Was die Medien aus der nicht repräsentativen U-18-Wahl machen

16. September 2017

[Hinweis: Der folgende Artikel bezieht sich zwar auf Sachsen. Die Aussagen über die fehlende Repräsentativität der Zahlen gelten aber auch für jedes andere Bundesland. Die Datenbasis ist in anderen Bundesländern sogar noch schlechter.]


Die Redaktion der »Sächsischen Zeitung« berichtet heute über die U-18-Wahlen in Sachsen und stellt dabei folgende Zahl in den Mittelpunkt:

»Die Alternative für Deutschland (AfD) hat unter den Wählern von morgen in Sachsen besonders viel Zustimmung. Bei der sogenannten U18-Bundestagswahl stimmten am Freitag 15,46 Prozent für diese Partei. […] Damit liege die AfD in Sachsen auch weit über dem Bundesdurchschnitt. Dort erreichte die Partei 6,74 Prozent.«

Beide Aussagen sind irrelevant. Zum einen ist die U-18-Wahl weder für Sachsen noch für den Bund repräsentativ. Wenn man aber zwei nicht repräsentative Zahlen miteinander vergleicht, kann dabei nichts Sinnvolles herauskommen. Zum anderen ist die Wahlbeteiligung sehr gering.

An den U-18-Wahlen in Sachsen haben 12.200 junge Menschen teilgenommen. In Sachsen gibt es aber etwa 450.000 Schülerinnen und Schüler [Quelle: Destatis, siehe unten]. Wir können also von einer »Wahlbeteiligung« unter vier drei Prozent ausgehen.

Schon diese Zahl zeigt, wie gering der Anteil der jungen Leute tatsächlich ist, die die AfD nachweislich unterstützen, indem sie sich aktiv zugunsten der AfD an der U-18-Wahl beteiligen: es sind knapp 2.000 von 450.000 Kindern und Jugendlichen.


Nun könnte man einwenden, dass die Stichproben bei repräsentativen Umfragen viel kleiner sind: Bei der »Sonntagsfrage« werden meist zwischen 1.000 und 2.000 erwachsene Deutsche befragt.

Das Ergebnis der #U18Wahl kann aber für die »Wähler von morgen in Sachsen« nicht repräsentativ sein. Dafür gibt es mehrere Gründe:

Die jungen Leute wurden nicht nach den Regeln der Demoskopie ausgesucht und dann befragt, sondern sie konnten sich selbst entscheiden, ob sie an der Abstimmung teilnehmen möchten. Also nahmen politisch engagierte junge Leute mit höherer Wahrscheinlichkeit an der U-18-Wahl teil als nicht engagierte.

In den teilnehmenden Schulen und Jugendeinrichtungen wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (vermutlich) durch Lehrkräfte und Betreuer zur Teilnahme motiviert. Das ist als Schulung in Demokratie unbedingt zu begrüßen – aber es ergibt natürlich kein für Sachsen repräsentatives Bild: Wo es weit und breit gar keine U-18-Wahlen gab, fehlte diese Motivation.

Die Wahllokale der U-18-Wahlen in Sachsen sind nämlich vor allem in den großen Städten Dresden, Leipzig und Chemnitz konzentriert. In der Sächsischen Schweiz gibt es kein einziges U-18-Wahllokal (die nächste Möglichkeit wäre in Pirna). In der ganzen Stadt Riesa gibt es kein U-18-Wahllokal – junge Leute müssten entweder nach Oschatz oder nach Großenhain fahren. Im Erzgebirge oder auch in Nordsachsen gibt es nur wenige Möglichkeiten zum Mitmachen.

Somit hat die »Sächsische Zeitung« ein weiteres Mal gezeigt, dass in der Redaktion in Sachen Statistik und Demoskopie noch viel Verbesserungsbedarf besteht …


Ergänzung 1: Deutschland hat knapp elf Millionen Schülerinnen und Schüler. An der U-18-Wahl haben sich 220.000 Schülerinnen und Schüler beteiligt. Das entspricht also zwei Prozent. Für die Repräsentativität gilt bundesweit dasselbe, was ich zu Sachsen geschrieben habe.


Ergänzung 2: Die ZEIT übernimmt zwar alle Fehlschlüsse von dpa, aber sie ergänzt wenigstens die Worte »nicht repräsentativ«. Obwohl dann natürlich die Ausdrucksweise des ganzen Artikels nicht mehr stimmt …


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Ermächtigungsgesetz und Euthanasie

9. September 2017

In den sozialen Netzwerken und in der »Sächsischen Zeitung« wurde heute kontrovers über den Tagesordnungspunkt 9 der letzten Stadtratssitzung diskutiert: »Wir entfalten Demokratie. Lokales Handlungsprogramm für ein vielfältiges und weltoffenes Dresden«.

