Im Sommer 2016 habe ich mir das Buch »Die neuen Deutschen. Das Land vor seiner Zukunft« von Marina und Herfried Münkler gekauft. Gestern habe ich einen Tag in der Sauna genutzt und einen großen Teil des Buchs in einem Zug gelesen. Warum erst gestern?
Ich habe das Buch im Sommer noch im eingeschweißten Zustand weggelegt, weil mich die Vermarktung irritiert hat: nach meiner Wahrnehmung wurde es als Begründung für die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung »verkauft«.
Ein zweites Mal habe ich das Buch ungeöffnet weggelegt, als Herfried Münkler mit dem Spruch »Große Teile des Volkes sind dumm« nicht gerade um Sympathiepunkte warb. Ich muss also zugeben, dass ich das Buch gestern mit einer gewissen Voreingenommenheit in die Hand genommen habe.
Er hat aber in dem Interview auch etwas gesagt, was ich richtig fand:
Nehmen wir mal das Beispiel Kompromissbildung. Je mehr einer Bevölkerung, einer Bürgerschaft an Politik partizipieren, desto mehr haben einen Sinn für Kompromisse, wissen das zu schätzen. Populismus ist unter anderem auch, das ist keine erschöpfende Definition, eine Verachtung gegenüber dem Kompromiss.
Somit stand es unentschieden und ich habe mit einem gewissen Grundoptimismus gesagt: Wenn man ein Buch ohnehin gekauft hat, dann kann man es auch lesen.
Das Autorenpaar ist inzwischen aus vielen Interviews bekannt: Prof. Dr. Marina Münkler ist Literaturwissenschaftlerin an der TU Dresden. Prof. Dr. Herfried Münkler ist Politikwissenschaftler an der HU Berlin.
Das Buch besteht aus vier großen Kapiteln und einem sehr umfangreichen Quellenverzeichnis. Etwas vereinfacht: Das erste Kapitel ist eine Einführung in das Thema, dann folgen zwei Kapitel zur Analyse der historischen und gegenwärtigen Migrationsbewegungen und schließlich folgt der Ausblick in die Zukunft.
Ich habe zuerst die beiden Analyse-Kapitel gelesen und fand viele Gedanken wieder, die ich mir als politisch denkender Bürger und politikwissenschaftlicher Laie auch gemacht habe – aber in einer hochkonzentrierten Form, mit Quellenangaben, mit (für mich) neuen Zusammenhängen und mit vielen Anreizen zum Weiterdenken. Das war wirklich ein Gewinn.
Marina und Herfried Münkler schreiben prägnant. Man spürt, dass an den Formulierungen gründlich gearbeitet wurde. Verglichen mit vielen anderen aktuellen Büchern aus dem Regal »Politik« ist dieses Buch sprachlich sehr gut.
Das Buch liest sich in weiten Teilen nicht wie ein gewöhnliches politisches Sachbuch, sondern wie eine gründliche geisteswissenschaftliche Arbeit. Es ist für die Zielgruppe der gebildeten Bürger verfasst. Man kann es nicht einfach nebenher lesen.
Das Buch dürfte den Befürwortern völlig offener Grenzen und den Befürwortern einer Abschottung Deutschlands zu gleichen Teilen weh tun. Man muss es unvoreingenommen und ohne Illusionen lesen. Die Probleme werden an vielen Stellen wie mit dem Seziermesser offengelegt – und das liest sich nicht immer angenehm. Der Zustand der EU wird etwa so schonungslos offengelegt, dass man sich fragt: Wie soll diese Staatengemeinschaft jemals wieder zu einer gemeinsamen Politik kommen?
Die Autoren betrachten die folgenschweren Entscheidungen zur Grenzöffnung 2015 und konfrontieren dabei sowohl die Kritiker als auch die Anhänger Angela Merkels mit unbequemen Wahrheiten.
