Was ist die EU-Politik der SPD wert?

Der Vorsitzende Martin Schulz fordert gestern in einer Parteitagsrede »Vereinigte Staaten von Europa« bis 2025 selbst um den Preis des Austritts von EU-Staaten. Jeder kann sich ausrechnen, wie viele Jahre es bis dahin noch sind.

Martin Schulz will einen Weg gehen, der bereits beim ersten Hinschauen große Zweifel aufkommen lässt. Die FAZ gibt es so wieder:

Der Verfassungsvertrag müsse von einem „Konvent“ geschrieben werden, der die „Zivilgesellschaft“ mit einbeziehe. Die Mitgliedstaaten, die nicht zustimmten, müssten die EU „automatisch“ verlassen.

Wenn Berufspolitiker »Zivilgesellschaft« sagen, dann ist mir unmittelbar klar, dass sie damit nicht das Volk meinen. Dann meinen sie bestenfalls Interessenvertreter aus Verbänden und Repräsentanten der klassischen politischen Parteien. Von den sogenannten GONGOs (das sind staatlich finanzierte Pseudo-NGOs) gar nicht zu reden.

Das bedeutet: genau die Interessenvertreter und Repräsentanten, die sich fast überall in Europa von der eigentlichen Bevölkerung entfernt haben und in einer Legitimationskrise stecken. Deutliche Zeichen dieser Krise sind die Stimmen für den Brexit und für die populistischen Parteien auf beiden Seiten des politischen Spektrums.

Ein solcher Konvent wäre demokratisch kaum zu legitimieren und in der Praxis vermutlich auch kaum arbeitsfähig. Gesetzt den Fall, dass dabei grob geschätzt 20 EU-Staaten mit 400 Millionen Menschen mitmachen würden: Wie sollen bitte alle wesentlichen Schichten der Bevölkerung, alle regionalen ethnischen Gruppen und die politischen Hauptrichtungen auch nur annähernd repräsentiert werden?

In der Bevölkerung Deutschlands wünscht sich definitiv keine verfassungsändernde Mehrheit einen EU-Staat, wie man z. B. an der sehr schwachen Beteiligung an »Pulse of Europe« sehen konnte. Deutschland müsste also Repräsentanten entsenden, die bei weitem nicht für die ganze Bevölkerung stünden.

Ich bin gegen den Brexit, ich bin gegen den Populismus von rechts und links, ich bin für eine behutsame europäische Einigung durch wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Es mag sein, dass bis zum Jahr 2050 oder 2075 der Wunsch nach einem EU-Staat entsteht. Aber unter Zeitdruck, Kostendruck und Einigungsdruck wird die EU eher explodieren.


Welche Motivation könnte hinter dieser offensichtlich unerfüllbaren Forderung des Martin Schulz stehen? Ich mag nicht spekulieren – aber mit politischem Realismus und Realpolitik hat Martin Schulz‘ Forderung nichts zu tun.

Einerseits ist es menschlich nachvollziehbar, dass er Europa einen Einigungsprozess wünscht. Andererseits muss ihm nach seiner jahrelangen Tätigkeit in den EU-Institutionen klar sein, dass der größte Teil Europas dabei nicht mitziehen will oder gar nicht mitziehen kann. Jedenfalls nicht bis 2025 und unter Druck.


In dieser Situation gibt die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles ein Interview im Deutschlandfunk. Darin ist praktisch gar nicht mehr von den »Vereinigten Staaten von Europa« bis 2025 die Rede, sondern nur noch von überschaubaren politischen Zielen.

Wem sollen wir denn nun glauben?


Wichtige Interviews im DLF werden meist transkribiert. Das Interview mit Andrea Nahles sollte im Laufe des Tages hier verfügbar sein.

