Viel Alkohol und wenig verlässliche Zahlen

10. April 2020

Anfang April machte eine Pressemitteilung die Runde, in der die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) auf den Alkoholkonsum der Deutschen im vorletzten Jahr einging.

Viele Medien übernahmen diese Pressemitteilung sinngemäß, manche schmückten die Angaben noch mit einer zuspitzenden Überschrift aus. Niemand hinterfragte, wie die Zahlen zustande gekommen sind. Der Deutschlandfunk titelte und berichtete so:

»Die Deutschen konsumieren im Schnitt eine Badewanne voll Bier, Wein und Spirituosen«

Der Gesamtverbrauch an alkoholischen Getränken in Deutschland stieg im Jahr 2018 um 0,3 auf 131,3 Liter je Einwohner. Diese Menge entspreche in etwa einer Badewanne an Bier, Wein, Schaumwein und Spirituosen, heißt es. [Quelle DLF-Nachrichten und Quelle der Pressemitteilung]

Der Deutschlandfunk hält sich dabei eng an die Pressemitteilung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Auch die zuspitzende Schlagzeile geht auf diese Pressemitteilung zurück. Eigentlich hätte die DHS die Nachricht gleich selbst schreiben können.

Öffentlich-rechtliche Medien sind aber nicht dazu da, die Pressemitteilungen von Interessenverbänden, Parteien oder Unternehmen zu verbreiten. Sie sollen Informationen prüfen und einordnen.

Die in den Schlagzeilen verbreitete Zahl ist falsch und nutzlos. Sie ist falsch, weil sie eine fatale Illusion der Präzision vermittelt – die zugrundeliegenden Daten sind bei weitem nicht so sicher. Sie ist nutzlos, weil sie dem Problem der Alkoholgefährdung nicht ansatzweise gerecht wird.


Eine falsche Bezugsgröße …

Die Urheber der Statistik rechnen mit einer sehr groben Schätzung der Alkoholmenge und beziehen sie dann auf 82 Millionen Menschen. Aber Kinder trinken gar keinen Alkohol. Ein Teil der Jugendlichen und Erwachsenen trinkt keinen oder sehr wenig Alkohol. Die Bezugsgröße 82 Millionen Menschen ist also mit Sicherheit nicht richtig. Der Alkoholkonsum verteilt sich auf einige Millionen Menschen weniger.

… und eine falsche Gesamtmenge alkoholischer Getränke …

Als nächstes soll gezeigt werden, warum auch die Menge des getrunkenen Alkohols nur sehr grob geschätzt werden kann.

Die am 08.04.2020 veröffentlichten Zahlen stammen vom Bundesverband der Deutschen Spirituosen-Industrie und -Importeure e. V. (BSI). Sie beziehen sich auf das Jahr 2018. Grundlage ist die importierte oder in Deutschland erzeugte Menge alkoholischer Getränke. Der Export wird ebenfalls berücksichtigt, so dass der BSI jeweils auf einen bestimmtem Jahresverbrauch an Bier, Spirituosen, Wein und Schaumwein kommt.

Die reine abgegebene Menge an alkoholischen Getränken ist aus den Verbandsangaben näherungsweise bekannt. Sie wird aber nicht nur von Bundesbürgern konsumiert. Sie wird auch von ausländischen Touristen und Geschäftsreisenden getrunken – ebenso trinken Bundesbürger im Ausland als Touristen und Geschäftsreisende Alkohol.

Der Verbrauch von Alkohol bei der Herstellung von Lebensmitteln in der Wirtschaft und in den Haushalten (etwa Likör zum Backen oder Wein für feine Saucen) ist ebenfalls nicht berücksichtigt.

… ergeben eine nutzlose Kennzahl!

Für Bier gibt der Verband als Gesamtangebot auf dem Markt eine Menge von umgerechnet 17.008.000.000 Flaschen zu je einem halben Liter an. Diese Gesamtmenge an Bier wird durch alle 82 Millionen Bundesbürger geteilt und man erhält rund 102 Liter Pro-Kopf-Verbrauch allein an Bier.

In ähnlicher Form wird auch der Pro-Kopf-Verbrauch für Wein, Spirituosen und Schaumwein berechnet. Die Summe dieser Pro-Kopf-Verbräuche beträgt 131,3 Liter pro Kopf – auch wenn man sich die Mischung als sehr unappetitlich und die Addition so unterschiedlicher Getränke als ziemlich nutzlos vorstellen muss.

In dem veröffentlichten Pro-Kopf-Verbrauch von 131,3 Litern stecken also zwei große Unsicherheiten: Die von Bundesbürgern getrunkene Menge an alkoholischen Getränken und die Anzahl der Alkohol trinkenden Bundesbürger. Wenn man im Zähler und im Nenner so große Unsicherheiten hat, dann ist gesamte Kennzahl grober Unfug und die Illusion der Präzision kommt noch hinzu.


Selbst wenn der Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke exakt zu berechnen wäre: Diese Kennzahl ist schon von Natur aus nicht hilfreich bei der Alkoholprävention. Denn die Anzahl der Menschen mit Alkoholabhängigkeit und Alkoholmissbrauch wird auf etwa 3 Millionen Menschen geschätzt. Die restlichen Bundesbürger trinken entweder gar keinen Alkohol oder sie trinken ihn nur in Maßen.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) ist ein Zusammenschluss der in der Suchthilfe und Suchtprävention tätigen Verbände. Sie ist also keine staatliche Einrichtung, sondern eine Interessenvertretung. Es ist aus Sicht der Interessenvertretung natürlich sehr willkommen, dass die Medien ihre Zahlen ungeprüft übernehmen und an die Medienkonsumenten weitergeben. Aufgabe der Medien wäre aber eigentlich das Einordnen und Hinterfragen der Zahlen.


Quellen:

Zahlen des Bundesverbands der Deutschen Spirituosen-Industrie und -Importeure e. V. (BSI)

Zahlen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen


Ergänzung [11.04.2020]: In ihrer Pressemitteilung gibt die DHS auch einen Verbrauch an reinem Alkohol an:

»10,5 Liter Reinalkohol trank jede/-r Bundesbürger/-in im Alter ab 15 Jahren …«

Wie kommt diese Zahl zustande? Der BSI veröffentlicht die Mengen an reinem Alkohol aufgrund einer groben Schätzung. Man nimmt einfach an, dass Spirituosen im Schnitt 33,0 %, Wein 11,0 %, Schaumwein 11,0 % und Bier 4,8 % enthalten.

Auf der Grundlage unsicherer Durchschnittswerte kommt der BSI aus den oben beschriebenen unsicheren Pro-Kopf-Verbrauchszahlen auf einen Gesamtverbrauch an reinem Alkohol pro Kopf. Dieser bezieht sich aber wieder auf alle Bundesbürger.

Die DHS hat nun offensichtlich einen Dreisatz angewendet und ausgerechnet, wie sich dieser Pro-Kopf-Verbrauch auf alle Bundesürger ab 15 Jahren verteilen würde. Hier werden also ohnehin grobe Annahmen noch einmal vergröbert.


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Was ein Artikel über die Einnahmen weiblicher und männlicher Influencer nicht aussagt

18. Januar 2020

Der Deutschlandfunk hat eine Meldung über die Einnahmen weiblicher und männlicher Influencer in seine Nachrichten aufgenommen und schon die Überschrift gibt zu denken:

Auch Influencerinnen verdienen offenbar deutlich weniger Geld als Influencer

Wenn ich in einer Meldung in den Medien auf das Wort »offenbar« stoße, bin ich immer gewarnt: Journalisten verwenden »offenbar« meist dann, wenn sie sich selbst nicht sicher sind oder wenn sie etwas kolportieren wollen. In manchen Medien wird »offenbar« auch verwendet, wenn eine Information ins Bild passt, aber keine belastbare Quelle genannt werden kann.

Der Deutschlandfunk gibt als Quelle seines Artikels ein »Analyse-Unternehmen« mamens HypeAuditor an. Dieses Unternehmen hat bis heute keinen Eintrag in der englischsprachigen Wikipedia. Es scheint mir auch nicht als Quelle zitierfähig zu sein, denn es fehlen grundlegende Angaben zur Methodik der Erhebung.


HypeAuditor hat in einer Online-Umfrage diverse Influencerinnen und Influencer danach gefragt, wie viel Geld sie für einen Post oder eine Story auf Instagram bekommen. Nach den dort veröffentlichten Angaben haben sich 1.600 Influencer bzw. Influencerinnen aus 40 Ländern beteiligt, aber es liegt keine Angabe über die Gesamtzahl aller Influencerinnen und Influencer in diesen Ländern vor. Wir wissen also nicht, wie viel Prozent aller Influencer sich beteiligt haben.

Es ist auch nicht bekannt, wann die Umfrage stattgefunden hat und wer auf welchem Weg davon erfahren hat. Auch von einer Kontrolle, einem Identitätsnachweis oder einer Plausibilitätsprüfung der Angaben steht nichts in dem Artikel. Grundsätzlich sind Umfragen mit einer Selbst-Selektion der befragten Gruppe als wenig repräsentativ einzustufen.

Unter den Befragten haben sich 69 % als weiblich und 31 % als männlich eingetragen. HypeAuditor geht aber selbst davon aus, dass Frauen und Männer unter den Influencern zu gleichen Teilen vertreten seien. In diesem Sinne kann die Online-Umfrage also nicht repräsentativ sein. Wenn schon insgesamt mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer teilgenommen haben, verbieten sich alle weiteren Vergleiche eigentlich von selbst.

HypeAuditor teilt die Befragten in vier Kategorien ein: Mega-Influencer mit mehr als einer Million Followern, Macro-Influencer mit (100.000 bis 1 Million Followern sowie zwei weitere Gruppen mit 20.000 bis 100.000 bzw. 5.000 bis 20.000 Followern. Wie sich die 1.600 Teilnehmer der Online-Umfrage auf die Gruppen verteilen, wurde nicht veröffentlicht. In einer seriösen Studie würden wir es erfahren.


