Unbequemes

31. Dezember 2016

Im Sommer 2016 habe ich mir das Buch »Die neuen Deutschen. Das Land vor seiner Zukunft« von Marina und Herfried Münkler gekauft. Gestern habe ich einen Tag in der Sauna genutzt und einen großen Teil des Buchs in einem Zug gelesen. Warum erst gestern?

Ich habe das Buch im Sommer noch im eingeschweißten Zustand weggelegt, weil mich die Vermarktung irritiert hat: nach meiner Wahrnehmung wurde es als Begründung für die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung »verkauft«.

Ein zweites Mal habe ich das Buch ungeöffnet weggelegt, als Herfried Münkler mit dem Spruch »Große Teile des Volkes sind dumm« nicht gerade um Sympathiepunkte warb. Ich muss also zugeben, dass ich das Buch gestern mit einer gewissen Voreingenommenheit in die Hand genommen habe.

Er hat aber in dem Interview auch etwas gesagt, was ich richtig fand:

Nehmen wir mal das Beispiel Kompromissbildung. Je mehr einer Bevölkerung, einer Bürgerschaft an Politik partizipieren, desto mehr haben einen Sinn für Kompromisse, wissen das zu schätzen. Populismus ist unter anderem auch, das ist keine erschöpfende Definition, eine Verachtung gegenüber dem Kompromiss.

Somit stand es unentschieden und ich habe mit einem gewissen Grundoptimismus gesagt: Wenn man ein Buch ohnehin gekauft hat, dann kann man es auch lesen.


Das Autorenpaar ist inzwischen aus vielen Interviews bekannt: Prof. Dr. Marina Münkler ist Literaturwissenschaftlerin an der TU Dresden. Prof. Dr. Herfried Münkler ist Politikwissenschaftler an der HU Berlin.

Das Buch besteht aus vier großen Kapiteln und einem sehr umfangreichen Quellenverzeichnis. Etwas vereinfacht: Das erste Kapitel ist eine Einführung in das Thema, dann folgen zwei Kapitel zur Analyse der historischen und gegenwärtigen Migrationsbewegungen und schließlich folgt der Ausblick in die Zukunft.

Ich habe zuerst die beiden Analyse-Kapitel gelesen und fand viele Gedanken wieder, die ich mir als politisch denkender Bürger und politikwissenschaftlicher Laie auch gemacht habe – aber in einer hochkonzentrierten Form, mit Quellenangaben, mit (für mich) neuen Zusammenhängen und mit vielen Anreizen zum Weiterdenken. Das war wirklich ein Gewinn.

Marina und Herfried Münkler schreiben prägnant. Man spürt, dass an den Formulierungen gründlich gearbeitet wurde. Verglichen mit vielen anderen aktuellen Büchern aus dem Regal »Politik« ist dieses Buch sprachlich sehr gut.

Das Buch liest sich in weiten Teilen nicht wie ein gewöhnliches politisches Sachbuch, sondern wie eine gründliche geisteswissenschaftliche Arbeit. Es ist für die Zielgruppe der gebildeten Bürger verfasst. Man kann es nicht einfach nebenher lesen.


Das Buch dürfte den Befürwortern völlig offener Grenzen und den Befürwortern einer Abschottung Deutschlands zu gleichen Teilen weh tun. Man muss es unvoreingenommen und ohne Illusionen lesen. Die Probleme werden an vielen Stellen wie mit dem Seziermesser offengelegt – und das liest sich nicht immer angenehm. Der Zustand der EU wird etwa so schonungslos offengelegt, dass man sich fragt: Wie soll diese Staatengemeinschaft jemals wieder zu einer gemeinsamen Politik kommen?

Die Autoren betrachten die folgenschweren Entscheidungen zur Grenzöffnung 2015 und konfrontieren dabei sowohl die Kritiker als auch die Anhänger Angela Merkels mit unbequemen Wahrheiten.

In einer ziemlich harten, aber zum Teil auch gerechten Rezension wurde das Buch als »Katechismus der Einwanderungs-Befürwortung« bezeichnet: Das ist es nicht. Freilich muss man eine dicke Haut haben, wenn man es als Kritiker der aktuellen deutschen Flüchtlingspolitik zu Ende lesen will.

