Don Alphonso hat in seinem letzten Beitrag den Beitrag bei »Read on, my dear« über die »vergifteten Äpfel« empfohlen. Ich lese diesen Text als Beispiel dafür, wie sehr politische Debatten schaden können, wenn sie uninformiert und populistisch geführt werden. Am Ende leiden immer diejenigen, die am wenigsten dafür können.
Wenn die große Politik in das Leben der kleinen Schwester eingreift, kann man das aus mehreren Perspektiven sehen: aus der Sicht der EU, aus der Sicht verschiedener Interessengruppen, aus nationaler und regionaler Sicht. Man kann die Auswirkungen auf die Kommune, die Schule und den einzelnen Menschen betrachten.
Bitte lesen Sie zuerst die Sicht der direkt Betroffenen (der großen und der kleinen Schwester), wenn Sie den Text noch nicht kennen. Ich will versuchen, auch andere Perspektiven zu zeigen. Gehen wir dazu zurück in die Jahre 2008/09.
In Deutschland war das »EU-Schulobst- und -gemüseprogramm« von Anfang an umstritten. Die Bundesländer wollten damals politisch durchsetzen, dass der Bund den nationalen Eigenanteil allein trägt. Daraus wurde allerdings nichts. Die Teilnahme ist den Bundesländern freigestellt.
Der Freistaat Sachsen teilte damals mit, dass er sich nicht am Schulobstprogramm der EU beteiligen würde:
Für die Umsetzung des Programms würden in Sachsen pro Kind im Alter von sechs bis zehn Jahren im Schuljahr maximal 9,45 Euro zur Verfügung stehen. »Das wären ganze 24 Cent pro Woche. Was das an Portionen Obst bedeutet, kann jeder bei einem Besuch beim Obsthändler selbst herausfinden«, so Kupfer weiter. Empfohlen für eine gesunde Ernährung werden fünf Portionen pro Tag, also 35 Portionen pro Woche.
Politiker der LINKEN in Sachsen begrüßen das Programm als soziale Maßnahme und als Maßnahme der Gesundheitsförderung im Kinder- und Jugendalter. Das Fördergeld sei nun einmal vorhanden und müsse genutzt werden:
Ich bedauere es daher sehr, dass die schwarz-rote Koalition zum x-ten Mal die Kofinanzierung für dieses EU-Programm ablehnt. Deutschland erhält mittlerweile 28 Mio. Euro Förderung pro Schuljahr. Sächsische Schulen können leider dieses seit 2009 bestehende EU-Programm nicht nutzen.
Kritisiert wurde das Programm von liberalen Politikern: wegen des hohen bürokratischen Aufwands und wegen der Eingriffe in den Markt. Sie sahen außerdem das Subsidiaritätsprinzip verletzt:
Jede Kommune, jedes Bundesland, jede Region soll ihre Aufgaben zunächst einmal selbst lösen. Die höhere Ebene (Nationalstaat, EU) soll nur für die politischen Aufgaben zuständig sein, die die untergeordneten Ebenen nicht lösen können.
In der Realität ziehen aber die höheren Ebenen immer mehr Macht, Geld und Einfluss an sich. Wenn Äpfel für das Schulfrühstück, Interrail-Tickets oder andere Wohltaten von ganz oben verteilt werden, ist das mit viel bürokratischem Aufwand verbunden und der Wirkungsgrad sinkt.
Eine Kritik der liberalen Blogger aus der Zeit um 2008/09 will ich auch nicht verschweigen: Wir sahen es als bevormundend an, den Familien vorzuschreiben, was die Kinder in der Schule essen sollen. Diese Form des Paternalismus empfanden wir als Anmaßung von Wissen.
Ich sehe das heute nicht mehr ganz so streng – Empfehlungen und Unterstützung können Kindern aus Familien mit geringem Einkommen helfen. Zuständig sollten aber auf jeden Fall die private, kommunale und allenfalls die regionale Ebene sein. Die EU-Ebene muss nicht die Verteilung von Obst an Schulen in NRW, Bayern oder Sachsen regulieren.