Als Nachtrag Andrea Nahles in voller Länge zu den »Vereinigten Staaten von Europa« ihres Parteivorsitzenden:

Nahles: Das ist ein langfristiges Ziel, das die SPD schon lange hat, und niemand wird bestreiten können, dass die institutionellen Grundlagen der Europäischen Union nicht mehr zeitgemäß sind. Deswegen ist das nächste, was wir anpacken müssen, ganz konkret die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Nächster Schritt muss auch sein, dass wir den EU-Haushalt zu einem Investitionshaushalt machen und auch soziale Mindeststandards realisieren, also eine Vertiefung. Und wir haben in den letzten Jahrzehnten erlebt vor allem eine Verbreiterung, eine Vergrößerung der Europäischen Union, und wir merken jetzt, dass das an Grenzen kommt. Deswegen ist das eine absolut wichtige Zielbeschreibung; das ist aber auch eine langfristige Zielbeschreibung.


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13 Responses to Was ist die EU-Politik der SPD wert?

  1. Uwe sagt:

    >In der Bevölkerung Deutschlands wünscht sich definitiv keine verfassungsändernde Mehrheit einen EU-Staat

    stimmt, keine verfassungsändernde Mehrheit. Fragt sich, ob es die braucht.

    Sehr wohl wünscht sich eine knappe absolute Mehrheit den EU-Staat (derzeitiger Stand der diesbezügl. Abstimmung bei SPON, >40000 Teilnehmer per 8.12.17 14:20). Eine Volksabstimmung hierüber liesse sich mit einer Abstimmung über eine neue deutsche Verfassung kombinieren. Da reicht die einfache Mehrheit.

  2. Uwe sagt:

    Alles nicht so einfach und sicherlich nicht zu 100% zeitnah umsetzbar. So ist das praktisch immer bei Visionen.

    Ähnlich nebulös empfinde ich allerdings auch die Gegenargumente. Diese zwei mal rausgegriffen.

    >die Interessenvertreter und Repräsentanten, die sich fast überall in Europa von der eigentlichen Bevölkerung entfernt haben und in einer Legitimationskrise stecken

    Da stecken mindestens 2 Behauptungen drin, die klarer definiert und belegt werden sollten.

    a) welche Repräsentanten haben sich angeblich von der „eigentlichen“ Bevölkerung entfernt? Und wer ist dann die „uneigentliche“ Bevölkerung?

    b) und inwiefern sollte den Repräsentanten die Legitimation fehlen so sie von den gewählten Parteien oder auch Parlamenten proportional zur letzten Bundestagswahl entsandt werden?

    • Petra sagt:

      „Alles nicht so einfach und sicherlich nicht zu 100% zeitnah umsetzbar. So ist das praktisch immer bei Visionen. “

      Ein berühmter Sozi wusste noch: Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.

      • Uwe sagt:

        und ich dachte, das sei Adenauer gewesen.

      • Beobachter sagt:

        und ich dachte, das sei Adenauer gewesen.

        Adenauer mit einer bürgermeisterhaften Art hat absichtlich das Gegenteil zu den daueraktionistischen Nazis dargestellt (Keine Experimente!). Insoweit hätte das auch von ihm kommen können.
        Es kam jedoch weit nach Adenauer, vom Kettenraucher.

    • Werwohlf sagt:

      a) welche Repräsentanten haben sich angeblich von der „eigentlichen“ Bevölkerung entfernt? Und wer ist dann die „uneigentliche“ Bevölkerung?

      b) und inwiefern sollte den Repräsentanten die Legitimation fehlen so sie von den gewählten Parteien oder auch Parlamenten proportional zur letzten Bundestagswahl entsandt werden?

      Da kann ich abhelfen.

      Ad a) Die Repräsentanten von Parteien, aber insbesondere von Interessenverbänden und NGOs, z.T. mit drastisch abnehmenden Mitgliederzahlen und Organisationsgraden. Die „eigentliche Bevölkerung“ ist die große Mehrheit derer, die in einer dieser Organisationen nicht enthalten sind.