Über diese riesige Bandbreite (Influencer von 5.000 bis über eine Million Follower) wird in dem Artikel ein Durchschnittspreis pro Post veröffentlicht: 1411 Dollar für Männer und 1315 für Frauen. Dieser Wert ist kaum aussagekräftig: Wir wissen, dass der arithmetische Mittelwert je nach Verteilung sehr leicht verzerrt werden kann. Ein einziger Großverdiener kann den Durchschnittswert für alle Männer nach oben ziehen, während fast alle anderen unter dem Durchschnitt liegen.

Aus den oben beschriebenen Mängeln gibt es nur eine logische Schlussfolgerung: Rückschlüsse auf Teilgruppen (etwa auf die beiden Durchschnittswerte für Frauen und Männer in einer der vier Kategorien) verbieten sich von selbst. Wir wissen nichts über die Verteilung der Männer und Frauen auf die Kategorien, wir haben nur einen statistisch kaum aussagekräftigen Durchschnittswert pro Kategorie und Geschlecht.

Wie müsste man es richtig machen? Man müsste eine statistisch repräsentative Stichprobe für jeweils weibliche und männliche Influencer auswählen und seriöse Angaben über ihre Jahreseinnahmen erheben. Daraus würde man die Medianwerte (nicht die Durchschnittswerte!) ermitteln. Dann könnte man mit Vergleichen beginnen.


Der Deutschlandfunk nimmt nun diese äußerst zweifelhaften Zahlen und sucht sich auch noch diejenigen heraus, mit denen er die größten Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Influencern zeigen will.

Bereits vor dem DLF-Artikel gab es also schon zwei Fehler: Erstens einen Auswahlfehler, weil diese Studie methodisch nichts taugt. Und zweitens einen Beurteilungsfehler, weil die HypeAuditor-Studie nicht richtig verstanden wurde. Der dritte Fehler ist ein journalistischer Fehler. Wenn man selbst merkt

Ob die Zahlen repräsentativ sind, lässt sich aber nur schwer beurteilen, da sie auf einer Online-Umfrage beruhen.

dann gehört der Artikel nicht in den DLF, sondern in den Papierkorb. Ganz tief. Dann kann man auf dieser Basis nicht argumentieren.

Hinweis: Mit diesem Fazit möchte ich ausdrücklich nicht das Gesamtprogramm des DLF beurteilen. Ich beziehe mich nur auf den Artikel über weibliche und männliche Influencer.


Quellen:

Artikel bei HypeAuditor

Artikel im Deutschlandfunk


Aktualisierung am 18.01.2020: Der Deutschlandfunk hat seinen Artikel intransparent geändert und einen Satz hinzugefügt.

Ob die Zahlen repräsentativ sind, lässt sich aber nur schwer beurteilen, da sie auf einer Online-Umfrage beruhen. 2019 kam allerdings eine Untersuchung von Klear zu einem ähnlichen Ergebnis. In der Branche kursieren zudem Zahlen …

Diese Untersuchung habe ich mir ebenfalls angesehen, man kann sie hier finden:

How Much Do Influencers Charge?

Um es kurz zusammenzufassen: Die zweite Quelle ist nicht besser als die erste. Die zweite Untersuchung hat genau dieselben methodischen Mängel wie die ursprünglich angeführte Untersuchung von HypeAuditor. Bei »Klear« haben sich sogar nur 23 % Männer und 77 % Frauen beteiligt. Deshalb ist die zweite Untersuchung in Bezug auf eine geschlechtsspezifische Auswertung noch untauglicher als die erste.


Zweite Ergänzung mit Dank an Frank: Die Tagesschau verbreitet die Meldung unter Berufung auf den Deutschlandfunk weiter. Man nennt das wohl Zitierkartell ;-)



Meinung und Hass

12. Januar 2020

Ein geflügeltes Wort in den politischen Diskussionen unserer Zeit ist »Hass ist keine Meinung«. Es wird oft von Politikern, Journalisten, Publizisten und Aktivisten verwendet, um sich von den Aussagen rechter Parteien abzugrenzen. Die Steigerungsform lautet: »Hass ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!«. Das Motiv ist in weiteren Varianten verbreitet. So twitterte heute die Journalistin Nicole Diekmann:

Merke: Leute, die kein Interesse haben an Diskurs, nennen die Beleidigungen, die sie hier verbreiten, »Kritik«. Und Kritik daran »Zensur«. [Tweet]

Und ich konnte es nicht lassen, diese Aussage umzukehren:

Merke: Leute, die kein Interesse haben am Diskurs, nennen die Kritik, die sie empfangen, »Beleidigung«. Und Kritik daran »Hetze«.

Wer die aktuelle Diskussion um die öffentlich-rechtlichen Sender in den sozialen Netzwerken verfolgt, wird beide Seiten bestätigt finden: In den Redaktionen von ARD und ZDF fühlt man sich zu Unrecht kritisiert und empfindet Hass. An den mobilen Endgeräten vieler Beitragszahler fühlt man sich zu Unrecht als rechtsradikaler Hassverbreiter abqualifiziert.

Die nächste Drehung der Eskalationsspirale führt dann endgültig zu einer Spaltung in Schwarz und Weiß: Der Sender WDR rahmt die Kritik an einem Video als rechtsradikale Aktion und delegitimiert damit indirekt auch jede sachliche Kritik. Die Kritiker verschärfen ihrerseits den Ton und stellen die Integrität des WDR in Frage.

Rechtsradikale Demonstranten erkennen und instrumentalisieren die Situation. Sie stellen sich vor Sendeanstalten der ARD und ihre Forderung lautet übersetzt: »Was wir als ›Lügenpresse‹ etikettieren, soll nicht mehr senden dürfen.« Ein AfD-Vertreter versteigt sich vor dem SWR zu der Drohung, man werde die SWR-Mitarbeiter aus ihren Redaktionsstuben vertreiben. Ironischerweise bestärkt das nun wieder die Anwender des Spruchs »Hass ist keine Meinung« …


Eine eher seltene Antwort auf »Hass ist keine Meinung« ist die Umkehrung: »Meinung ist kein Hass«. Diese Umkehrung wird von Libertären und Liberalen verwendet. Bezogen auf die Kommunikation soll das aussagen: Was die Adressaten als Hass empfinden, kann für den Sender eine legitime Meinung sein.

Bezogen auf die Gesellschaft: Das Grundgesetz und die Verfassungen anderer freier Staaten garantieren ein Recht auf weitgehende Meinungsäußerung. Die Strafgesetze verbieten nur sehr spezielle Meinungsäußerungen, die möglicherweise durch Hass motiviert sind. Exakt müsste es also heißen »Strafbare Äußerungen sind keine Meinung.«

Die Aussage »Hass ist keine Meinung« kann dagegen in vielen Anwendungsfällen übersetzt werden in »Was ich als Hass definiere, soll nicht verbreitet werden dürfen!«. Der Absolutheitsanspruch der Aussage »Hass ist keine Meinung« und die gleichzeitige Anmaßung der Deutungshoheit über den Tatbestand »Hass« müssen notwendigerweise jede konstruktive Debatte abwürgen.

Fazit: Ich plädiere gegen die Anwendung des Spruchs »Hass ist keine Meinung«: Er ist sehr anfällig für Missbrauch, er kann Debatten abwürgen, er kann die Politik zu unangemessenen Einschränkungen der Meinungsfreiheit verleiten. Wer strafbare Äußerungen von legitimer Meinungsäußerung abgrenzen will, findet in unserer reichen Sprache bessere Ausdrucksmöglichkeiten.



Medienkritik bedeutet nicht Medienzerstörung

6. Januar 2020

Oma-Song und WDR: Welchen Sinn hatten diese beiden Artikel?

Wer meine ersten beiden Artikel des Jahres 2020 gelesen hat, mag sich die Frage nach der Motivation stellen. Will dieser Autor dem öffentlich-rechtlichen WDR schaden? Will er den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen? Will er die Zahlung seines Rundfunkbeitrags verweigern oder ruft er gar dazu auf?

Zuerst zu meiner fachlichen Motivation. Ich habe mich mit diesen beiden »Datenanalysen« befasst, um die sehr engen Grenzen solcher Methoden zu zeigen – um nicht zusagen: deren Untauglichkeit. Damit stehe ich nicht allein. Die beiden Analysen eines angeblich rechtsradikal gesteuerten Shitstorms sind nach allen bisher bekannten Informationen methodisch nicht haltbar und widersprechen einander:

Der SPON-Artikel kommt zu dem Ergebnis, dass etwas mehr als die Hälfte der Tweets zum Thema #Umweltsau aus dem politisch rechten Lager gekommen sein sollen und folglich etwas weniger als die Hälfte nicht aus dem rechten Lager kam. Der WDR-Beitrag benennt neben einer angeblich orchestrierten Kampagne von »Rechts« gar keine nicht-rechten Anteile. Das ist ein gravierender Widerspruch, beides kann nicht gleichzeitig stimmen.

Wenn mit derart unplausiblen und widersprüchlichen Zahlen Stimmung oder gar Politik gemacht werden soll, werde ich hellhörig und schaue genauer hin. Ich habe diese Artikel nicht geschrieben, weil ich ein Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder ein Konkurrent der Datenexperten wäre. Ich habe sie geschrieben, weil mir als Bürger, Steuerzahler und Beitragszahler die Wahrheit wichtig ist.

Und ich habe sie geschrieben, weil ich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erhalten will. 1989 war ich bei denen, die der SED »Wir bleiben hier!« entgegengerufen haben. 2020 bin ich bei denen, die dem #cancelWDR ein #reformWDR entgegensetzen.