Genau entgegengesetzt argumentierte die taz: Sie sah das Autorenehepaar vom linken »Klassenstandpunkt« als Vertreter einer Elite, die es ja sehr leicht hätten, von anderen mehr Verantwortung zu fordern. Immerhin kommt Autor Jan Feddersen zu dem Ergebnis: »Die Streitschrift der Saison, optimistisch und ungemütlich zugleich.«


Für mich als wertorientierten Bürger in der Mitte der Gesellschaft ist das Buch zum einen eine Art Gradmesser, auf welche Weise man Probleme ansprechen »darf« und mit welchem Hintergrundwissen man aus der Mitte der Gesellschaft nach allen Seiten argumentieren kann. In dieser Hinsicht ist es ein Gewinn, der weit über den Aufwand des Lesens hinausgeht.

Zum anderen sind viele Stellen auch eine Herausforderung zum Widerspruch und zum Nachdenken über Fehlendes. Die Geschehnisse in Sachsen werden etwa recht einseitig und manchmal nur auf der Grundlage der ersten vorliegenden Informationen betrachtet. Hier hätte ich mir die Gründlichkeit gewünscht, die die Autoren in der wissenschaftlichen Hintergrundarbeit an den Tag gelegt haben.


Kritiker des Buchs haben bemängelt, dass die Lösungsvorschläge der Autoren falsch seien und dass sie eine zu optimistische Sicht auf die 2014 bis 2016 Zugewanderten hätten. Das mag sein. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass der Redaktionsschluss für das eigentliche Manuskript im März oder April 2016 gewesen sein dürfte, wenn man noch Zeit für Lektorat, Satz und Druck kalkuliert.


Zurück zur eingangs zitierten Bemerkung Herfried Münklers »Große Teile des Volkes sind dumm.« Wenn man sich die Leserbriefe in der Dresdner Lokalpresse nach dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt anschaut, könnte man im ersten Ansatz formulieren: Große Teile des Volk sind vorschnell in ihrem Urteil.

»Das Volk« sieht auf den Leserbriefseiten mehrheitlich Angela Merkel in direkter oder mindestens indirekter Verantwortung, was zum voreiligen Urteil führen könnte, dass da nur Populisten und deren Opfer am Werk seien.

Man muss die Leserbriefe aber zweimal lesen: zuerst mit dem Hintergrundwissen der Münklers und dann noch einmal aus der Sicht der Absenderinnen und Absender. Die Absenderinnen und Absender der Leserbriefe beschäftigen sich mit den Problemen auf ihrem jeweiligen Wissensstand und mit ihrem jeweiligen Hintergrund. Sie sind deshalb aber nicht »dumm«. Sie können (Bereitschaft vorausgesetzt) dazulernen. Das ist die Aufgabe politischer Bildung.

Ich wünsche mir für 2017, dass Marina und Herfried Münkler etwas mehr von dem verstehen, was »das Volk« bewegt. Ich wünsche mir für 2017, dass wir alle bereit sind, über Zusammenhänge länger nachzudenken und unser Grundlagenwissen zu stärken. Das gilt auch für die Absenderinnen und Absender der Merkel-kritischen Leserbriefe, die in diesen Wochen eine einzige Ursache für ein hochkomplexes Problem sehen.

Denn die einseitige Schuldzuweisung an die Merkels, an die EU, an die Eliten, an die »Lügenpresse« – aber auch an die Sachsen und an die »Populisten« – die wird auch 2017 falsch sein. Wir brauchen im Gegenteil ethische Grundsätze, Offenheit, Toleranz, Bereitschaft zum Dazulernen und eben auch unbequeme Bücher.


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Kommunikation darf nicht im Desaster enden

28. Dezember 2016

In der letzten Nacht musste ich feststellen, dass kurz vor den Weihnachtsfeiertagen eine wichtige E-Mail in einem meiner Filter hängengeblieben war. Ich hatte die Antwort auf meine Kritik an einem Medienbeitrag der »Tagesthemen« verpasst. Unter dem Artikel steht jetzt eine Korrektur.

Als ich dieses Thema und einige andere Diskussionen auf Twitter noch einmal nachgeschlagen habe, bin ich erschrocken: selbst alltägliche Diskussionen werden zusehends zu einem verbissenen Kampf ohne Fairness und ohne Anstand.