      Ad b) Wir wählen Abgeordnete und keine Parteien in die Parlamente (und schon gar keine anderen Organisationen). Also nicht die Parteien gelten als Volksvertreter, sondern die Personen, die in den Parlamenten sitzen. Demzufolge können die Parteien auch nicht in deren Namen handeln. Gegen solche Ideen wäre ja sogar ein imperatives Mandat Kleinkram…

      • Uwe sagt:

        @Werwohlf 10. Dezember 2017 um 19:09

        Theorie und Praxis. Kann man so sehen, muss man nicht.

        Bzgl. „insbesondere aber “ NGO Vertreter.Die waren bei Stefanolix Unterstellung eher nicht enthalten („Von den sogenannten GONGOs … gar nicht zu reden“).

        Bzgl. Abgeordnete aber nicht Parteien wählen:
        Bei Direktmandaten mag es ja noch theoretisch wahr sein, dass die Abgeordneten und nicht die Parteien gewählt werden. Allerdings – ich schliesse von mir auf andere wobei ich mich durchaus als politisch interessiert bezeichne – wieviel Prozent der Wähler kennen ihren Direktkandidaten und wissen gar, wofür der so im Einzelnen steht? Mehr oder weniger als 5%? Womöglich wissen manche Wähler auch, wie das Abstimmungsverhalten der Kandidaten bislang war. Weit unter 1%?

        Und spätestens bei Listenplätzen – 50% der Abgeordneten – wählen wir ganz offiziell Parteien und nicht die Abgeordneten.

      • Werwohlf sagt:

        Bzgl. „insbesondere aber “ NGO Vertreter.Die waren bei Stefanolix Unterstellung eher nicht enthalten („Von den sogenannten GONGOs … gar nicht zu reden“).

        Hm – das kann man aber auch so lesen, dass die eben doch dabei sind, stefanolix es aber für überflüssig (weil offensichtlich) hielt, die Kritik daran auch noch begründen zu müssen. Also ich lese solche Formulierungen jedenfalls immer so.

        Dass viele Wähler die gewählten Abgeordneten gar nicht kennen und nur nach Parteizugehörigkeit wählen (meiner einer hat übrigens die SPD-Direktkandidatin gewählt – würde mir bei der Zweitstimme nie passieren…), ändert nichts an der grundgesetzlich festgelegten Art und Weise der demokratischen Legitimation. Es hieße, auf einen Schelmen anderthalbe zu setzen, würde man diesen Mangel auch noch zum Prinzip erheben.

        Dass man mit der Zweitstimme Parteien wählt, stimmt nun mal auch nicht. Man wählt damit eine Liste von Kandidaten. Die an der Spitze tauchen im Allgemeinen auch auf dem Wahlzettel auf. Die Liste wird zwar von Parteien zusammengestellt, diese haben nach der Einreichung aber über die Zusammensetzung der Abgeordneten keine unmittelbare (außer Tricks wie die Nächsten auf der Liste mit Pöstchen zum Verzicht zugunsten einer von der Parteiführung präferierten Person zu bewegen) Herrschaft mehr. Demokratisch legitimiert sind somit allein die Abgeordneten als Personen.

        Wie gesagt: Dass die Parteien gerne versuchen, dieses Prinzip auszuhebeln (am weitesten gingen damit mal die Grünen, hielten dies aber auch nicht lange durch), dass eine intellektuell herausgeforderte Journaille dieses Spiel zu schnell mitzuspielen bereit ist und dass es auch bei vielen Wählern so ankommt, steht auf einem anderen Blatt, sollte aber von denen, die es besser wissen, zum Wohle der parlamentarischen Demokratie nicht hingenommen werden.

  3. Michael_DD sagt:

    Eine Luftpumpe

    stefanolix sagte: … ich bin für eine behutsame europäische Einigung durch wirtschaftlichen und sozialen Wandel.