Dabei wurde eine unglückliche Formulierung des CDU-Stadtrats Böhme-Korn in den Mittelpunkt gestellt: Um zu zeigen, dass die Demokratie zu unerwünschten Ergebnissen führen kann, führte er das Ermächtigungsgesetz von 1933 an. Das war ein unglücklich gewähltes Beispiel:

Kurz vor der entscheidenden Reichstagssitzung war zwar noch einmal der Reichstag gewählt worden, aber die Wahl und die letzten Sitzungen dieses Reichstags standen schon unter dem Druck der Nazis. Von einer freien Parlamentssitzung kann also nicht mehr die Rede sein. Unumstritten ist jedoch, dass die Fehler und Schwächen der Demokratie in der Weimarer Republik zum Erstarken der NSDAP und letztlich zur Machtergreifung Hitlers führten.

Ergänzung: Bei ca. 3:28 h beginnt in der Aufzeichnung die etwa siebenminütige Rede von Herrn Böhme-Korn. Es lohnt sich, sie im Zusammenhang zu hören.


Leider hat die »Sächsische Zeitung« als führende Lokalzeitung tendenziös über die Sitzung berichtet, indem sie allen Ernstes aus einem gleichartigen Abstimmungsverhalten der Opposition im Stadtrat eine »Allianz« konstruierte. Man muss es leider so klar sagen: Das ist kein objektiver Bericht über die Sitzung. Zitat:

Denn der Rat diskutierte knapp zwei Stunden darüber. Es gab eine Allianz zwischen CDU, FDP, AfD und NPD dagegen, eine zum Teil unterirdische Debatte und die Bemühungen von Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP), den Ruf der Stadt aufzupolieren und die gespaltenen Dresdner zu einen, wurden ausgerechnet vom Rat torpediert.

Was es wirklich gab: differenzierte Argumente demokratisch gewählter Stadträte gegen das Handlungsprogramm. Was es ebenfalls gab: ein gleichartiges Abstimmungsverhalten gegen das Programm. Es gab aber keinerlei argumentative oder organisierte »Allianz«. Zur Erinnerung: Eine Allianz ist ein vertraglich geregeltes Verhältnis zwischen gleichberechtigten Partnern.

In einer demokratischem Abstimmung kann es nur die Möglichkeiten JA, NEIN und Enthaltung geben. Ein »Nein, aber nicht so wie die AfD und die NPD« ist in der Satzung des Stadtrats nicht vorgesehen.


Eine Abgeordnete der Linken konstruierte daraufhin eine Zusammenarbeit demokratischer Parteien mit Neonazis:

Krass. #Dresden. #AfD, #CDU, #NPD & #FDP vereint gegen ein Stadtprogramm gegen rechts.

Das ist einfach nur verzerrend und bösartig. Aus einem gleichen Abstimmungsverhalten ein »vereint« konstruieren ist schon deshalb Unsinn, weil die NPD in sozialen Fragen durchaus auch mit der Linken stimmt.

Und warum sollte man das skandalisieren? Was wäre z. B. daran falsch, wenn auch Rechte für ein Sozialticket im ÖPNV stimmen würden, weil aus ihrer Sicht die Vorlage richtig ist? Wird der Beschluss dadurch entwertet?


Im weiteren Verlauf der sehr müden Debatte hat der Grünen-Stadtrat Schmelich folgendes gesagt [etwa bei 4:05:30 beginnt sein Beitrag in der Aufzeichnung]:

Ich soll die CDU jetzt nicht provozieren, wurde mir gerade mit auf den Weg gegeben. Das ist schwer. Das ist eine echte Herausforderung zu später Stunde. […]

[Einige Sätze später spricht Schmelich die CDU an:]

Und was ich von Ihnen höre, ist das Plädoyer für die Euthanasie der Demokratie, für das Einschläfern der Demokratie.

[Zwischenrufe, Glocke]

Das heißt nichts anderes als Einschläfern.

Ohne die beiden unglücklich gewählten Worte aufrechnen zu wollen: Warum wird über diese völlig überflüssige Bemerkung eigentlich nicht diskutiert? Schmelich wirft der CDU nichts anderes vor, als die Demokratie zu töten.