Nur Qualität und Ausgewogenheit bringen eine höhere Akzeptanz

Ich will den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht abschaffen. Ich will eine organisatorische Reform, eine Verbesserung der Qualität und eine Verschlankung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es ist klar, dass dafür mindestens ein Jahrzehnt angesetzt werden muss.

Der neue öffentlich-rechtlichen Rundfunk sollte sich auf die Kernaufgaben Information, Allgemeinbildung, politische Bildung und Kultur konzentrieren und beschränken. In mancher Hinsicht kann dafür das Informationsprogramm des Deutschlandfunks als Muster dienen. Die Reform muss mit einer Qualitätsoffensive verbunden sein.

ARD und ZDF werden zur Zeit hart dafür kritisiert, dass in den Kommentaren kaum konservative und liberale Inhalte vorkommen, während linke und grüne Themen überproportional vertreten sind. Im Zweifel wird in den ARD-Nachrichtensendungen also eher für Verbote im Sinne der Grünen oder für Abgabenerhöhungen im Sinne der Roten plädiert. Die Berichte vom Parteitag der Grünen sind viel wohlwollender als vom Parteitag der FDP.

Fairness und Ausgewogenheit des politischen Informationsangebots müssen also sichergestellt und die Kriterien der Ausgewogenheit müssen transparent gemacht werden.


Rundfunkräte und Mitbestimmung

Das öffentlich-rechtliche Kernangebot muss einer professionellen Qualitätskontrolle unterliegen. Selbstverständlich sind Redaktionen frei in ihrer journalistischen Arbeit, aber selbstverständlich sind sie auch nicht immun gegen Kritik.

Ich könnte mir eine Art Presserat für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorstellen, der bei Anfragen oder Beschwerden nach rein professionellen Gesichtspunkten urteilt und seine Entscheidungen veröffentlicht. Dann würde auch eine Entscheidung wie im Fall #Umweltsau auf höhere Akzeptanz stoßen.

Die Rundfunkräte können durch Bürgerversammlungen nach dem Muster Irlands ersetzt werden und so könnte auch der Reformprozess mitbestimmt werden. Woher kommt die Idee? Als man sich in Irland in der ethisch und moralisch hochkomplexen Frage des Abtreibungsrechts nicht auf ein Verfahren einigen konnte, wurde eine per Losverfahren bestimmte repräsentative Bürgerversammlung einberufen. Sie hörte sich Expertinnen und Experten an und traf dann eine Entscheidung, nach der sich das Parlament gerichtet hat. Am Ende stand ein Volksentscheid.


Die eine Hälfte verbessern, die andere Hälfte privatisieren

Die Bereiche Information, Allgemeinbildung, politische Bildung und Kultur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks würde ich also refomieren, erhalten und mit guter Ausstattung weiterführen.

Die Bereiche Unterhaltung, Filme/Serien und Sport können dagegen problemlos privatisiert werden. Es gibt keinen Grund dafür, diese Bereiche mit zwangsweise erhobenen Beiträgen der Bürger zu finanzieren, zumal die Belastungen aus der Energiewende und der Kranken- und Pflegeversicherung absehbar steigen werden.

Die unterhaltenden Bereiche der öffentlich-rechtlichen Sender können an die Börse gebracht oder an Investoren verkauft werden. Über einen Zeitraum von zehn bis zwölf Jahren kann der Rundfunkbeitrag so schrittweise halbiert werden.

Wenn der Rundfunkbeitrag nach der Reform und nach der Privatisierung von »Traumschiff«, »Degeto«-Filmen, Schlager- und Volksmusik-Shows, Krimiserien oder Fußballübertragungen jedes Jahr um einige Prozent sinken sollte, würde ich mich darüber freuen.

Der finanzielle Aspekt kommt für mich aber immer erst nach dem Inhalt. Eine Reform sollte aus meiner Sicht nicht zuerst unter der Prämisse »Zwangsbeitrag abschaffen!« oder »Zwangsbeitrag halbieren!« stattfinden. Der in zehn Jahren verbleibende Beitrag sollte mit hoher Qualität gerechtfertigt werden.

Die Teilprivatisierung wäre auch eine soziale Lösung: Mit Beitragsgeld würde nur noch das finanziert, was man als neue Kernaufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks definiert hätte.


Hinweis: Dieser Artikel steht unter einer CC-BY-Lizenz 3.0 (Namensnennung und Verweis per URL auf das Original) und kann in jeder Form in anderen Publikationen verwendet werden, auch in kommerzieller Art und Weise.



WDR: Eine Datenanalyse in eigener Sache dient dem Framing in eigener Sache

6. Januar 2020

Der WDR hat in seiner Sendung »Aktuelle Stunde« vom 04.01.2020 den Beitrag »Wie ein Shitstorm im Netz entsteht« gesendet. Darin sollen zwei Experten zeigen, wie es zur kontroversen Diskussion des #Omagate um die #Umweltsau kommen konnte.

[Videobeitrag des WDR, verfügbar bis 11.01.2020]

Dieser Beitrag ist unter zwei Aspekten zu betrachten: Wird er der Komplexität der Diskussion gerecht? Und: Anhand welcher Zahlen, Daten und Fakten wird dieser »Shitstorm« analysiert?


Der Ablauf des #Omagate wird in dem WDR-Beitrag so dargestellt, als ob es ausschließlich eine von Rechten oder Rechtsradikalen initiierte und geführte Diskussion gegeben hätte. Von »nicht-rechten« Beiträgen zur Diskussion ist im Beitrag vom 04.01.2020 (also wenige Tage nach #Omagate) keine Rede mehr. Hat es sie nie gegeben?

Der WDR hat sich dazu zwei Personen eingeladen: Einen Datenanalysten und einen Buchautor. Beide stellen die Twitter-Diskussion um #Omagate so dar, als ob sie ausschließlich von Personen aus der rechten/rechtsradikalen »Blase« initiiert worden sei.

Als Gegenbeweis könnten hier Tweets aus politisch anderen Lagern dienen: NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, SPD-Politikerin Sawsan Chebli und viele andere Beteiligte an der Debatte sind mit Sicherheit keine rechtsradikalen oder rechten Personen.

Wer die Diskussion verfolgt hat, weiß um deren Komplexität: Die Trennlinie zwischen Kritik und Zustimmung verlief nicht entlang der Grenzen des Links-Rechts-Schemas. Sie war auch nicht statisch. Sie hat sich im Verlauf der Debatte verschoben, je mehr es in eine Grundsatzdiskussion um den öffentlich-rechtlichen Sender überging.

Als der Shitstorm auf Twitter mit sehr vielen Tweets pro Stunde Fahrt aufnahm, war das Video schon zurückgezogen. Der WDR kann also gar nicht vor einem rechten oder rechtsradikalen Twitter-Shitstorm eingeknickt sein.

Es stellt sich also als erstes die Frage: Ist es jetzt die offizielle Linie des WDR, sämtliche Kritik an seinem Beitrag in die rechte Ecke zu schieben? Wenn der WDR diese Linie nicht verfolgt, dann sollte er den Beitrag zumindest ergänzen.


Und es stellt sich eine zweite Frage: Wird diese Behauptung eines rechten Shitstorms vom WDR wenigstens mit Zahlen, Daten und Fakten belegt? Die WDR-Ansage zu Beginn des Beitrags lautet ja »Philip Kreißel hat alle Tweets heruntergeladen und diesen Shitstorm ehrenamtlich ausgewertet.«

Das lässt darauf hoffen, dass wir nun endlich die lange erwartete fundierte Datenanalyse zu #Omagate bekommen werden. Diese Hoffnung wird schon nach sehr kurzer Zeit enttäuscht. Es gibt in dem WDR-Beitrag keinerlei Informationen

  1. zum Untersuchungszeitraum,
  2. zur Anzahl der untersuchten Tweets,
  3. zu den Auswahlkriterien für »rechte« Accounts,
  4. zu den Auswahlkriterien für »rechte« Tweets und
  5. zum Anteil der »rechten« und der nicht »rechten« Tweets.

Der WDR gibt folgende Behauptung wieder: »Nur etwa 500 Accounts waren laut Kreißel für die Hälfte der Interaktionen beim Twitter-Shitstorm verantwortlich.« Das lässt sich in keiner Weise prüfen, weil alle o. g. Informationen nicht offengelegt werden: Um wie viele Accounts und Tweets ging es insgesamt? Nach welchen wissenschaftlichen Kriterien und mit welcher sachlichen Berechtigung wurden diese 500 Accounts als »rechts« oder »rechtsradikal« eingestuft?

Wie ist der »Twitter-Shitstorm« zahlen- und datenmäßig erfasst worden? Welche Tweets zählten dazu? Weder der WDR noch die beiden Experten waren bis zum Morgen des 06.01.2020 auf Anfrage bereit, sich dazu zu äußern. Die einzige (und völlig unbefriedigende) Antwort des Datenanalysten finden sie hier. Zitat:

Grundsätzlich mache ich folgende Aussagen:
– Es waren zu Beginn primär rechte Accounts. Das mache ich fest daran, welche Dinge diese Accounts noch retweeten, z.b. Sellner, Arcadi, AfD etc.
– Es waren hochaktive Accounts. Dazu lasse ich mein Programm halt nachzählen.

Damit lässt sich die Behauptung nicht stützen, dass der #Omagate-Shitstorm in einer rechten Blase entstanden und geführt worden sein soll. Und eine nach wissenschaftlichen Kriterien seriöse Analyse lässt sich mit diesem Ansatz sicher nicht erarbeiten.

Während SPON in seinem Artikel wenigstens Informationen veröffentlicht hat, die man kritisch hinterfragen konnte, hat der WDR bisher nichts Verwendbares veröffentlicht. Ein Faktencheck ist anhand der Angaben nicht möglich.