Begrüßt und gefördert wurde das Programm naturgemäß von den Erzeugern: sie sahen ein Millionengeschäft auf sich zukommen. Viele Tonnen Äpfel müssten nun nicht mehr vernichtet oder zu Apfelessig verarbeitet werden. Die EU würde die Äpfel für gutes Geld aufkaufen, um sie dann an die Schülerinnen und Schüler zu verteilen.
Das Bundeslandwirtschaftsministerium sieht sich von jeher als Interessenvertreter der Erzeuger. Es hat das Schulobstprogramm im Sommer 2016 bilanziert:
Mit dem Programm werden jährlich europaweit 150 Millionen Euro Unionsbeihilfe für die Mitgliedstaaten bereitgestellt. In der Regel müssen die Mitgliedstaaten 25 Prozent der Kosten aufbringen, die verbleibenden 75 Prozent werden von der EU übernommen.
[…]
Im beginnenden Schuljahr wird das Schulobst- und -gemüseprogramm weiter ausgebaut: Deutschland erhält dafür rund 30 Millionen Euro Unionsbeihilfe. Am Schulobst- und gemüseprogramm beteiligen sich neun Bundesländer: Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Auch in Österreich wachsen schöne Äpfel. So verwundert es nicht, dass der österreichische Landwirtschaftsminister sehr von dem Programm eingenommen ist und die Erhöhung des Umsatzes mit den Äpfeln EU-Fördervolumens begrüßt.
Warum wird das »EU-Schulobst- und -gemüseprogramm« nun in Großbritannien als Symbol für den negativen Einfluss der EU gesehen? Mögliche Erklärungen:
- Das Programm wurde im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon beschlossen. In diesem Vertrag wurden Kompetenzen von den Staaten auf die EU verlagert. Die negativen Konsequenzen zeigten sich in den folgenden Jahren.
- Großbritannien ist Nettozahler der EU, aber die Landwirtschaft Großbritannien dürfte von dem Programm eher nicht profitieren.
- Frankreich setzte für seine ehemaligen Überseegebiete durch, dass auch deren Bananen ins Programm aufgenommen werden. Das musste die Nationalisten in Großbritannien natürlich besonders schmerzen …
Die große Politik trifft die Kinder aus der traurigen Geschichte über die »vergifteten Äpfel« trotzdem zu Unrecht. Wenn die Geschichte die Situation richtig wiedergibt, wird das Obst ja gern angenommen und die Verteilung des Frühstücks hat eine soziale Funktion.
Was wäre also zu tun, um die Obstversorgung zu erhalten? Zuerst muss das Problem von der großen Politik und vom Nationalpopulismus entkoppelt werden. Wenn eine vernünftige Ernährung mit Obst und Gemüse gewünscht wurd, muss man sie eben privat und kommunal organisieren.
Deshalb sollten sich alle einen Tisch setzen, die das Schulfrühstück fortsetzen wollen – und dann das Gemeinsame betonen, nicht das Trennende. Das sollte auch in der Zeit des #Brexit möglich sein. Vielleicht könnte man dabei von Bayern lernen – womit wir wieder bei Don Alphonsos Beitrag sind.
Ergänzung 1: Wenn Deutschland allein 30 Millionen von 150 Millionen Euro Fördergeld für das Schulfrühstück bekommt, dann scheint das doch etwas merkwürdig. Es leben ja ganz sicher nicht ein Fünftel aller EU-Kinder in Deutschland. Deutschland stellt etwas mehr als ein Zehntel der EU-Einwohner. Der Anteil der bis zu 14jährigen beträgt hierzulande nur 13,1 % und ist in anderen EU-Ländern zum Teil deutlich höher.
Ergänzung 2: Großbritannien hat bisher zwar für das laufende EU-Schulobst- und -gemüseprogramm mit bezahlt, aber es hat seine eigenen Schulen nicht fördern lassen. Wie die Gegner in der besagten Schule also auf die Idee kommen, das Obst käme »von der EU«, erschließt sich nun erst recht nicht mehr. Hier werden die letzten Daten der EU präsentiert.