Wenn uns Terrorismus und Schrecken im eigenen Land nahe sind, wenn wir die Folgen der Migrationskrise in unseren Städten und Gemeinden sehen, wenn wir über die Auswirkungen der Krisenpolitik entsetzt und über manche Medien enttäuscht sind: Wir dürfen nicht vergessen, dass da auf der anderen Seite auch Menschen sitzen.

Der »Tagesthemen«-Beitrag aus dem Sommer 2016 mit dem Vergleich zwischen dem Tod durch Ersticken und dem Tod durch Terror hat viele Reaktionen hervorgerufen. Ich nehme für mich in Anspruch, dass mein Artikel noch zu den sachlichen Reaktionen zählt. Ich habe sachlich und emotional gegen diesen aus meiner Sicht nicht angemessenen Vergleich argumentiert.


Es gibt leider auch unsachliche Beiträge und Beschimpfungen zu diesem Thema und zu anderen Themen. Soziale Medien sind sehr offene Plattformen. Sie geben uns viele Freiheiten. Der große Nachteil ist, dass sich buchstäblich jeder Account in jedes Gespräch und jedes Thema einmischen kann.

Es tut mir leid, dass es zu Beschimpfungen gekommen ist. Ich bin aber nicht dafür verantwortlich, auf welche Weise Dritte mit dem Thema umgegangen sind. Ich kann nicht kontrollieren, wer ein Thema von mir aufgreift. Ich will und kann niemanden zu einem besseren Benehmen erziehen.

Ich vergesse nicht, dass da als Absender Menschen sitzen: mit ihren Lebensläufen, mit unterschiedlicher Bildung, mit einem eigenen Horizont, mit sehr ausgeprägten Meinungen, mit persönlichen Sicherheiten und Unsicherheiten. Ich habe im Jahr 2016 sogar gelernt, dass Trollen eine eigene »Kunstform« sein kann – und wie jede neue Kunstform [miss]verstanden werden muss. [Kennt eigentlich heute noch jemand die Geschichten von Till Eulenspiegel?]

Aber letztlich darf der Bereich der Menschlichkeit nicht verlassen werden. Dieser Bereich wird dann verlassen, wenn die Gegenseite bedroht wird, wenn ihr Lügen in den Mund gelegt werden, wenn Falschmeldungen über Menschen ganz bewusst oder fahrlässig weitergegeben werden.


Die Zeiten sind vorbei, in denen die Journalisten der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ihre Meldungen und Meinungen auf uns werfen konnten, so wie früher die Götter vom Olymp mit Blitzen und Urteilen geworfen haben.

Die Zeiten, in denen der Leserbrief mit den Einwänden eine Woche später in die Ablage gelegt wurde, kommen auch nicht wieder. Wir sind als Zuschauer und Leser kritischer geworden. Wir hinterfragen in Echtzeit. Wir protestieren in Echtzeit.

Aber wir dürfen nicht vergessen, dass da auf der anderen Seite auch Menschen sitzen: in den Redaktionen wie auch in den Social-Media-Abteilungen. Deshalb mein Appell und meine Bitte für das kommende Jahr an alle, die mir auf Twitter zuhören und hier meine Artikel lesen:

Lasst uns die Grundregeln des Anstands wahren. Lasst uns Diskussionen führen, ohne Vernichtung anzustreben. Wir machen uns sonst selbst Stück für Stück die Kommunikationswege kaputt.

Wer einen zugespitzten Tweet oder Artikel von mir wirklich nur zum Anlass nimmt, auf die »Gegenseite« mit der verbalen Keule loszugehen, ist bei meinem Blog und meinem Twitter-Account an der falschen Adresse. Wir haben Meinungsfreiheit für eine sehr große Bandbreite der Meinungen und es ist sehr viel Raum im Netz. Aber die Diskussion darf nicht mit dem Ziel der verbalen Vernichtung geführt werden.

Im Jahr 2017 wird es wieder Krisen und Terroranschläge geben, es sind auch Landtagswahlen und Bundestagswahlen mit harten Wahlkämpfen zu erwarten. Ich will dann noch kommunizieren können, ohne im Müll zu ersticken. Wenn die Kommunikation in den sozialen Netzwerken zum Desaster wird, kann ich mein Blog und meinen Twitter-Account nur noch schließen.