Der WDR wäre als verantwortlicher Sender in der Pflicht, das Konzept und die Methoden sowie die Zahlen, Daten und Fakten bereitzustellen. Das Argument DSGVO/Datenschutz greift hier nicht: Es geht ausdrücklich nicht um die personenbezogene Daten hinter den rechten Accounts. Jeder untersuchte Tweet muss öffentlich gewesen sein, jeder untersuchte Account wendet sich an die Öffentlichkeit.


Hinweis: Dieser Artikel steht unter einer CC-BY-Lizenz 3.0 (Namensnennung und Verweis per URL auf das Original) und kann in jeder Form in anderen Publikationen verwendet werden, auch in kommerzieller Art und Weise.



Die Datenanalyse des SPIEGEL zur Umweltsau-Affäre

1. Januar 2020

In den Medien setzt sich zur Zeit die Erzählung durch, dass das Video »Umweltsau« vom WDR nach einer koordinierten Aktion rechtsradikaler Accounts zurückgezogen worden sei. Als Grundlage dieser Bewertung wird meist auf einen SPON-Artikel verwiesen. Ich möchte in diesem kurzen Artikel zeigen, dass die Datenauswertung des SPIEGEL diesen Schluss nicht hergibt.

Kritik an der Methode der Kategorisierung

Die Argumentation bei SPON lautet: 210.000 Tweets mit den Hashtags #Umweltsau oder #Nazisau seien von 44.000 Accounts gesendet worden. 23 Prozent der Accounts seien einem »eher rechten Cluster« zuzuordnen, 46 Prozent einem »eher linken Cluster« und 31 Prozent der Accounts konnten keinem der beiden Cluster zugeordnet werden.

SPON hat keinerlei Kriterien veröffentlicht, nach denen die Zuordnung zu den Kategorien »eher rechts«, »eher links« oder »nicht zuzuordnen« vorgenommen wurde. SPON hat auch nicht erhoben, welche Tendenz diese Tweets inhaltlich hatten. Es geht also um eine rein quantitative Erhebung mit nicht nachvollziehbarer Kategorisierung.

Für die Leserin oder den Leser des SPON-Artikels ist nicht nachzuvollziehen, wie die Einstufung als »eher rechts« erfolgte. Erst recht wird nicht qualitativ nachgewiesen, wie viele Accounts in diesem Cluster tatsächlich rechtsradikal organisiert sind. Das wäre aber notwendig, um die These vom Einknicken infolge eines rechtsradikalen Shitstorms zu stützen. Es gibt bekanntlich keine Prüfstelle für die politische Einstufung von Social-Media-Accounts und das ist auch gut so.

Selbst wenn man die Zuordnung zu den Kategorien für einen Augenblick ernst nimmt, bleibt ein erstes Fazit: Es sind 77 % der Accounts gar nicht dem »eher rechten Lager« zugeordnet worden. Das ist das erste Argument gegen die These, dass der WDR von einer koordinierten rechtsradikalen Aktion zum Zurückziehen des Videos gebracht worden sei.


Kritik an der Schlussfolgerung einer Konzentration

Es gibt bei SPON noch eine zweite Auswertungsmöglichkeit: Mit welcher Intensität wurde denn in diesen Gruppen getwittert? SPON behauptet im Artikel (Zitat):

Auffällig dabei: 52 Prozent der Tweets kamen aus dem grünen Cluster, nur 38 Prozent aus dem pinken. Nur 10 Prozent konnten keinem der beiden Cluster zugeordnet werden. Das bedeutet: Im grünen Cluster gab es einige sehr aktive Accounts.

Das ist ein logischer Fehlschluss: Auch wenn die Hälfte der Tweets zu diesen beiden Hashtags von einem »eher rechten Cluster« ausgegangen sein sollte (was wir aufgrund fehlender veröffentlichter Kriterien und Methoden nicht wissen), sind das ungefähr 110.000 Tweets auf 10.000 Accounts. Der Betrachtungszeitraum beträgt drei Tage. Im Schnitt elf Tweets verteilt auf drei Tage: Das erscheint mir nicht besonders dramatisch.

Ob sich aus der Menge der 10.000 angeblich rechts orientierten Accounts einige besonders hervorgetan haben, kann man aus den veröffentlichten Zahlen bisher gar nicht feststellen. Die veröffentlichte Grafik mit den »Clustern« ist dafür völlig ungeeignet. Ob diese Aktiven besonders rechtsradikale Personen waren und ob ihre Äußerungen besonders negativ, hasserfüllt oder ÖRR-feindlich waren, kann man anhand der SPON-Daten erst recht nicht feststellen.


Kritik an der Schlussfolgerung einer Kausalität aus rechtsradikaler Aktivität und Einknicken des WDR

Dazu kommt: Aus der SPON-Datenauswertung geht gar nicht hervor, wann diese Tweets publiziert wurden. Eine weitere große Schwäche der SPON-Datenauswertung ist nämlich die Zusammenfassung der Erhebung über drei Tage. Dabei geht der zeitliche Verlauf völlig verloren. SPON stellt in einem Diagramm den Zeitraum vom frühen Morgen des 27.12.2019 bis zum frühen Morgen des 30.12.2019 dar. In dieser Zeit sollen die 210.000 Tweets geschrieben worden sein.

Das Video wurde aber bereits am Nachmittag des 28.12.2019 aus dem Netz genommen [siehe Ergänzung!]. Wie viele Tweets aus dem »eher rechten Cluster« wurden denn nun vor dem Zurückziehen des Videos abgesetzt? Das müsste man wissen, um einen Druck aus der rechten Szene auf den WDR und dessen Intendanten nachweisen zu können. Die SPON-Datenauswertung gibt uns aber keinerlei Antwort darauf.

Der WDR-Intendant bat in einer WDR-Hörfunksendung ab 18.00 Uhr um Entschuldigung. In dieser Zeit gab es übrigens die meisten Tweets zu diesem Thema: Da war das Video aber schon gar nicht mehr im Netz. Wenn man sich die Kurve bei SPON anschaut, sind weit mehr als die Hälfte aller ausgewerteten Tweets nach dem Zurückziehen des Videos entstanden.

[Ergänzung am 02.01.2019 nach mehreren Hinweisen: Der WDR hat das Video sogar noch zeitiger zurückgezogen. Ein Hinweis kam via Twitter von Pippilotta und der andere von Schillipaeppa [Blog] in den Kommentaren. Wenn also das Video noch wesentlich zeitiger zurückgezogen wurde, ist die Erzählung vom Einknicken vor dem »rechtsradikalen Shitstorm« natürlich noch absurder. Hier ist nach einem Hinweis von Lucas Schoppe nun der exakte Löschzeitpunkt in einem Facebook-Post des WDR.


Kritik an der Intransparenz der Korrektur

In der heute zugänglichen Version des Artikels steht am Ende ein Korrekturhinweis:

In einer früheren Version dieses Textes hatten wir zwei Twitter-Accounts aus dem rechten Spektrum explizit genannt, die an der Verbreitung der Empörung über das Video beteiligt gewesen sein sollten. Beide waren aber in der Anfangsphase nicht ausschlaggebend für die Verbreitung; taugten also nicht als Beispiele. Die Nennung beruhte auf einem anfänglichen Auswertungsfehler, den wir nachträglich korrigiert haben.

Was aber fehlt: Wurden die restlichen Daten auch nachträglich korrigiert? Wenn man zwei offensichtlich bekannten Accounts aus dem rechten Spektrum zunächst eine so hohe Bedeutung zugemessen hat, muss sich das Herausnehmen dieser beiden Personen ja auch in den Daten (Anzahl der Tweets, Anzahl der als »rechts« eingestuften Accounts) niedergeschlagen haben.


Ergänzung: Kritik an der Überschätzung des Einflusses von Twitter

Ich wurde weiterhin darauf aufmerksam gemacht, dass Twitter keineswegs der einzige Kommunikationskanal mit dem WDR ist. Zum einen gingen die ersten Proteste auf der WDR-Facebook-Seite direkt unter dem Video ein. Das müssen schon hunderte kritische Stimmen gewesen sein.

Zum anderen ist es sehr wahrscheinlich, dass sich WDR-Hörer, Interessenvertreter gesellschaftlicher Gruppen, Landes- und Bundespolitiker auch per Telefon, Mail etc. an den WDR gewandt haben. Öffentlich geäußert haben sich Personen aus SPD und CDU, darunter der NRW-Ministerpräsident. Diese Personen haben viel mehr Gewicht als ein (fiktiver) rechtsradikaler Shitstorm im Wasserglas Twitter.


Fazit: Mit den bisherigen Kenntnissen über die Daten aus dem SPON-Artikel lässt sich die These einer Kausalität zwischen dem angeblich koordinierten rechten Shitstorm und dem Zurückziehen des Videos durch den WDR nicht belegen.


Transparenter Nachtrag (01.01.2020 um 15.40 Uhr): Die URL des SPON-Artikels „Umweltsau“-Skandalisierung Die Empörungsmaschine läuft heiß.


Hinweis: Dieser Artikel steht unter einer CC-BY-Lizenz 3.0 (Namensnennung und Verweis per URL auf das Original) und kann in jeder Form in anderen Publikationen verwendet werden, auch in kommerzieller Art und Weise.


 


Sprachmanipulation mit Fakten kontern

17. Februar 2019

Die Seite netzpolitik.org hat das berühmt-berüchtigte »Framing-Manual« mit dem Titel »Unser gemeinsamer, freier Rundfunk ARD« veröffentlicht. Begründung:

Das Gutachten wurde aus öffentlichen Geldern finanziert und sollte selbstverständlich auch nach dem Grundsatz »Öffentliches Geld, öffentliches Gut« (»Public money, public good«) allen Beitragszahlerinnen und -zahlern verfügbar sein. Damit sich mehr Menschen aus der Originalquelle informieren und an der Diskussion teilnehmen können.