Vielen Dank für die freundliche Verlinkung. Ich habe Ihren Beitrag hier mit viel Interesse gelesen und viel gelernt. Vielen Dank!
So weit ich es weiß, gibt es in England eine lange Tradition der „breakfast clubs“, allerdings eher in gut betuchten Schulen. Dort wo meine Schwester das bis dato machte, gab es gar nichts. Es gab vor allem kein Interesse des Councils, des Kollegiums et al. etwas für und mit den Kindern, die man abgeschrieben hatte zu machen. Sie und wir als da begann, habend das finanziert. Erst viele Jahre später hat es Fördermittel gegeben, eben weil die soziale Veränderung sichtbar wurde. Ich glaube es lohnt in Sachen Brexit auch noch einmal die demographischen Fakten anzusehen, es haben ja nicht nur die „Armen“ für leave gestimmt, sondern ein breiter Teil der middle classes und die sind auch diejenigen, die in ja langer und wie ich glaube schlechter Tradition gegen alles was irgendwie an Sozialstaat erinnert vorgehen. Der Brexit hat ja auch keine sechsmonatige Vorgeschichte, sondern eine zwanzig Jahre alte. Man erinnere sich nur an Gordon Brown.
Was für ein fürchterlich langer Kommentar, der sich doch eigentlich nur für Erhellendes bedanken wollte!
Ich konnte es mir eigentlich nur aus dem Zusammenhang Lissabon-Vertrag, EU-Schulobstprogramm und Opposition gegen die EU-Verträge erklären. Ich bin bis ca. 2008 zurückgegangen, aber natürlich ist die Geschichte viel, viel länger.
Ich bin dafür, dass man auf privater und kommunaler Ebene für eine bessere, bewusstere Ernährung eintritt. Und mir ist sehr bewusst, dass der Apfel oder die Mandarine für viele Kinder das einzige vernünftige Frühstück ist (war).
Es ist auch schon auf privater und kommunaler Ebene mit einer »Umverteilung« verbunden: Wer etwas mehr hat, der gibt an die ab, die wenig haben.
Don Alphonso schreibt ja in der letzten Zeit in vielen Artikeln über das gut funktionierende Bayern (Dorf, Region, Großstadt). Dort kann man das problemlos lokal lösen. Das sehe ich eher als Vorbild. Natürlich kann man es aber nicht 1:1 auf andere Gebiete der EU übertragen.
Ob die Fördermittel wirklich von der obersten Ebene (also EU) umverteilt werden müssen – darüber kann man jedenfalls sehr unterschiedlicher Meinung sein. Der Verteilungsaufwand ist sehr hoch, viele Eurokraten haben ein deutlich höheres Einkommen als etwa eine Bundeskanzlerin oder ein MdB.
Ich bin kein Gegner des Sozialstaats in dem radikalen Sinne, wie es etwa Maggie Thatcher war. Ich finde die grundsätzliche Idee der sozialen Marktwirtschaft wie in Deutschland, der Schweiz oder Österreich richtig.
Ich gebe aber dabei immer zu bedenken, dass im System der sozialen Marktwirtschaft zwei Komponenten nebeneinander stehen: der Markt und das Soziale, die Leistung und das Verteilen. Zwischen ihnen muss die Balance gewahrt bleiben. Der Staatsanteil an der Wirtschaft darf nicht zu hoch sein, sonst werden Trägheit und Vetternwirtschaft gefördert.
Da ein Update zur Präzisierung beiträgt:
https://ec.europa.eu/agriculture/school-scheme_de
Im Text Link zur Erklärung wie die Gelder zwischen den teilnehmenden Ländern aufgeteilt werden.
Ich möchte noch mal betonen, dass eine Bereitstellung der Gelder von europäischer Ebene eine lokale beziehungsweise kommunal angepasste Verwendung überhaupt nicht einschränken. Nicht nur die Mitgliedstaat, sondern auch die Lender können bereits in den Anträgen spezifizieren wie sie ausgestalten wollen.