Adventskalender [2]: Wie es einmal war und wie es nie wieder werden wird

[Teil 1: Besseres Kommunizieren]

Ich hatte gestern versprochen, meine Argumentation aus dem Aptum-Artikel schrittweise vorzustellen und zu kommentieren. Der Artikel beginnt so:

Diskussionsgruppen und soziale Netzwerke bilden ein soziales Umfeld, in dem Informationen ausgetauscht werden. Zu Beginn waren die Gruppen exklusiv: Sie waren den wenigen Menschen vorbehalten, die einen Internetzugang hatten. Diese legten ihre Regeln selbst fest und setzten sie in einer Art Selbstverwaltung durch. […] Heute sind die sozialen Netzwerke nicht mehr exklusiv, sondern ein Spiegelbild (fast) der gesamten Gesellschaft. Die Regeln werden von wenigen großen Internetunternehmen vorgegeben und durchgesetzt. Der Staat strebt seit 2016/17 eine stärkere Regulierung an.

Gemeint sind damit die Newsgroups, zu denen ich kurz nach der Wende selbst gehören durfte. Zum einen waren das Gruppen für Unix und das Textsatzsystem TeX/LaTeX. Zum anderen waren es auch schon Gruppen über Religion, weil ich damals aus einer religiösen Sondergemeinschaft ausgestiegen bin und später anderen dabei geholfen habe.

In den Diskussionen im Netz hat es von Beginn an Konflikte gegeben. In diesen Konflikten wurden immer auch Äußerungen eingesetzt, die als beleidigend, provozierend und ausgrenzend aufgefasst werden können: um Macht zu demonstrieren oder Regeln durchzusetzen, aber auch um Personen zum Verstummen zu bringen oder sie sozial zu diskreditieren.

Es galt damals nicht als Grobheit, wenn man jemanden mit etwas deutlicheren Worten darauf hingewiesen hat, dass es eine FAQ gibt. Dass man bei Problemen mit LaTeX entweder ein lauffähiges Minimalbeispiel angeben oder lange auf Antworten warten muss. Dass es einen Preis für die nutzloseste Anwendung des Unix-Befehls »cat« gibt.

Diese Hinweise hatten einen technischen und ökonomischen Sinn: Arbeitszeit, Netzdurchsatz und Speicherplatz waren teuer. Deshalb wurden deutliche Worte verwendet, die vermutlich heute schon als Hassrede interpretiert werden könnten. Tatsächliche Beleidigungen waren verpönt und sie konnten zum Ausschluss aus der Gruppe führen.


Allerdings bekamen diejenigen, die sich dann doch nicht benehmen konnten, durchaus auch mal eine »Merkbefreiung« ausgestellt:

Die nachstehend eindeutig identifizierte Lebensform

Name                 : ____________________
Vorname              : ____________________
Geburtsdatum         : __________
Geburtsort           : ____________________
Personalausweisnummer: ____________________

ist hiermit für den Zeitraum von

        [_]  6 Monaten
        [_] 12 Monaten
        [_] 24 Monaten
        [_] unbefristet

davon befreit, etwas zu merken, d.h. wesentliche
Verhaltensänderungen bei der Interaktion mit denkenden Wesen zu
zeigen. 

[Quelle]


Letztlich war das aber keine Hassrede, sondern nur ein klares »Nicht weiter so!« – ich kann mich an manche Person erinnern, die vernünftiger zurück kam und dann wieder mitmachen durfte.

Wenn ich heute zurückblicke: Es war eine schöne Zeit. Die Welt im Netz war recht klein, die Welt außerhalb des Netzes hat uns weitgehend ignoriert. Weil niemand ausgeschlossen wurde und weil die Welt um uns herum kein Interesse am Netz hatte, kann man diese Gruppen im Grunde auch nicht als privilegiert bezeichnen.

Aus den Zeiten der Newsgroups stammt auch der heute antiquierte Begriff »Netiquette«. Diese Regeln wurden von Enthusiasten für Enthusiasten gemacht, von Gleichgesinnten für Gleichgesinnte, von Gleichen für Gleiche.