    Das kann man nur unterstreichen-

    stefanolix sagte Welche Motivation könnte hinter dieser offensichtlich unerfüllbaren Forderung des Martin Schulz stehen? Ich mag nicht spekulieren – aber mit politischem Realismus und Realpolitik hat Martin Schulz‘ Forderung nichts zu tun.

    Man spekuliert nicht, wenn man Machtgeilheit attestiert.
    Den Wahlkampf hatte Schulz mit dem Schwerpunkt Soziale Gerechtigkeit geführt, dabei war die SPD in den letzten zwanzig mehrfach mit in der Verantwortung. Das verheerende Wahlergebnis der SPD ist bekannt und Schulz verkündete um 18:02 am Wahlabend ab sofort in Opposition zu machen. Nach dem Scheitern der Jamaikagespräche redete Steinmeier ihm von Genosse zu Genosse ins Gewissen für weitere Gespräche mit der CDU und Schulz schlüpfte flugs durch dieses angebotene Hintertürchen. „Wer könnte dem widerstehen“ sagte er dazu.
    Am 6.12.2017 redete Schulz vor 600 Genossen in Berlin.

    WELT : Es gehe „nicht um die Frage Groko oder nicht Groko“. „Ergebnisoffen reden“ will Schulz, …

    Hauptthema seiner Rede war, wie Stefanolix ausführte, sein Ruck-Zuck-Europa, garniert mit etwas Umweltpolitik. Von Gerechtigkeit war keine Rede mehr. So etwas nennt man Beliebigkeit.
    Hier sein schönster Satz:

    Martin Schulz : Wir müssen nicht um jeden Preis regieren. Aber wir dürfen nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.

    Auf Sowas muß man erst mal kommen!
    Er ist quasi die Umkehrung von

    Karl Valentin : Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut.

    Was seine Haltung betrifft – Schulz ist rückgradlos. Was seine Reden betrifft – in meinem Heimatdorf sagte man dazu, der ist eine Luftpumpe.

  4. Demonstrant sagt:

    Angelehnt an die Haedline könnten wir fragen

    Was ist die SPD wert?

    Die letzten Monate geben einige Hinweise. Gleich nach der Wahl hieß es
    Die SPD schließt eine Neuauflage der Großen Koalition aus. Parteivize Schwesig kündigt an, dass ihre Partei in die Opposition gehen werde. [1]

    Klare Kante gegen die CDU (Nahles)
    Ab morgen kriegen sie in die Fresse [2]

    Damit es keiner vergisst, der Schulz noch mal
    Wir stehen für den Eintritt in eine Große Koalition nicht zur Verfügung

    Pöbel-Ralle mittendrin. Gleich nach der Wahl
    Dergleichen wird nicht passieren. Opposition und Absage an große Koalition ohne jede Hintertür! Basta!
    Glaubwürdigkeit der SPD auf dem Spiel
    [4]

    Und dann noch mal

    Wir wollen keine Neuwahlen, scheuen sie aber auch nicht. Wenn wir uns am Wahltag entschieden haben, wie machen keine GroKo, dann gilt das auch noch zwei Monate später [5]

    Manche sagen, diese SPD sollte man in die Tonne treten.
    Aber hat die Tonne das verdient?

    [1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestagswahl-spd-will-in-die-opposition-gehen-a-1169585.html

    [2] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/andrea-nahles-und-ihr-in-die-fresse-zitat-vorsicht-vor-dem-schredder-a-1170399.html

    [3] https://twitter.com/MartinSchulz/status/932626174446067714?ref_src=twsrc%5Etfw&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.vorwaerts.de%2Fartikel%2Fspd-chef-schulz-neuwahlen-statt-neuauflage-grossen-koalition

    [4] https://pbs.twimg.com/media/DTWlGPIX0AAg5wK.jpg

    [5] https://www.zdf.de/nachrichten/zdf-morgenmagazin/jamaika-ralf-stegner-spd-100.html

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