Alle Bedeutungen von Euthanasie laufen auf den Tod hinaus: »einschläfern« im Sinne von »euthanasieren« ist nichts anderes als ein euphemistischer Begriff für das Töten eines Tieres.

Die Hauptbedeutung von »Euthanasie« ist (bezogen auf ein totalitäres System) das systematische Töten von Menschen, die das System als nicht lebenswert einstuft.

Vor der NS-Zeit gab es das Wort »Euthanasie« noch im Zusammenhang mit »Sterbehilfe«. Aber auch das passt natürlich überhaupt nicht: Die CDU ermordet die Demokratie nicht und sie leistet auch keine Sterbehilfe.



Wie die ZEIT ihre Leser in Sachen Parteiprogramme verwirrt

1. September 2017

In einem aktuellen Artikel der ZEIT werden Wahlprogramme mit statistischen Methoden untersucht. Es wird mehrmals betont, dass diese Untersuchung »computergestützt« erfolgte. Der dazugehörige Artikel ist so fehlerhaft, dass er mich zum Widerspruch herausfordert.


Auf die Länge kommt es nicht an

Der Autor des Artikels hat mit Skripten in der Statistik-Programmiersprache R nach dem längsten Wort, dem längsten Satz und dem längsten Parteiprogramm gesucht. Er hat über die Wortlänge herausgefunden:

Das längste Wort der sechs Programme ist übrigens die Mindestlohndokumentationspflichtenverordnung, welche die FDP abschaffen will.

Dieses Wort stammt allerdings gar nicht von der FDP, sondern es bezeichnet eine tatsächlich vom Gesetzgeber erlassene Verordnung. Wer diese Verordnung abschaffen will, muss sie natürlich auch benennen dürfen. Hätte die Partei die gängige Abkürzung MiLoDokV verwendet, dann hätte niemand etwas damit anfangen können.

Zweifelhaft ist auch der rein quantitative Vergleich der Satzlängen: Einen gut geschriebenen langen Satz kann man »abwickeln« wie eine Schriftrolle – er kommt dem Leser entgegen und wird unmittelbar verstanden. Bei einem schlecht geschriebenen langen Satz muss man immer wieder nach dem Anfang oder nach dem letzten Orientierungspunkt suchen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass es auch hierbei nicht auf die Länge ankommt. Somit hat es aber auch keinen Sinn, den längsten Satz jedes Parteiprogramms zu identifizieren.

Der Vergleich der Längen literarischer Werke oder politischer Programme ist letztlich genauso irrelevant: Man kann ein langes, spannendes, gut geschriebenes Werk bis zum Ende lesen und man kann ein kurzes, langweiliges, schlechtes Werk gähnend weglegen.

Fazit 1: Die Wortzahl ist nicht das entscheidende Kriterium für die Bewertung von Parteiprogrammen. Die Länge des längsten Satzes ist für das Verständnis irrelevant – es kommt auf dessen Qualität an. Die häufige Verwendung sehr langer Wörter gilt zwar als Kennzeichen schwer verständlicher Texte, aber dazu wurde offenbar keine Untersuchung vorgenommen.


Lesbarkeit und Verständlichkeit der Wahlprogramme

In dem ZEIT-Artikel ist eine Grafik enthalten, in der folgender Sachverhalt dargestellt werden soll:

Der hier verwendete Index gibt an, wie viele Bildungsjahre ungefähr nötig sind, um einen Text verstehen zu können. Zum Vergleich die durchschnittliche Werte für Texte des Sozialwissenschaftlers Niklas Luhmann und einem Dossierartikel aus DIE ZEIT.

Abgesehen davon, dass das »Bildungsjahr« nirgendwo im Artikel definiert ist: In der Grafik werden mit der »Illusion der Präzision« (Walter Krämer) Werte auf zwei Kommastellen genau dargestellt.