In meinem Artikel geht es zum Thema unerwünschte Äußerungen so weiter:

Derartige Äußerungen können je nach Perspektive unterschiedlich wahrgenommen werden: als Mittel zum Zweck, als unfaire Rhetorik, als kalkulierte Ausgrenzung oder auch als Hass.

Die Wahrnehmung einer Äußerung ist abhängig von den Werten und Normen des sozialen Umfelds sowie vom Bildungsstand, von der Qualifikation und nicht zuletzt von den persönlichen Werten und Normen der Adressaten:

Ein und dieselbe Äußerung kann als legitimer rhetorischer Kunstgriff, als beleidigend, als passend oder unpassend empfunden werden. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Einordnung auch vom persönlichen Kalkül, von politischen oder von geschäftlichen Interessen bestimmt sein kann.

… und die Fortsetzung (mit meiner Definition der Hassrede) folgt morgen.


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8 Responses to Adventskalender [2]: Wie es einmal war und wie es nie wieder werden wird

  1. Thomas sagt:

    Ausstieg aus religiösen Sondergemeinschaften

    Als Student wurde ich durch einen Freund dazu gebracht, während meiner Studentenzeit dabei behilflich zu sein, Menschen aus destruktiven Kulten bzw. deren Angehörigen zu helfen.

    Die Aussteiger hatten meist später ein sehr feines Sensorium, was diktatorische Dinge anging.

    • UweC sagt:

      „Die Aussteiger hatten meist später ein sehr feines Sensorium, was diktatorische Dinge anging.“

      Imad Karim zum Beispiel.
      Zieht sich wie ein roter Faden durch seine Veröffentlichungen.

  2. UweC sagt:

    Doppelter Kommentar auf Wunsch des Absenders gelöscht.

  3. andi0077 sagt:

    Ja, das habe ich genauso erlebt.
    Auch ich habe zu einer Zeit mit der Nutzung des Internets angefangen, als es noch ein exklusiver Ort für wirklich Computer Interessierte war.
    Zu der Zeit, Mitte der 90er Jahre, musste man noch über ein gewisses Wissen verfügen, um die Verbindung überhaupt einrichten zu können.
    Da konnte man in den Netzangeboten noch viele intelligente angenehme Menschen kennenlernen.
    Und chatten hat noch einen echten Wert gehabt.
    Dann ging es gegen Ende der 90er Jahre los und es kam diese unselige Werbung mit Boris Becker: „Bin ich da schon drin? das ist ja einfach.“
    Da habe ich zu meinen damaligen Kollegen in der Technikerschule gesagt: „Jetzt kommt das ganze „Volk“ rein und die werden das zerlegen, bis es irgendwann zerstört ist.“
    Leider muss ich jetzt, 20 Jahre später sagen, dass ich Recht hatte.
    Ich hätte mich so gerne geirrt. Manchmal will man garnicht Recht haben.
    Auch viele andere Dinge sind leider so gekommen, wie ich das vor 20 Jahren „vorausgesagt“ hatte.
    Ich will überhaupt nicht im geringsten daran denken, wie es wohl in 20 Jahren aussehen wird, dann wird mir nämlich wahrscheinlich einfach nur noch total übel.
    Es ist schon traurig, wie Alles, was nach dem zweiten Weltkrieg von unseren Großeltern und Eltern im Schweiße des Angesichts aufgebaut wurde, nun im „Wahn“ einer neuen linken Ideologie wieder geopfert wird.
    Womit wohl auch die Frage beantwortet sein dürfte, ob die Menschen aus der Geschichte gelernt haben.
    Leider nein.

  4. andi0077 sagt:

    Hi, ich habe gestern unter meinem WordPress Konto, unter dem ich gerade ebenfalls angemeldet bin kommentiert.
    Der Kommentar ist nicht sichtbar.
    Habe ich einen Fehler gemacht, oder war der Kommentar nicht in Ordnung?

    • stefanolix sagt:

      Ich war auf einer beruflichen Reise und konnte jetzt erst nachsehen. Der Kommentar war nicht in der Kommentar-Warteschleife, sondern tief im Spam. Unerklärlich, da er keinen einzigen Link enthält …

      Eventuell hast Du ihn extern geschrieben und am Stück in das Kommentarfenster kopiert? Jetzt ist er jedenfalls sichtbar.

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