In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit im Jahr 2016, für viele gute Diskussionen und viele Anregungen. Ich habe mich für Meinungen aus anderen Lagern geöffnet und konnte (vielleicht) einige Leute aus diesen Lagern erreichen. Ich kann nur für mich sprechen: Mir hat es genutzt und mir hat der Wettkampf der Meinungen manchmal sogar Spaß gemacht. Auch wenn das Jahr 2016 als solches nun wirklich weg kann.



Verhältniszahlen und Vergleiche

23. Dezember 2016

Nach dem Terroranschlag in Berlin wurde wieder einmal eine Erklärung der »Tagesthemen« zum Risiko des Todes durch Ersticken oder durch einen Terroranschlag verbreitet. Sie stammt von Ende Juli 2016. Das war kurz nach dem Terroranschlag von Nizza. Schauen Sie sich den Original-Tweet der »Tagesthemen« an:

Links im Bild sehen Sie die Journalistin Charlotte Gnändiger. Sie soll den Zuschauerinnen und Zuschauern erklären, ob die Terrorangst »zu recht« wächst. Die Kernaussage in Frau Gnändigers Erklärung ist (transkribiert aus dem Video):

»Zumindest in Deutschland ist es sogar deutlich wahrscheinlicher, beim Essen zu ersticken. Daran sind in den vergangenen Jahren jeweils mehrere hundert Menschen gestorben – mehr als bei Terroranschlägen in ganz Westeuropa zusammen.«

Hier soll also folgender Beweis geführt werden: Die Wahrscheinlichkeit für einen Tod aufgrund der Ursache A (Ersticken) ist größer als für einen Tod aufgrund der Ursache B (Terroranschlag). Folglich muss man vor B weniger Angst haben als vor A.


Der Vergleich zwischen den beiden Wahrscheinlichkeiten enthält aber einen logischen Fehler: Sie stammen aus unterschiedlichen Kategorien. Deshalb ist die Schlussfolgerung ungültig.

Die Ursache A (Ersticken beim Essen) kann der einzelne Mensch beeinflussen: etwa durch sorgfältiges Entgräten des Fischs, durch vorsichtigen Umgang mit Steinobst oder generell durch Mäßigung beim Essen und beim Trinken von Alkohol.

Die Ursache B (Tod durch Terroranschlag) kann der einzelne Mensch nicht beeinflussen. Um sein Risiko zu senken, etwa in Berlin oder Paris zum Terroropfer zu werden, müsste er sich aus dem gesellschaftlichen und beruflichen Leben weitgehend zurückziehen, was logischerweise keine Lösung sein kann. In Paris wurden Menschen ermordet, weil sie zufällig bei einem Konzert waren. In Berlin wurden Menschen ermordet, weil sie auf einem Weihnachtsmarkt verkauft oder eingekauft haben. Der polnische Fahrer wurde ermordet, weil er einem islamistisch motivierten Verbrecher im Weg war.

Dazu kommt noch ein zweiter Unterschied: Hinter dem Tod durch Ersticken beim Essen steckt keine Absicht. Es gibt keine bekannte Macht oder Einflussgröße, die bewusst darauf hinwirkt, dass mehr Menschen beim Essen ersticken.

Es gibt aber sehr wohl eine Einflussgröße, die mehr Menschen durch Terror sterben lassen will. Das ist der militante Islamismus. Es war Ende Juli 2016 bereits bekannt, dass die Zahl der Terroropfer durch islamistischen Terror 2015 gestiegen war und 2016 weiterhin steigt. Es war auch bekannt, dass die Anzahl der radikalisierten »Gefährder« steigt.

Kurz gesagt: Der Vergleich ist untauglich, weil darin Risiken in Beziehung gebracht werden, die aus viel zu unterschiedlichen Risikokategorien stammen.