Dieser Blogbeitrag soll ein Teil der Diskussion sein. Ich bin kein Gegner der ARD, des ZDF und des DLF. Ich kritisiere aber den derzeitigen Zustand der öffentlich-rechtlichen Sender und die Höhe der zwangsweise erhobenen Abgabe.

In klarer und direkter Sprache kann das Framing-Manual als »Sprachmanipulationshandbuch« bezeichnet werden, denn darin wird für eine Manipulation der öffentlichen Meinung durch die ARD plädiert. Beim Lesen erinnerte ich mich an mehreren Stellen an die Figur Squealer aus »Farm der Tiere«:

He was a brilliant talker, and when he was arguing some difficult point he had a way of skipping from side to side and whisking his tail which was somehow very persuasive. The others said of Squealer that he could turn black into white.


Die Autorin bezieht sich in ihrem Handbuch auf drei Arten von Frames: negatives Framing soll man erkennen und analysieren, für die eigene Seite ungünstiges Framing soll man vermeiden und positives Framing soll man selbst einsetzen und verbreiten.

Wenn man das »Framing« als ein Werkzeug der Manipulation von Menschen mittels Sprache versteht, gibt es zwei Möglichkeiten des Widerstands: man kann mit einem besseren Framing antworten oder man kann die Frames mit Fakten zerbrechen. Ich will in diesem Beitrag einige Manipulationsversuche aus dem ersten Teil des Werkes »Unser gemeinsamer, freier Rundfunk ARD« aufdecken und mit Fakten widerlegen.


Die Autorin stellt mit ziemlich raffinierten und trotzdem leicht widerlegbaren Argumenten einen Gegensatz zwischen zwei Arten des Rundfunks dar. Die ARD ist im Sinne des Sprachmanipulationshandbuchs ein demokratisch legitimiertes öffentliches Gut. Das kann gar nicht oft genug wiederholt werden. Ein Beispiel:

Und die ARD existiert einzig und allein für uns, indem sie jenseits profitwirtschaftlicher oder demokratieferner Gelüste für ein informierendes, bildendes und sinnstiftendes Programm sorgt. (S. 27)

Wer sich durch dieses Framing nicht so leicht manipulieren lässt, wird Fragen stellen:

  • Benötigt man für die öffentlich-rechtliche Grundversorgung wirklich eine so hohe Zwangsabgabe?
  • Müssen aus den milliardenschweren Einnahmen wirklich privatwirtschaftliche Sportrechte, Seifenopern und andere seichte Unterhaltungssendungen bezahlt werden?
  • Wie werden die hohen Einkommen der Führungskräfte und weit über dem Normalmaß liegende Pensionen gerechtfertigt?

Im Gegensatz zum positiven öffentlich-rechtlichen Rundfunk steht im Sprachmanipulationshandbuch der negative private Rundfunk. Hier ist das Framing der Autorin noch einfacher durchschaubar, denn sie übernimmt einfach bereits bekannte Parolen der politischen Linken:

Man kann es nicht anders sagen: Die Profitwirtschaft, die ihrer Natur nach zumindest primär keine besondere emotionale Bindung zum Menschen hat, sondern ihn als Kunden und damit als Mittel zum finanziellen Zweck sieht, profitiert ungemein von ihrem Framing als »privat«.

»Private« Sender und Medienkonzerne sind profitwirtschaftliche Sender, deren legitimes moralisches Anliegen die hohe Gewinnmarge ist – durch das Einsparen von Kosten und Ausreizen von Preisen. (beide Zitate von S. 29)

Auf Seite 22 wird empfohlen, wie die ARD in ihrer Kommunikation die Privatsender bezeichnen soll: »Profitwirtschaftliche Sender«, »Profitorientierte/-maximierende Sender« oder gar »Medienkapitalistische Heuschrecken«. An fast allen Stellen, an denen es um die Privatsender geht, ist der Text auf dem Niveau vulgärmarxistischer Linkspopulisten angekommen.


Der erste Teil des Handbuchs ist vom Schwarz-Weiß-Denken geprägt. Gut und Böse müssen klar voneinander abgegrenzt werden, damit die Manipulation wirkt: auf der einen Seite stehen die Uneigennützigen und auf der anderen Seite die Profitgierigen:

Damit haben Kommerzmedien, profitorientierte Medien oder Profitsender einen Auftrag, welcher der moralischen Prämisse des gemeinschaftlichen Rundfunks ARD entgegensteht.

Wer sich durch dieses doppelte Framing nicht manipulieren lässt, wird wiederum Fragen stellen:

  • Ist die Werbung in ARD und ZDF nichtkommerziell und werden dadurch keine Einnahmen generiert?
  • Sind Produktplatzierungen und Produktionshilfen in ARD und ZDF nichtkommerziell und werden dadurch keine Kosten gespart?
  • Ist die Nachfrage nach Sportrechten mit vielen Millionen Euro Gebührengeld nichtkommerziell und werden dadurch nicht die Preise hochgetrieben?
  • Stehen öffentlich-rechtliche und private Sender nicht im Wettbewerb um Ressourcen (etwa Stoffe, Prominente oder Formate)?
  • Geht die ARD mit freien Mitarbeitern und freien Produktionsfirmen wirklich immer besser um als die Privatsender?
  • Wurden in den ARD-Sendern keine Kulturangebote abgebaut, weil sie zu viel gekostet haben?
  • Wurden in den ARD-Sendern nicht die anspruchsvollen politischen Magazine gekürzt, verschoben und durch mehr seichte Talkshows ersetzt?

Das sind alles Fragen. Ich kann bei weitem keine letztgültigen Antworten darauf geben. Aber es bleibt festzuhalten, dass ARD und ZDF nicht außerhalb der Marktwirtschaft stehen, dass sie sich teilweise wie Privatunternehmen verhalten – und dass das natürlich auch Auswirkungen auf Qualität und Beitragshöhe hat.


Wer Meinungen manipulieren und Positionen besetzen will, darf nicht differenzieren und darf keine Fragen zulassen. Deshalb werden ja in »Animal Farm« einfache Parolen an die Tafel geschrieben und die Tiere müssen »Vierbeiner gut, Zweibeiner schlecht!« skandieren.

Das Manipulationshandbuch muss also alle negativen Eigenschaften der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und alle positiven Eigenschaften der Privatsender ausblenden – sonst wirkt es nicht. An einer Stelle des Handbuchs wird die Kritik an der ARD in Form von Strohpuppen abgebrannt:

Eine ganze Batterie von abwertenden Schlagwörtern wurde über die Zeit von unterschiedlichen Nicht-Befürwortern der ARD auf das öffentliche sprachliche Tablett gehoben – von »Lügenpresse«, »Staatsfunk« und »Steigbügel der Politik« über »Dinosaurier« und »Krake mit Wasserkopf« bis hin zu »aufgeblähtem Selbstbedienungsladen« mit »ausufernden Renten« und vermuteten »Millionengehältern für prominente Fernsehgesichter«. (Seite 16)

In der Sprache seriöser Kritiker würde das alles ganz anders klingen. Es wäre etwa über die enge Verquickung zwischen den Parteien und den ARD/ZDF-Gremien zu sprechen. Über den Einfluss der Parteien auf Personalentscheidungen in den Führungsetagen der Sender. Über die Bevorzugung oder die Benachteiligung von Parteien in der Berichterstattung. Aber sachliche Einwände sind nicht gewünscht, weil dann die Frames platzen würden.

Es darf also nicht über die exorbitanten Gehälter in den Führungsetagen von ARD und ZDF gesprochen werden. Oder über die ungewöhnlich hohen Pensionen und die aufgelaufenen bisherigen Pensionslasten.

Der wachsende Anteil solcher Kosten an den Beitragszahlungen macht das Programm nicht nur nicht besser – daraus entsteht gar kein Programm. Aber als Beitragszahler sollen wir das klaglos in Kauf nehmen. Kommt mir das nicht bekannt vor? Squealer begründet in »Animal Farm« die Privilegien der Schweine gegenüber den anderen Tieren mit den Worten:

»You do not imagine, I hope, that we pigs are doing this in a spirit of selfishness and privilege? Many of us actually dislike milk and apples. I dislike them myself. Our sole object in taking these things is to preserve our health. […] It is for YOUR sake that we drink that milk and eat those apples. Do you know what would happen if we pigs failed in our duty? Jones would come back! Yes, Jones would come back! Surely, comrades,« cried Squealer almost pleadingly, skipping from side to side and whisking his tail, »surely there is no one among you who wants to see Jones come back?«

Der erste Teil des Framing-Manuals ist eine Fortsetzung dieser Argumentation mit mehr Worten, aber nicht mit wesentlich besserem Inhalt.


Zum Schluss eine Offenlegung: Ich bin kein Gegner der ARD, des ZDF und des DLF. Ich sehe nur sehr selten Sendungen der Fernsehanstalten, höre aber täglich kritisch und aufmerksam den DLF. Ich bin für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich auf die absoluten Kernaufgaben konzentriert. Unter dieser Voraussetzung bin ich zur Zahlung eines Beitrags bereit, weil der Journalismus als Ganzes eines der Fundamente der Demokratie ist.

Für einen parteiunabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit den Kernaufgaben Information, Kultur und Bildung würde ich freiwillig monatlich 10 bis 15 Euro zahlen. Und für den verbindlich zugesagten Verzicht auf solche Sprachmanipulationshandbücher würde ich sogar noch einen Euro drauflegen.



