Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer von »Pulse of Europe« in Dresden,
am vergangenen Sonntag habe ich Ihre Kundgebung besucht und fotografiert. Die Kontroverse um die Teilnehmerzahl möchte ich nun ruhen lassen und stattdessen inhaltlich an einige Punkte anknüpfen.
Ich bin als junger Student seit dem 8. Oktober 1989 für Demokratie und Redefreiheit auf die Straße gegangen. Wir waren begeistert von der Idee »Wir bleiben hier!« und wir wollten unser Land ändern. Deshalb kann ich den Enthusiasmus verstehen, mit dem sich Menschen heute für »Pulse of Europe« einsetzen:
Das Ergebnis des #Brexit-Referendums war für mich bitter. Ich fand es aus Sicht der Demokratie gut, dass sich die Menschen entscheiden konnten. Ich hätte aber immer darauf gewettet, dass 50% + x für einen Verbleib stimmen würden. Das Vereinigte Königreich fehlt jetzt schon als Anwalt der Freiheit und die politischen Folgen für die verbleibende EU sind noch gar nicht auszudenken.
Ich bin ein vorsichtiger Befürworter der EU. Ich bin ein Befürworter des freien Handels. Zwischen nationaler Souveränität und der EU, zwischen europäischen und globalen Interessen muss jeweils eine gesunde Balance gefunden werden. Ich kann also verstehen, dass Dresdnerinnen und Dresdner zu »Pulse of Europe« gehen.
Aber »Pulse of Europe« hilft bei der Entwicklung der EU nicht weiter. Der entscheidende Unterschied zum Oktober 1989 ist: Damals wurden die Probleme der DDR auf der Prager Straße offen benannt. Gestern wurden die entscheidenden Probleme Europas auf dem Neumarkt weitgehend verschwiegen. Allenfalls die Symptome kamen zur Sprache. Das Verschweigen der Probleme hat aber zu den Problemen geführt, die wir heute in Europa haben.
Geschwiegen wurde lange Zeit über die riesigen Staatsschulden einiger Länder. Geschwiegen wird bis heute weitgehend über die Auswirkungen der EZB-Politik auf den langfristigen Wert des Euro. Geschwiegen wurde lange über die riesigen Qualitätsunterschiede zwischen den staatlichen Verwaltungen innerhalb der EU. Ausgeprägte Klientelpolitik, Bürokratie und Korruption in einigen Staaten kommen hinzu.
Als die Auswirkungen dieser und anderer Probleme nicht mehr verschwiegen werden konnten, wuchsen die Populisten heran, die heute für eine Spaltung Europas trommeln. Es gibt nun gegen die rechten und linken Nationalpopulisten drei garantiert unwirksame Gegenmittel: Ausgrenzen ihrer Wählerschaft, Bagatellisieren der Probleme und Weitermachen wie bisher.
Seit ich für Demokratie und Redefreiheit auf die Straße gegangen bin, habe ich keine einzige Wahl versäumt. Ich habe bei all diesen Wahlen niemals eine radikale oder populistische Partei gewählt. Ich werde das nie tun.
Aber ich höre (auch) Menschen zu, die mit hoher Wahrscheinlichkeit AfD wählen. Ich nehme ihre Tweets wahr. Ich habe »Rückkehr nach Reims« und andere Bücher gelesen, in denen über die Beweggründe der Wähler des Rechtspopulismus nachgedacht wird. Ich habe mir aus konservativen, liberalen und auch linken Quellen ein Gesamtbild zusammengesetzt.
»Pulse of Europe« wollte ja gestern verhindern helfen, dass in Frankreich nicht die Rechtspopulistin Le Pen an die Macht gewählt wird. Aber mit einer Veranstaltung in dieser Form werden Sie niemanden davon abbringen, rechtspopulistische Parteien zu wählen.
Wenn Sie den noch beeinflussbaren Teil der EU-Skeptiker ansprechen wollen, dann laden Sie sie ein und hören Sie ihnen einfach erst mal zu. Es ist keine Kunst, auf dem Neumarkt zu den bereits Bekehrten zu predigen. Es ist eine Kunst, die noch nicht Bekehrten zu überzeugen.
Wer andere überzeugen will, braucht auch ein überzeugendes Leitbild. Die zentrale Organisation von »Pulse of Europe« hat sich auf Facebook das folgende Motto gegeben:
Überzeugte Europäer und Demokraten müssen jetzt positive Energie aussenden, die den aktuellen Tendenzen entgegenwirkt. Der europäische Pulsschlag.
Dieses Motto ist dreifach kontraproduktiv: Erstens grenzt es die demokratischen EU-Skeptiker aus (die bei weitem nicht alle Rechtspopulisten sind). Zweitens bagatellisiert es die brennenden Probleme der EU als »Tendenzen«. Drittens gibt kein Ziel für Veränderungen vor.
Ich bin ein Demokrat. Ich bin ein Befürworter der EU. Mir gefallen die aktuellen Entwicklungen überhaupt nicht. Ich habe also wirklich versucht, dem Motto einen Sinn zu entnehmen. Aber dieses Motto ist politisch so leer, dass man eigentlich noch heiße Luft hineinpumpen müsste.
Ich weiß nicht, ob es das Ziel von »Pulse of Europe« ist, dass die Presse ein paar schöne Bilder und Zahlen veröffentlicht, die jeder Beteiligte für sich selbst interpretieren kann. Dieses Ziel ist problemlos zu erreichen, solange die Presse das Spiel mitspielt. Was ich gestern in Dresden inhaltlich gehört habe, kann ich zwar emotional verstehen, aber politisch ist es dehnbar wie ein Kaugummi.
Mancher Spruch brachte den sicheren und schnellen Beifall: Abbau aller Grenzen, Reduzierung der Verteidigungsausgaben, höhere Entwicklungshilfe. Wir sollten alle Esperanto lernen, damit wir uns in der EU besser verstehen (diese Idee kam mir aus der DDR bekannt vor). Und eine Welt ohne Kapitalismus wurde auch gewünscht. Nichts davon war zu Ende gedacht. Aber die tatsächlichen Probleme sind eben nicht für die Wohlfühltreffen am Sonntagnachmittag geeignet.
PS: Ich werde an den folgenden Sonntagen nicht wieder auf die Aussichtsplattform der Frauenkirche steigen, um mir ein Bild der Kundgebung zu machen. Diese Aktion hat mir gezeigt, wie die Veranstalter mit Zahlen umgehen, wie die Presse berichtet und wie man dort auf Hinweise reagiert. Sie war mir in mehrfacher Hinsicht eine Lehre.