Das dazugehörige Diagramm ist nicht besser als die Argumente. Es zeigt für die Jahre 2006 bis 2014 den Zeitverlauf für die Terror-Todesopfer in Westeuropa und die Toten aufgrund des Erstickens in Deutschland. Das Diagramm ist mindestens aus den folgenden Gründen manipulativ:

  1. Die Terroranschläge von Madrid (mit fast 200 Toten, 2004) und London (mit 56 Toten, 2005) bleiben außen vor.
  2. Obwohl zum Zeitpunkt der Ausstrahlung alle Terror-Todesopfer von 2015 bekannt waren, wird das Jahr 2015 ebenfalls ausgespart.
  3. Statistisch gesehen beziehen sich beide Zahlenreihen auf unterschiedliche Bezugsgrößen: einmal auf die deutsche Bevölkerung und zum anderen auf die Bevölkerung Westeuropas. Das ist unseriös.
  4. Die gescheiterten Terroranschläge werden nicht erwähnt. Bei den vollendeten Terroranschlägen und bei den Versuchen hätten immer deutlich mehr Menschen sterben können. Es lag ja in der Absicht der Attentäter, möglichst viele Menschen zu töten – man denke etwa an die versuchten Anschläge auf Stadien. Nur durch Zufälle oder mutiges Einschreiten kam es nicht soweit.
  5. Ergänzung: Auch die lebenslang durch die Nachwirkung schwerer Verletzungen betroffenen Menschen werden in dem Beitrag ignoriert.

Somit sollte auf der Hand liegen, dass das Diagramm für keine seriöse Argumentation etwas taugen kann. Und dabei haben wir über die Fehler in der grafischen Darstellung noch gar nicht geredet.


Ich habe heute (einige Tage nach dem Anschlag von Berlin) Charlotte Gnändiger mit ihrer Erklärung von damals konfrontiert und sie gefragt:

Würden Sie auch heute noch öffentlich den Vergleich mit »Ersticken beim Essen« anstellen?

Sie antwortete:

Aus Pietät persönlich aktuell: nein. Rein statistisch gilt der Vergleich aber noch. Wurde diese Woche auch wieder herangezogen.

Falls der Tweet von Frau Gnändiger gelöscht werden sollte, ist bei Twitter auch ein Screenshot als Beweis für den Dialog zu finden.


Grundsätzlich gilt der Vergleich nur dann, wenn man bereit ist, völlig unterschiedliche Kategorien der Gefährdung miteinander zu vergleichen. Das kann man natürlich machen (so wie man beliebige Zahlen ins Verhältnis setzen kann) – aber es hat dann nichts mehr mit Statistik zu tun. Es ist also gerade nicht »rein statistisch«.

Außerdem ist sehr erstaunlich, dass die »Tagesthemen« den Vergleich direkt nach dem furchtbaren Anschlag von Nizza gebracht haben, während Frau Gnändiger ihn heute »aus Pietät« nicht bringen würde. Gibt es also Opfer erster und zweiter Klasse? Ich habe Frau Gnändiger also via Twitter die folgenden drei Fragen gestellt:

1. Warum haben Sie den Vergleich dann nicht auch aus Pietät gegenüber den Opfern in Frankreich und Belgien unterlassen?

2. Warum endet Ihr (grafisch schlechtes) Diagramm im Jahr 2014, obwohl Sie es Ende Juli 2016 veröffentlicht haben?

Und letztlich 3.: Welchen Vergleich ziehen Sie heran, wenn Sie die Opfer des IS-Terrors weltweit zählen?


Frau Gnändiger hat es nicht für nötig gehalten, auch nur auf eine der drei Fragen zu antworten.

Korrektur [28.12.2016, 02.37 Uhr]: Eine E-Mail von Charlotte Gnändiger hat mich leider erst am 27.12.2016 erreicht. Sie wurde kurz nach dem Wortwechsel auf Twitter abgesendet. Es tut mir leid, dass es zu diesem Missverständnis gekommen ist.


An dieser Stelle auch noch eine Ergänzung zu dem Beitrag der »Tagesthemen«. Der Vergleich mit der Vergangenheit des Terrorismus ist ebenfalls nicht angemessen: Die RAF, die ETA, die IRA und andere westeuropäische Terror-Organisationen verfügten bei weitem nicht über die Schlagkraft und die Vernetzung der heutigen militanten Islamisten.

In Deutschland richtete sich der Terror der RAF damals gegen Vertreter des Staates, der Banken und der Industrie. Heute richtet sich der Terror gegen einfache Menschen im Regionalexpress, auf dem Weihnachtsmarkt, auf dem Brüsseler Flughafen, in der Metro, oder in einem Pariser Konzertsaal. Kurz: es kann jeden treffen und es soll aus Sicht der Terroristen jeden treffen. In mehreren Fällen (etwa im Fall des Rucksackbombers, der sich im Sommer 2016 in einem Konzertpublikum in die Luft sprengen wollte) war es ein Riesenglück, dass es nicht mehr Tote gab.

