstoß pro Jahr und Einwohner im Jahr 2030 zu erreichen«,  rechnet Korndörfer vor. Bisher sei man von einer notwendigen Reduktion von zwei Prozent jährlich ausgegangen. [Quelle: Pressemitteilung der Stadtverwaltung vom 10.10.2016]

Wenn Sie aufmerksam mitgelesen haben, werden Sie feststellen, dass es in ein und derselben Pressemitteilung zwei Zahlen gibt: das Ziel von 1994 und das Ziel von 2016. Es wird in der Pressemitteilung nicht angegeben, was »bisher« bedeutet: Wann ging man von »zwei Prozent jährlich« aus?


In diesem Zusammenhang ist eine Präsentation der Stadt Dresden [PDF] interessant, die ebenfalls von Herrn Dr. Korndörfer verantwortet wird. Auf Seite 3 ist das Diagramm zu finden, das in dem DNN-Artikel (schlecht und recht) aktualisiert und »nachgezeichnet« wurde.

Exakt wäre nach Korndörfers Rechnung für das Ziel von 6 Tonnen CO2 bis 2030 eine Reduzierung um 3,35 % jährlich notwendig. Das ist aber eine exponentielle Reduzierung und eine solche Reduzierung kann natürlich nicht mit einer Geraden (wie im Diagramm der DNN und des Umweltamts) dargestellt werden.


Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass das Thema völlig falsch vermittelt wird. Die Stadt Dresden begibt sich freiwillig in eine Falle, wenn sie die hier angesiedelte Industrie in die Rechnung einbezieht. Wir brauchen die Industrie und sie braucht uns. Die Unternehmen müssen selbst entscheiden, wie sie mit Energie umgehen.

Es kann sinnvoll sein, die CO2-Emissionen der öffentlichen Einrichtungen, der stadteigenen Unternehmen und des städtischen Verkehrs zu senken – nicht um jeden Preis, aber mit Augenmaß. An diesen Maßnahmen kann sich eine Stadt messen lassen, hier kann sie sinnvolle Maßnahmen ergreifen oder fördern.

Aber es ist völlig kontraproduktiv, sich von Jahr zu Jahr unrealistischere Ziele zu setzen und dazu auch noch unterschiedliche Zahlen zu kommunizieren. Es ist jeweils ein riesengroßer Unterschied, ob man von 30 % in fünf Jahren, 5 % in zehn Jahren oder 40 % in den verbleibenden 15 Jahren bis 2030 spricht.


Ergänzungen: Ich bekam gerade via Twitter einen Hinweis. AMD/Globalfoundries wird stabil mit »sauberem Strom« versorgt (Quelle). Und nach etwas Nachschlagen: Auch Infineon ist Kunde der DREWAG (wobei hier die Energie immer noch durch Dritte eingespeist werden könnte und DREWAG »nur« als Netzbetreiber fungiert).

Lasst alle Hoffnung Fahrrad fahren: Die Stadtverwaltung Dresden hat noch 2015 die völlig fiktiven CO2-Einsparungen der Aktion »Stadtradeln« für bare Münze genommen. Das ist hart.