In einer ziemlich harten, aber zum Teil auch gerechten Rezension wurde das Buch als »Katechismus der Einwanderungs-Befürwortung« bezeichnet: Das ist es nicht. Freilich muss man eine dicke Haut haben, wenn man es als Kritiker der aktuellen deutschen Flüchtlingspolitik zu Ende lesen will.
Genau entgegengesetzt argumentierte die taz: Sie sah das Autorenehepaar vom linken »Klassenstandpunkt« als Vertreter einer Elite, die es ja sehr leicht hätten, von anderen mehr Verantwortung zu fordern. Immerhin kommt Autor Jan Feddersen zu dem Ergebnis: »Die Streitschrift der Saison, optimistisch und ungemütlich zugleich.«
Für mich als wertorientierten Bürger in der Mitte der Gesellschaft ist das Buch zum einen eine Art Gradmesser, auf welche Weise man Probleme ansprechen »darf« und mit welchem Hintergrundwissen man aus der Mitte der Gesellschaft nach allen Seiten argumentieren kann. In dieser Hinsicht ist es ein Gewinn, der weit über den Aufwand des Lesens hinausgeht.
Zum anderen sind viele Stellen auch eine Herausforderung zum Widerspruch und zum Nachdenken über Fehlendes. Die Geschehnisse in Sachsen werden etwa recht einseitig und manchmal nur auf der Grundlage der ersten vorliegenden Informationen betrachtet. Hier hätte ich mir die Gründlichkeit gewünscht, die die Autoren in der wissenschaftlichen Hintergrundarbeit an den Tag gelegt haben.
Kritiker des Buchs haben bemängelt, dass die Lösungsvorschläge der Autoren falsch seien und dass sie eine zu optimistische Sicht auf die 2014 bis 2016 Zugewanderten hätten. Das mag sein. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass der Redaktionsschluss für das eigentliche Manuskript im März oder April 2016 gewesen sein dürfte, wenn man noch Zeit für Lektorat, Satz und Druck kalkuliert.
Zurück zur eingangs zitierten Bemerkung Herfried Münklers »Große Teile des Volkes sind dumm.« Wenn man sich die Leserbriefe in der Dresdner Lokalpresse nach dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt anschaut, könnte man im ersten Ansatz formulieren: Große Teile des Volk sind vorschnell in ihrem Urteil.
»Das Volk« sieht auf den Leserbriefseiten mehrheitlich Angela Merkel in direkter oder mindestens indirekter Verantwortung, was zum voreiligen Urteil führen könnte, dass da nur Populisten und deren Opfer am Werk seien.
Man muss die Leserbriefe aber zweimal lesen: zuerst mit dem Hintergrundwissen der Münklers und dann noch einmal aus der Sicht der Absenderinnen und Absender. Die Absenderinnen und Absender der Leserbriefe beschäftigen sich mit den Problemen auf ihrem jeweiligen Wissensstand und mit ihrem jeweiligen Hintergrund. Sie sind deshalb aber nicht »dumm«. Sie können (Bereitschaft vorausgesetzt) dazulernen. Das ist die Aufgabe politischer Bildung.
Ich wünsche mir für 2017, dass Marina und Herfried Münkler etwas mehr von dem verstehen, was »das Volk« bewegt. Ich wünsche mir für 2017, dass wir alle bereit sind, über Zusammenhänge länger nachzudenken und unser Grundlagenwissen zu stärken. Das gilt auch für die Absenderinnen und Absender der Merkel-kritischen Leserbriefe, die in diesen Wochen eine einzige Ursache für ein hochkomplexes Problem sehen.
Denn die einseitige Schuldzuweisung an die Merkels, an die EU, an die Eliten, an die »Lügenpresse« – aber auch an die Sachsen und an die »Populisten« – die wird auch 2017 falsch sein. Wir brauchen im Gegenteil ethische Grundsätze, Offenheit, Toleranz, Bereitschaft zum Dazulernen und eben auch unbequeme Bücher.