An alle Journalisten, die solche Vergleiche anstellen: Bitte versetzen Sie sich einmal in die Situation der verletzten Terroropfer, der Angehörigen von Terroropfern oder auch der direkten Zeugen solcher Mordanschläge hinein – wollen Sie diesen Menschen persönlich mit Ihrem Vergleich „Ersticken am Essen“ gegenübertreten? Wenn das für Berlin gilt, dann gilt es aber auch für den Terror in Paris, Nizza oder Brüssel.



Jeden Tag einem Account aus einem fremden politischen Lager folgen: Das Protokoll einer Adventsaktion

1. Dezember 2016

Am 01.12.2016 habe ich auf Twitter versprochen, dass ich bis Weihnachten an jedem Tag einem politisch »fremden« Account folgen würde. In diesem Artikel wird das Protokoll der Aktion zusammengefasst. Die ältesten Eintragungen sind dabei unten zu finden. Das war der Ausgangspunkt:

Ich werde neugierig sein und auf die Eindrücke reagieren, die ich an dem jeweiligen Tag von einer bisher unbekannten Person habe. Ich will möglichst nichts über die Geschichte der Personen wissen. Vielleicht werde ich Radikalen folgen. Vielleicht stoße ich auf Personen, die in ihrem früheren Leben großen Unsinn gesagt oder getan haben. Vielleicht stoße ich auf Philosophen, vielleicht aber auch auf Spinner.

Es ist ein Experiment und ich weiß nicht, was dabei herauskommt. Im Idealfall lerne ich neue Perspektiven kennen und werde klüger. Eventuell werden mich aber auch Personen blocken, denen ich folgen will – oder es werden sich einige bisherige Follower abwenden.



10.12.2016

Kurz vor dem dritten Adventssonntag möchte ich auf einen Beitrag hinweisen, in dem Juna auf die Unzulänglichkeiten der Twitter-Plattform hinweist. Mein heutiger Eintrag im Adventskalender mag der Versuch einer Antwort sein.

Wenn man das Verhältnis zwischen einer Plattform und einem Menschen wirklich als »Beziehung« interpretieren kann, dann fällt mir dazu nach einigem Nachdenken ein: In jeder Beziehung bist du das wert, was du dir selbst wert bist. Twitter als Plattform dürfte das relativ gelassen sehen, also geht es um uns.

Ich interessiere mich für sehr viele Accounts aus den unterschiedlichsten politischen Lagern und gesellschaftlichen Gruppen. Ich finde (wie Juna) viele Äußerungen unpassend, die mich via Twitter erreichen, ich bin über manche Information wütend, ich widerspreche auch mancher Meinung.

Mir ist auf der anderen Seite auch bewusst, dass ich mancher Leserin und manchem Leser einiges zumute: wenn ich etwa auf Freiheit, auf Eigenverantwortung, auf Vernunft oder auf Selbstbestimmung verweise. Wenn ich Religion auf der einen Seite kritisiere und auf der anderen Seite verteidige. Wenn ich für sexuelle Aufklärung, Respekt und Selbstbestimmung in der Schule plädiere, aber andererseits gegen den Einfluss radikaler LGBTI*-Lobbygruppen bin.

Aber ich gehe doch mit einem festen Selbstbewusstsein und mit bestimmten Werten auf Twitter. Ich filtere ohne Blase, ich gewichte mit einer gewissen Lebenserfahrung und ich lerne auch mit Ende 40 noch dazu. Selbstbewusstsein, Werte und Erfahrungen führen wiederum zu einer gewissen Gelassenheit. Und davon werden wir 2017 noch viel mehr brauchen.



08.12.2016 und 09.12.2016

Heute gibt es eine Doppelfolge über das Folgen und das Diskutieren über Lagergrenzen hinweg. Ich will zuerst kurz erklären, warum ich so spät bei Twitter eingestiegen bin. Es war das Wort »folgen«, das mir gar nicht gefallen hat. Es ist mir zu stark mit »Gefolgschaft« verknüpft.