Plädoyer für einen handwerklich guten Journalismus

29. Dezember 2018

Die Zeitschrift Cicero veröffentlichte gestern einen Gastbeitrag [Link] des Rechtsanwalts Georg Strate, der in den sozialen Netzwerken viel Aufmerksamkeit, Widerspruch und Zustimmung erhalten hat. Strate bezieht sich darin auf Georg Restles Beitrag »Plädoyer für einen werteorientierten Journalismus« [Link].

Aufmerksamkeit, Widerspruch und Zustimmung wurden nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass in dem Artikel das Wort »haltungsbesoffene Redakteure« vorkommt. Das ist in der Tat ungehörig: Man sagt als kultivierter Mensch natürlich »haltungstrunken« oder »haltungsberauscht« ;-)

Aufmerksamkeit, Widerspruch und Zustimmung hätte der Cicero-Gastbeitrag aber aus ganz anderen Gründen verdient: Gastautor Georg Strate schreibt streckenweise an Georg Restles Artikel vorbei und projiziert seine eigenen Urteile hinein. Das Wort »Haltung« kommt in Georg Restles Artikel nicht vor und für Strates Urteil

[Georg Restle] maßt sich und der journalistischen Zunft an, zu bestimmen, welche Haltung die einzig ›richtige‹ wäre und in der Folge Kollegen mit der ›falschen‹ Haltung aufs Abstellgleis zu befördern.

gibt es keine belastbare Grundlage. Georg Restles Artikel muss hart kritisiert werden, weil er als Führungskraft ein falsches Vorbild für die Journalisten des WDR entwirft. Aber er muss auch fair kritisiert werden. Zu Beginn seines Artikels schreibt Restle

Die Forderung an uns klingt dabei immer gleich: Objektiv sollen wir gefälligst sein, neutral und ausgewogen – als sei die Wahrheit ein Schatz in tiefer See, der nur noch gehoben werden muss.

Nun kann ich nicht beurteilen, welche Forderungen Georg Restle zu hören bekommt. Aber es ist unplausibel, wenn er den Kritikern die Vorstellung von einem »Schatz in tiefer See« unterstellt, nur um nachher ausführen zu können:

Es ist eine klare, einfache Vorstellung und sie würde uns die Arbeit erheblich leichter machen – nur der Wahrheit, oder was viele darunter verstehen, kämen wir damit wohl kaum näher.

Warum ist das unplausibel? Weil jeder vernünftige Mensch weiß, dass die reine Wahrheit ein Ideal ist, das niemals erreicht werden kann. Aber wir wissen auch, dass eine Medaille zwei Seiten und ein Würfel sechs Flächen hat. Und wir erwarten, dass Journalisten über beide Seiten der Medaille und über mindestens fünf Flächen des Würfels berichten.

Indem Georg Restle ein unerreichbares Ideal der reinen Wahrheit darstellt, senkt er sehr geschickt die Anforderungen an den Journalismus: Wenn das Ideal sowieso nicht erreicht werden kann, muss man sich folglich ein anderes Ziel setzen. Dieses neue Ziel lautet bei Restle aber nicht »Lasst uns jede Medaille einmal umdrehen und jeden Würfel aus mindestens fünf Perspektiven betrachten!«.

Georg Restles Ziel lautet vielmehr: Lasst uns »werteorientiert« und »nicht neutral« berichten. Das bedeutet: Es hängt nur noch von den Werten des Journalisten ab, ob er die Medaille umdreht und ob er den Würfel aus mehreren Perspektiven betrachtet. Bevor Restle dieses Ziel begründet, wirft er in seinem Artikel eine weitere Nebelkerze:

Wo sich fast jeder, der über einen Facebook- oder Twitter-Account verfügt, als Medium begreift und Meldungen sich im Millisekundentakt über die Welt ergießen, gleichrangig, ungeprüft und sofort tausendfach kommentiert, kommt Journalismus an seine physischen und psychischen Grenzen – und wird zunehmend manipulierbar.

Tatsache ist: Die meisten Äußerungen und Kommentare werden nur von ganz wenigen Menschen beachtet, weil ihre Absender keine Reputation haben und keine Interessenten (Follower) binden. Nur wenige Medien haben eine nennenswerte Reichweite und damit einen nennenswerten Einfluss.

Aber zur Manipulierbarkeit des Journalismus gibt es gerade heute ein sehr schönes Beispiel. In den Nachrichten des Deutschlandfunks und in vielen anderen Medien wurde vermittelt: Gesetzliche Krankenversicherungen bieten nach einer Studie oft bessere Leistungen als die privaten Krankenkassen.

Meldungen über eine Studie im Auftrag der Grünen (Klick auf das Bild vergrößert die Ansicht).

Tatsächlich handelt es sich um eine Auftragsstudie der Grünen, die am heutigen Morgen (28.12.2018) gar nicht veröffentlicht war. Sekundärquelle war ein Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland [Link], den man nur aufmerksam lesen musste, um die Schwächen der Studie zu erkennen.

Die Redaktionen hätten die Medaille also einfach nur umkehren müssen, um die Qualität der Studie und die Botschaft der Grünen zumindest zu hinterfragen. Nach Georg Restle wäre aber folgendes Vorgehen »wertorientierter Journalismus«: Wer gesetzliche Krankenkassen für wertvoller als private Krankenkassen hält und wer die Chancen der Grünen befördern möchte, wird als Journalist die Kehrseiten der Studie natürlich nicht hinterfragen. Denn mit Recherchieren macht man sich bekanntlich nicht nur die schönsten Geschichten kaputt, sondern man kann auch an die Grenzen der eigenen Werteorientierung stoßen.

Ich will hier nicht unterstellen, dass die deutschen Medien am Morgen des 28.12.2018 aus reiner Werteorientierung weitgehend dasselbe geschrieben haben. Möglich sind auch die Erklärungen Zeitdruck, Bequemlichkeit und Abhängigkeit von Agenturmeldungen. Aber an diesem Beispiel kann man gut zeigen, welche Gefahr darin liegt, wenn niemand mehr Wert auf die von Georg Restle gescholtene Objektivität legt. Restle beschreibt die Gefahr, dass

[…] Journalisten im Neutralitätswahn nicht mal mehr wahrnehmen, wenn sie längst zum verlängerten Arm derer geworden sind, die mit ihrem ständigen Beharren auf journalistischer Objektivität nur ihre eigene Agenda oder ihre eigenen Geschäftsinteressen im Sinn haben.

Das Beispiel der Studie über die Krankenkassen zeigt, wie wichtig diese obskure »Objektivität« ist: Mit der beauftragten Studie wollen die Grünen ihre Agenda (Gesetzliche Krankenversicherung und Bürgerversicherung) gegen die Private Krankenversicherung durchsetzen. Ein »werteorientierter Journalismus« lässt das so durchgehen, weil das bestellte und gelieferte Ergebnis der Studie zweifellos bestimmten Werten entspricht. An der Objektivität orientierter Journalismus schaut sich dagegen beide Seiten an und hinterfragt vor allem die Interessen der Auftraggeber der Studie. Georg Restle schrieb am 27.12.2018 auf Twitter ergänzend:

»Haltung rechtfertigt keine Lügen. Im Gegenteil: Journalistische Haltung setzt Wahrhaftigkeit voraus.« [Link]

Aber es geht hier gar nicht um den Gegensatz zwischen Wahrheit und Lüge. Es geht um das Weglassen eines Teils der Wahrheit, es geht um das Umdrehen der Medaille. Die Journalisten, die heute unkritisch über die Krankenkassenstudie berichtet haben, lügen ja keineswegs – sie lassen nur entscheidende Informationen weg. Der Deutschlandfunk verlas heute Morgen:

Gesetzliche Krankenversicherungen bieten nach einer Studie oft bessere Leistungen als die privaten Krankenkassen. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion, die dem Redaktions-Netzwerk Deutschland vorliegt. Danach wird selbst bei den teuren Premium-Tarifen der privaten Versicherer rund ein Viertel der Mindestanforderungen nicht erfüllt. Bei den gesetzlichen Kassen sind es nur drei Prozent. [Link]]

Was der Deutschlandfunk berichtet, ist keineswegs gelogen. Was aber fehlt: Wer hat die Mindestanforderungen festgelegt? Nach welchen Kriterien wurden die verglichenen Leistungen ausgewählt? Wie viele Leistungen gibt es insgesamt und wie viele davon wurden in die Studie einbezogen? Wie können sich privat Versicherte im Gegensatz zu gesetzlich Versicherten ihre Leistungen zusammenstellen? Wo sind eventuell die privaten Versicherungen besser? Und wie sehen die Beiträge im Vergleich aus? [Ergänzung am 29.09.2018: Link zur politischen Zusammenfassung der Auftragsstudie bei der Grünen-Bundestagsfraktion]

Georg Restle stellt sich und den Journalisten die Frage:

Die Frage lautet also, ob wir das wirklich wollen: nur abbilden, was die Kampagnenführer aus Staats-, Partei- oder Konzernzentralen multimedial verbreiten?

Die Antwort lautet: Viele Journalisten tun leider genau das! Sie verbreiten »Studien«, sie verbreiten die Antworten auf geschickt gestellte »Kleine Anfragen« der Opposition, sie verbreiten Pressemitteilungen der Interessengruppen. Entweder tun sie es aus »Wertorientierung« oder sie tun es aus Bequemlichkeit oder sie müssen es wegen des Zeit- und Leistungsdrucks tun.

Deshalb muss das Plädoyer lauten: Journalisten sollen aus ihren Möglichkeiten das Beste machen. Sie dürfen sich nicht an ihren persönlichen Werten orientieren, sondern sie müssen die Medaille wenigstens anheben, um zu schauen, was auf der anderen Seite verborgen sein könnte.