Auf zwei Kommastellen genau! Ein Zehntel eines Jahres sind ca. 36 Tage, ein Hundertstel sind ca. dreieinhalb Tage. Man kann sich die zugehörigen Daten herunterladen [unterhalb der Grafik steht Quelle: WZB und »Daten«] und stößt dabei auf folgende Angaben:

AfD,11.5948037684511
CDU/CSU,10.3210168503582
FDP,11.1246488076462
Grüne,10.5654073529334
Linke,11.0994424518685
Luhmann,12.8551158189592
SPD,11.209526051119
ZEIT Dossier,8.2088166524783

An dem Balkendiagramm und an den Angaben im Artikel ist bereits erkennbar, dass die Berechnung keine sinnvolle Grundlage haben kann. Muss man sich wirklich 88 Tage länger bilden, um nach dem CDU-Programm (10,32 Bildungsjahre) auch das Programm der Grünen (10,56 Bildungsjahre) zu verstehen? Aber ganz abgesehen von der Illusion der Präzision und von den lächerlichen Unterschieden zwischen den »Bildungsjahren«, die man für Parteiprogramme benötigen soll, gibt es folgende sachliche Einwände:

Menschen haben eine unterschiedliche Auffassungsgabe. Jeder Mensch lernt anders. Jeder Mensch baut anderes Wissen auf und braucht anderes Wissen. Jeder Mensch macht andere Erfahrungen. Vor zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren lernte man anders als heute.

Dazu kommt: Deutschland ist ein föderaler Staat mit sehr unterschiedlichen Bildungssystemen und sehr unterschiedlicher Bildungsqualität. Ein Bildungsjahr in Bremen und ein Bildungsjahr in Bayern sind so schwer zu vergleichen wie das Bremer Abitur und das Abitur in Bayern.

Verzeihen Sie mir bitte den harten Ausdruck: Es ist völliger Blödsinn, die Bildungswege von Millionen wahlberechtigten Deutschen unterschiedlichster Intelligenz zwischen 18 und über 90 Jahren auf »Bildungsjahre« herunterzubrechen. Selbst wenn der Intelligenzquotient irgendwie in die Definition des Bildungsjahres einbezogen sein sollte, wären die Bildungsjahre immer noch nicht vergleichbar.

Dass man Texte nicht allein anhand quantitativer Analysen der Wortlänge und der Satzlänge einschätzen kann, wurde oben schon gezeigt. Auch der Vergleich der Komplexität eines Textes von Prof. Luhmann mit der Komplexität des Parteiprogramms der AfD ist von eher geringer Aussagekraft. Das alles hindert die ZEIT nicht an der vollmundigen Behauptung:

Das belegen Lesbarkeitsindices, denen einen Analyse der durchschnittlichen Wort- und Satzlängen zugrunde liegt. Der hier verwendete Index gibt ungefähr an, wie viele Bildungsjahre nötig sind, um einen Text verstehen zu können. Zwar sind die Programme deutlich einfacher zu verstehen als ein Text von Niklas Luhmann, aber auch deutlich schwieriger als beispielsweise das Dossier der ZEIT. [Hervorhebung von mir]

Fazit 2: Weder mit der quantitativen Analyse der Wahlprogramme noch mit dem zweifelhaften Ansatz eines wie auch immer gearteten »Bildungsjahres« kann man belegen (was für ein großes Wort!), welches Parteiprogramm schwerer oder leichter verständlich ist. Fast genauso sinnvoll wäre eine Untersuchung des Kaffeesatzes aus den Büros der Parteivorsitzenden.


Zur Stimmung der Parteiprogramme

Schließlich geht der ZEIT-Artikel auf die Stimmung der Programme ein: sind sie eher positiv oder negativ »aufgeladen«? Diese Berechnung hat etwas mehr Hand und Fuß, wird aber von der ZEIT falsch dargestellt:

Das CDU-Programm 2017 ist das bisher optimistischste
Das Verhältnis von positiven zu negativen Wörtern in den Wahlprogrammen. Werte über 0 zeigen eine positive Stimmung, Werte unter 0 eine negative.

Wenn man sich die Zahlen dazu anschaut, wird deutlich, dass das nicht stimmen kann. Das Verhältnis zwischen positiven und negativen Wörtern in den Wahlprogrammen kann nicht gemeint sein. Würden in einem Programm z. B. hundert positive und zweihundert negative Wörter stehen, ist das Ergebnis eine Verhältniszahl von 0,5.

Was vermutlich wirklich untersucht wurde: Das Verhältnis zwischen den positiven Wörtern und der Gesamtzahl der Wörter eines Parteiprogramms. Und parallel das Verhältnis zwischen den negativ besetzten Wörtern und der Gesamtzahl der Wörter. Das lassen zumindest die Grafiken auf der zugehörigen Github-Seite unter »Sentiment« vermuten.

Fazit 3: Den einzigen halbwegs sinnvollen qualitativen Ansatz, nämlich die Suche nach positiv oder negativ besetzten Wörtern, vermasselt die ZEIT mit einer falschen Darstellung. Dazu hätte ich gern mehr erfahren.