Ich übersetze den Twitter-Begriff »folgen« heute eher mit »sich für jemanden interessieren«. Ich interessiere mich für Twitter-Accounts, die mir Informationen, Meinungen und Personen erschließen.

Ein langjähriger Bloggerkollege sprach früher (vor der Zeit der sozialen Netzwerke) gern von Avataren als »Pixelhaufen« – interessant waren für uns damals eher die Aussagen, weniger die Absender. Denn wir konnten ohnehin nicht prüfen, wer hinter den Namen stand.

Eines der ersten Memes des damals noch recht jungen öffentlichen Internets war: »im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist«. Die Zeitschrift c’t machte regelmäßig mit Karikaturen von sich lachen, in denen etwa das Treffen der »Schönheiten des Netzes« als Treffen bleicher und korpulenter Nerds illustriert war.

Gestern habe ich einen polarisierenden Tweet eines polarisierenden und umstrittenen Twitter-Accounts aufgegriffen. Der Klick aufs Datum zeigt die Antworten.

Wie konnte ich nur? Eine kurze Äußerung zur Sache:

Der Staat kann von Eltern und Schülern die Teilnahme am Schwimmunterricht verlangen. Das Ziel der Maßnahme ist aber nicht, dass alle Mädchen Bikini und alle Jungen Dreieckbadehosen tragen sollen. Das Ziel ist: den Kinder und Jugendlichen das Schwimmen beizubringen. Natürlich in einer Kleidung, die zum Schwimmen bestimmt ist (nicht in Jeans oder Rollkragenpullover) …

Wenn sich Jungen mit weiten Badehosen bis zum Knie besser fühlen und Mädchen mit etwas mehr Stoff (Burkini ist nicht gleich Burka!), dann soll es eben so sein – entscheidend ist doch, dass sie schwimmen können und nicht gleich ertrinken, wenn sie mal ins Wasser fallen.

Ich bin auf die implizite Aussage des Tweets »Burkini = Islamisierung« eingegangen und nicht auf die Person. Ich halte weder das Profil des Absenders Kolja Bonke noch den speziellen Tweet für »protofaschistisch«. Kolja Bonke steht vermutlich Donald Trump und der AfD ziemlich nahe – ich stehe sicher nicht in dieser Reihe.

Aber ich denke, es ist wichtig, bestimmten Aussagen Tatsachen und auch eigene Meinungen entgegenzusetzen. Deshalb schaue ich mir an, was die »Achse des Guten« und die Gruppe um Roland Tichy publizieren. Deshalb schaue ich mir aber auch an, was einige dezidiert linke Medien sagen (Beispiele siehe unten). Und wenn es sein muss, widerspreche ich … 



07.12.2016

Es ist oft eine interessante Aufgabe, Statistiken und offizielle Zahlen zu hinterfragen. Es sollte im besten Fall im Sinne der Wahrheitsfindung und des Erkenntnisgewinns geschehen.

Vielleicht haben Sie auf Twitter auch die Liste mit Zuwendungen für Flüchtlingshilfe (im sehr weiten Sinne) gesehen, die die AfD-Fraktion im Sächsischen Landtag als Antwort auf eine Anfrage an die Staatsregierung erhalten hat. Diese Liste war allerdings nur die Liste der Anträge, wie »couragiert« am Nikolaustag twitterte.

Die richtige Liste mit den tatsächlich bewilligten und den inzwischen ausbezahlten Fördergeldern ist in diesem Artikel referenziert. Dort wird auch erzählt, wie es zu der unvollständigen Auskunft kommen konnte.

Die Liste der Anträge, die vorher von der AfD veöffentlicht wurde, ist aber trotzdem interessant: Sie zeigt, von welchen Interessengruppen und mit welchen Begründungen staatliches Geld beantragt wird.



06.12.2016

Gestern wurde die kontrovers diskutierte »Charta der digitalen Grundrechte« vorgestellt und offenbar mit dem umstrittenen Artikel 5 an das EU-Parlament übergeben.

Eine gut fundierte Kritik an der Vorgehensweise und einige Hintergründe habe ich beim Publizisten Wolfgang Michal gefunden.