Abschließend noch ein Zitat, das die Intelligenz der Leserinnen und Leser, der Journalistinnen und Journalisten und im Grunde auch Georg Restles Intelligenz beleidigt:

»Und meinen wir wirklich, neutral und ausgewogen zu sein, wenn wir nur alle zu Wort kommen lassen, weil die Wahrheit schließlich immer in der Mitte liegt? Und wenn die Mitte immer weiter nach rechts wandert, liegt die Wahrheit eben bei den Rechten? Und wenn die Mitte verblödet, bei den Blöden?«

[…]

»Nein, mit einem solchen Verständnis von Journalismus will ich nichts zu tun haben, auch weil die Wahrheit höchst selten in der Mitte liegt – schon gar nicht in Zeiten des millionenfachen Geblökes der ›sozialen‹ Netzwerke.«

Kein vernünftiger Mensch hat jemals behauptet, dass die Wahrheit in der Mitte läge und dass jeder blökende Blöde zu Wort kommen müsse. Kein vernünftiger Mensch hat jemals die Position vertreten, dass dieses Zerrbild objektiven Journalismus darstelle. Das ist ja noch peinlicher als das nachgeschobene Carolin-Emcke-Zitat

»Das Mantra vom ›Wir versuchen nur darzustellen, was ist‹ zeugt keineswegs von selbstkritischer Objektivität, sondern von selbsthypnotischer Verantwortungslosigkeit.«

Es spricht (um zum Ende zu kommen) noch ein weiteres wichtiges Argument gegen »werteorientierten Journalismus«: Wer legt eigentlich die Werte fest? Heute sind unter Journalisten bestimmte grüne und soziale Werte hoch im Kurs. Eine maßgebliche Journalistin der ARD bejubelte ganz im Sinne der richtigen »Werteorientierung« die Stimmung auf einem Grünen-Parteitag und das neue Führungsduo der Grünen.

Aber in der DDR bekamen Journalisten andere Werte vorgegeben. Im heutigen Ungarn sind es für die Mehrheit der regierungsorientierten Journalisten noch einmal ganz andere Werte. Auch wenn sich beide Beispiele in vielerlei Hinsicht unterscheiden: Die Erfahrung zeigt, dass sich die meisten Journalisten den Werten der Regierung oder den Werten der Mehrheit anschließen. Wenn solche Zeiten anbrechen, ist jedes Stück handwerklich guter Journalismus Gold wert. Werteorientierte Haltung bekommt man dagegen hinterhergeworfen.

Was ich damit sagen will: Werte können sich schnell ändern, aber handwerklich guter Journalismus ist ein Wert an sich. Nur eine Minderheit der Journalisten hinterfragt heute noch mit ökonomischem und technischem Sachverstand komplexe Themen wie die Energiewende, die Verkehrswende oder die Geldpolitik. Sich dagegen »werteorientierte« Geschichten in der Art eines Claas Relotius auszudenken, ohne Recherche und Hintergrundwissen – das macht keine Arbeit. Man bekommt dafür Journalistenpreise und ein großes Lob von Georg Restle.


Ergänzung 1: Diesen Beitrag kannte ich beim Schreiben leider nicht: Georg Restle und das Verschwinden der Öffentlichkeit von Lucas Schoppe. Er erschien kurz nach dem auslösenden Beitrag von Georg Restle.



Bots in sozialen Medien: das große Durcheinander

17. Dezember 2018

Was hat der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus gestern in der gedruckten FAS wirklich gesagt und was kann man daraus schließen? Ich zitiere die Aussage der FAS und seine Antwort:

Inzwischen scheint es so, dass ein Teil der Aufregung über den Pakt in den sozialen Netzwerken künstlich erzeugt worden ist.

Viele meiner Kollegen sind mit Mails überschwemmt worden. Oft waren es dieselben Textbausteine. Aber vor allem im Netz und in sozialen Medien wurde eine Welle von Unwahrheiten und Diffamierungen ausgelöst. Solche Kampagnen können mittlerweile eine ungeheure Kraft entfalten. Die traditionellen Medien werden oft gar nicht mehr gehört, wenn sie versuchen, Sachverhalte richtig einzuordnen. Hinzu kommt, dass die Verbreitung dieser Falschmeldungen und Diffamierungen von Troll-Fabriken und kostengünstigen Technologien unterstützt wird. Die Algorithmen der Plattformen tun dann ein Übriges dazu, die Verbreitung dieser Nachrichten noch weiter zu erhöhen. [Quelle: FAS vom 16.12.2018, Seite 2]

Beginnen wir mit der Technik: Ich habe nicht den Eindruck, dass Herr Brinkhaus in Sachen »Soziale Medien« kompetent beraten wurde. Die »kostengünstigen Technologien« zur Verbreitung von Informationen stehen ALLEN Interessengruppen zur Verfügung. Ob politische Partei, Parlamentsfraktion, Unternehmen, Lobby-Organisation oder Privatperson: Alle sind bestrebt, ihre Anliegen möglichst effektiv und effizient zu verbreiten.

Ralph Brinkhaus möge sich bitte in seiner eigenen Partei und Fraktion darüber informieren, wie man Profile in den sozialen Medien verknüpft und wie man manuelles »copy and paste« elegant ersetzen kann. Techniken zum automatischen Verteilen derselben Nachrichten auf mehreren Plattformen gibt es in jeder professionell arbeitenden Social-Media-Redaktion.

Es gibt bisher keinen Beweis, dass legitime oder illegitime Argumente zum UN-Migrationspakt von einer Troll-Fabrik oder gar von mehreren Troll-Fabriken »fabriziert« und verbreitet wurden. Wer solche Behauptungen aufstellt, ist auch in der Beweispflicht.

Der UN-Migrationspakt hat deshalb so großes Interesse geweckt, weil Deutschland mit den positiven und negativen Folgen der Globalisierung und der Migration leben muss. In den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und in den meisten privaten Medien waren aber bis zum Herbst 2018 kaum Beiträge zum Migrationspakt zu finden. Es entstand ein gewisses Vakuum. Brinkhaus sagt:

»Die traditionellen Medien werden oft gar nicht mehr gehört, wenn sie versuchen, Sachverhalte richtig einzuordnen.«

Tatsache ist: Zum Thema Migrationspakt gab es lange Zeit nur sehr wenige Informationen. Selbst wenn es mehr Informationen gegeben hätte: Eine »richtige Einordnung« des Themas ist unmöglich. Das sieht man sehr gut an den widersprüchlichen Expertenmeinungen zur Verbindlichkeit und zu den Folgen des Migrationspakts. Es verwundert mich sehr, dass ein demokratischer Politiker von »richtiger« Einordnung spricht. Richtig wäre hier die Forderung nach handwerklich sauberer Arbeit der Medien und der Politik.

Ohne den Migrationspakt an dieser Stelle sachlich werten zu wollen, darf man feststellen: Einige Teile der Bevölkerung haben kein Vertrauen mehr in die Migrationspolitik der Bundeskanzlerin. Andere Teile der Bevölkerung erhoffen sich von dem Pakt eine Verbesserung der Situation. Es ist folgerichtig, dass über dieses Thema kontrovers diskutiert wird.

Wenn ein Thema aber derart stark polarisiert, wird es immer gegenläufige Tendenzen geben: Die eine Seite dramatisiert, die andere Seite bagatellisiert. Die eine Seite verbreitet nur negative Beispiele, die andere Seite nur positive. Jede Seite spendet den Stimmen Beifall, die sie hören will. Es gibt keinen fairen Wettbewerb der Meinungen mehr, es ist eher ein Gladiatorenkampf zwischen zwei Gruppen, der auch mit schmutzigen Mitteln ausgetragen wird.

Wenn man wieder zu einem fairen Wettbewerb zurückkehren will, wird das mit staatlicher Regulierung nicht zu machen sein. Es kann nur über eine Selbstverpflichtung der demokratischen Kräfte funktionieren. Wer dabei nicht mitmachen will oder wer falsch spielt, muss offen benannt werden. Aber dafür braucht es Beweise und nicht das Geraune über ominöse »Trollfabriken«.

Völlig inakzeptabel wäre die Attitüde: Was mir nicht gefällt, kommt aus der »Trollfabrik«, was mir gefällt, kommt aus der edlen PR-Agentur. Und damit ist auch die Aussage der FAS in Frage zu stellen, auf die Brinkhaus geantwortet hat:

»Inzwischen scheint es so, dass ein Teil der Aufregung über den Pakt in den sozialen Netzwerken künstlich erzeugt worden ist.«

Allenfalls ist die Aufregung über den Migrationspakt technisch geschickt verbreitet worden – aber »künstlich erzeugt« wurde sie sicher nicht. Dazu muss man sich die Auswirkungen der Globalisierung und der Migration nur mit offenen Augen anschauen.



Zivilisierter Widerspruch (3)

2. Oktober 2018

Der heutige zivilisierte Widerspruch richtet sich gegen die »Morgenandacht« vom 02.10.2018 im Deutschlandfunk, die eigentlich von der Friedensbewegung, der Linkspartei oder den fundamentalistischen Grünen stammen könnte. Auch dieser zivilisierte Widerspruch beginnt mit einem Abschnitt der Zustimmung und dann folgen erst die Gegenargumente.


Die Zustimmung

Es ist auch im Jahr 2017 richtig und wichtig, über den Pazifismus und seine Auswirkungen nachzudenken. Der Vergleich zwischen Militärausgaben und Ausgaben für Lebensmittelhilfe kann angemessen sein.



Der Widerspruch

Aber nicht auf diese Weise. Wer in Deutschland und der EU von Pazifismus spricht, kann über die Risiken dieser Welt nicht schweigen. Wer über Pazifismus ohne rationale Argumente spricht, sollte es besser ganz lassen. Die Autorin sagt und schreibt:

2017 wurden 1739 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben. Um mir diese Zahl bildlich vorzustellen, stelle ich mir diese Summe als einen Stapel Dollarscheine vor: 1000 übereinander ergeben einen Zentimeter, eine Milliarde 10 Kilometer. Der weltweite Ausgabenturm für Bomben, Drohnen, Schnellfeuergewehre, Panzer usw. ist 17.390 Kilometer hoch.