05.12.2016

An diesem Montag soll die kontrovers diskutierte »Charta der digitalen Grundrechte« vorgestellt werden. Als Frontmann der Charta steht Sascha Lobo in der Öffentlichkeit. Sascha Lobo musste in der vergangenen Woche auch etlichen Spott über sich ergehen lassen, als ihm ein Gast in einer Talkshow ganz ungefiltert die Meinung sagte.

Aber: Als die Charta der digitalen Grundrechte in die Kritik geriet, hielt Sascha Lobo mutig dagegen – und das verdient erst einmal Respekt.

Immerhin ist so eine Diskussion entstanden, die nicht mehr ignoriert werden kann. Wenn die Charta so angenommen wird, kann sie zu erheblichen Einschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung im Netz führen. Das dürfen wir nicht hinnehmen.

Welche Rolle diese »Kommission« wirklich spielt, wer die Mitglieder nach welchen Kriterien auswählte und welche Interessen dahinter stecken könnten, bleibt im Unklaren. Warum hat eine Gruppe, die im Grunde willkürlich von einer privaten Stiftung ausgewählt wurde, so einfachen Zugang zu Institutionen der EU?



04.12.2016

Heute geht es in meinem Adventskalender um die Moderatorin Dunja Hayali. Sie ist vermutlich als Person noch umstrittener als die »taz« und der »freitag« zusammen, aber auch sie twittert Dinge, über die man nachdenken kann:

Wer „Lügenpresse“ schreit, will nicht AUCH seine Meinung in den Medien sehen, sondern AUSSCHLIEßLICH [Tweet]

Einerseits ist Dunja Hayalis Ausspruch eine unzulässige Pauschalisierung über die Demonstranten. Es ist keineswegs belegt oder auch nur plausibel, dass alle »Lügenpresse«-Rufer ausschließlich ihre eigene Meinung in den Medien sehen wollen. Diese Einschätzung scheitert schon daran, dass diese Personen keine homogene Gruppe bilden.

Andererseits: der Ruf »Lügenpresse« als Generalverdammnis aller etablierten Medien geht auch viel zu weit. Kritik an den Medien bleibt notwendig: an der oft herrschenden Einseitigkeit, an der Vermischung von Meinung und Information, auch an der Vermischung von Berichten mit der PR von Interessengruppen. Aber eine »Lügenpresse« haben wir in Deutschland nicht.



03.12.2016

Ich folge heute dem Wirt des Berliner Restaurants »Nobelhart und Schmutzig«, der gerade ein Lehrbeispiel für symbolisches »virtue signaling« gibt. Hier ist der Beitrag aus dem DLF [Audio, ca. 4 Minuten], der mich auf die Idee brachte.

In diesem kritischen Beitrag von David Berger sieht man auf der anderen Seite, wie sich »virtue signalling« gegenseitig aufschaukeln kann. Denn die Aktion des Berliner Nobelrestaurants wird dadurch natürlich nur aufgewertet, aber in keiner Weise realistisch eingeschätzt:

Dieser Aufkleber offenbart für mich eine erschreckende Verachtung der Demokratie und des dazu gehörigen Rechtsstaats. Hinter ihm schimmert ein faschistoides Denken hervor, das Demokraten und Verfechter einer offenen und liberalen Gesellschaft nicht dulden dürfen.



02.12.2016

Ab heute folge ich der Tageszeitung »Der Freitag«. Via Twitter-Account finde ich Artikel und Personen, die zum Widerspruch anregen, zum Beispiel einen Artikel mit Fettlogik und Verschwörungstheorie.

Bereits 1972 wurde gewarnt, dass #Zucker viel gefährlicher sei als Fett. Warum wurden die Befunde so lang ignoriert? [Tweet]

Außerdem war ich vor vielen, vielen Jahren kurzzeitig Blogger in der »freitag«-Community und habe es mit einem Zitat in die Printausgabe geschafft ;-)

Ausriss »Freitag«-Printausgabe aus dem Jahr 2009

Ausriss »Freitag«-Printausgabe aus dem Jahr 2009 oder 2010(?)



01.12.2016

Heute ist mir ein Beitrag der links-alternativen taz positiv aufgefallen und ich folge nun der Autorin Doris Akrap.


[Hinweis: Ich lege im Normalfall großen Wert darauf, Artikel entweder nicht mehr zu ändern oder die Änderungen zu kennzeichnen. Dieser Artikel wird sich natürlich recht oft ändern.]