Das ist ein Vergleich für Naive und die Zahlen sind allesamt Quatsch: Ein aktueller Dollarschein ist 0,11 Millimeter stark, demzufolge ergeben 1.000 Dollarscheine nicht einen Zentimeter, sondern 11 Zentimeter Höhe. Eine Milliarde Dollarscheine ist (gestapelt) 110 Kilometer hoch.

Selbst wenn die Autorin richtig gerechnet hätte, wären ihre absoluten Zahlen ohne eine Einordnung nutzlos: Absolute Zahlen müssen ins Verhältnis zu anderen relevanten Zahlen gesetzt werden, um sie vergleichen zu können. Rüstungsausgaben setzt man normalerweise ins Verhältnis zum Bruttosozialprodukt oder zum Gesamthaushalt eines Staates. Darüber hinaus gibt es folgende sachliche Einwände gegen den Vergleich von Rüstungsausgaben in Form absoluter Zahlen:

  1. Die genannten Zahlen sind offizielle Haushaltszahlen. In Russland (und auch in China) gibt es aber Schattenhaushalte für die Rüstungsausgaben. Das ist in der Bundesrepublik gar nicht möglich, in anderen NATO-Staaten wohl auch eher unwahrscheinlich.
  2. Russland hat eine Wehrpflichtarmee – Deutschland, die USA und andere NATO-Staaten nicht. Die Pro-Kopf-Aufwendungen der russischen Armee für Kasernen, Sozialleistungen, Sold und Pensionen dürften im Vergleich mit der Bundeswehr oder der US-Streitkräfte zu vernachlässigen sein. Das trifft sinngemäß auch auf Wartungskosten und Unterbringungskosten zu.
  3. Die Kaufkraft hinter den Militärausgaben ist in Russland viel höher als in der Bundesrepublik oder in den USA. Waffensysteme werden in Russland kostengünstiger entwickelt und produziert sowie aus anderen Quellen quersubventioniert. Im Westen ist jede Art von Arbeit ungleich teurer.

Faustregel: Wann immer Ihnen eine Person in den Medien oder von der Kanzel herab absolute Zahlen vorgibt, um damit einen komplexen Zusammenhang zu erklären, dann werden Sie bitte skeptisch. Entweder macht die Person Propaganda, oder sie will Sie über den Tisch ziehen, oder sie weiß es nicht besser. Keine der Alternativen klingt besonders beruhigend.


Der eigentlich sinnvolle Vergleich zwischen Militärausgaben und Ausgaben für Lebensmittelhilfe hat trotzdem einen großen Haken: Ohne Militäreinsatz kann die Lebensmittelhilfe in vielen Konfliktfällen gar nicht abgesichert werden.

Militäreinsätze sind aber ohne Soldaten, Rüstungshaushalt und Waffen nicht möglich. Wenn etwa die Bundeswehr einen humanitären Einsatz absichert, dann ist der Einsatz der Soldaten immer ungleich teurer als die eigentliche Lebensmittellieferung.

Fazit: Eine Morgenandacht der Evangelischen Kirche, in der Jesus und Christentum nur noch ganz am Rande vorkommen, kann man sich sparen. Der Text dieser Morgenandacht könnte auch in der taz oder in Pressemitteilungen der Linken stehen. Er hat mit Religion im Grunde nichts zu tun.

Wenn ich den Text aber politisch betrachte, dann stört mich die Vereinfachung: Der gesamte Sachverhalt ist hochkomplex und die Vereinfachungen sind der Komplexität nicht angemessen. Die Autorin ist nicht bereit, sich den eigentlichen Konflikten dieser Welt zu stellen, die Zahlen richtig einzuordnen, oder auch nur richtig zu rechnen.

Der Text erfüllt also weder die Anforderungen an eine Morgenandacht noch die Anforderungen an einen politischen Kommentar. Als emotionale Meinungsäußerung mag er durchgehen, für den rational denkenden Christenmenschen ist er offenbar nicht gedacht.



Ergänzung: Zusammenhänge zwischen Militäreinsätzen, Flucht und Lebensmittelhilfe findet man in diesem Interview der FAZ. Es ist auch unter dem Text der Morgenandacht verlinkt – um so erstaunlicher, dass die Autorin nichts daraus entnommen zu haben scheint.



Zivilisierter Widerspruch (1)

30. September 2018

Die Zustimmung

Heute: Zivilisierter Widerspruch gegen einen Artikel von Josef Schuster und Heinrich Bedford-Strohm. Jeder zivilisierte Widerspruch gegen einen veröffentlichten Artikel soll mit Argumenten für den Artikel beginnen:

  1. Es ist völlig richtig, dass vor Rechtsextremismus und damit verbundenen Gewalttaten gewarnt wird. Wer kann etwas dagegen haben?
  2. Es ist völlig richtig, dass vor dem Instrumentalisieren von Ängsten durch Populisten gewarnt wird.
  3. Es ist auch richtig, dass vor den Gefahren der Manipulation unserer öffentlichen Sprache gewarnt wird.
  4. Es ist notwendig, die Rhetorik der AfD zu hinterfragen: Was meint sie mit »Systemwechsel«? Wogegen will sie im demokratischen Rechtsstaat »Widerstand« leisten?
  5. Es ist nicht zuletzt eine Selbstverständlichkeit, dass die demokratischen Errungenschaften und der Wertekodex der Bundesrepublik hochgehalten und verteidigt werden.

Wenn sich die beiden führenden Vertreter der jüdischen und der christlichen Religion dieses Landes dafür aussprechen, dass jüdisches Leben und jüdische Religion in diesem Land sicher sein müssen: Welcher zivilisierte Bürger wollte ihnen widersprechen? Aber auf welche Weise und gegen welche Gefahren diese Absicherung erfolgt: Darüber darf man streiten, darüber muss man streiten.



Der Widerspruch

Eine Zwischenüberschrift des Artikels lautet »Widerspruch braucht Widerspruchsgeist«. Diesen Widerspruch sollen die Autoren nun bekommen. Josef Schuster und Heinrich Bedford-Strohm zitieren je einmal aus Thora und Bibel. Es sind bekannte Zitate, es sind aber leider auch oft instrumentalisierte Zitate. In der Thora steht:

Wenn ein Fremder in eurem Lande weilt, so sollt ihr ihn nicht kränken. Gleich dem Einheimischen unter euch sei euch der Fremde, der bei euch weilt, und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn Fremdlinge waret ihr im Lande Ägypten.

Der Staat Israel, in dem die Thora weltweit die größte Bedeutung hat, ist die einzige echte Demokratie im Nahen Osten. Israel ist der Zufluchtsort vieler Juden, die aus arabischen Staaten und aus anderen Staaten vertrieben wurden oder gehen mussten.

Israel hilft sogar den Kindern seiner größten Feinde mit medizinischer Versorgung: Es wurden tatsächlich kranke oder verletzte Kinder der Mitglieder von islamistischen Terrororganisationen in israelischen Krankenhäusern versorgt.

Aber Israel geht auch äußerst streng gegen illegale Migration vor. Israel unterbindet den Missbrauch des Asylrechts. Israel weist illegal Eingereiste konsequent aus oder findet andere Staaten, die diese Personen aufnehmen. Es liegt also klar auf der Hand, dass die Thora zwar Orientierung gibt, aber niemals Staatsräson sein kann.


In der Bibel gibt es das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und viele andere Beispiele für Nächstenliebe. Es stimmt auch, dass in der Bibel die folgenden beiden Sätze stehen:

Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.

Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.

Es ist aber grundsätzlich falsch, die Zitate aus der Thora und aus der Bibel ohne rationale Einordnung zu verwenden. Diese heiligen Bücher richten sich nicht an säkulare Gesellschaften, sondern an individuelle Gläubige und an Glaubensgemeinschaften. Das ist ein entscheidender Unterschied. Diese Zitate verpflichten den demokratischen Rechtsstaat Israel und den demokratischen Rechtsstaat Deutschland zu gar nichts.

Der barmherzige Samariter aus der Bibel ist beim Helfen nicht über seine soziale und wirtschaftliche Leistungsgrenze hinausgegangen. Er hat geholfen, aber er wusste auch seine Grenzen zu ziehen. Er wurde übrigens auch nicht mit dem Messer angegriffen, als er geholfen hat.

Deshalb ist zu differenzieren zwischen dem Rechtspopulismus und dem rationalen Widerspruch gegen uneingeschränkte Aufnahme von Fremden, gegen zu weitgehende Rechte für Fremde und gegen uneingeschränkt offene Grenzen. Das leistet der Artikel überhaupt nicht. Es wird eine Dichotomie zwischen Gut und Böse, zwischen Rechtspopulisten und hypermoralisch Gerechten aufgebaut. Zwischen diesen beiden »Lagern« gibt es aber zivilisierte, demokratische Menschen, die gegen beides sind. Sie müssen in der Politik Gehör finden, denn auch ihre Anliegen sind legitim.


Ein Kernargument des Artikels sei noch ausführlich zitiert. Es zeigt, wie wenig sich die Autoren getraut haben, ihre Argumente zu Ende zu denken. Die Autoren des Artikels werfen der AfD vor:

Aufbrüche in einen grundgesetzkonformen Islam sollen beendet werden. Die Dialogfähigkeit der Religionen soll geschwächt werden. Gegeneinander statt miteinander: Das ist die Religionspolitik der AfD.

Aber wer bedroht denn die Aufbrüche in einen grundgesetzkonformen, reformierten und aufgeklärten Islam wirklich? Es sind radikale Salafisten und andere islamische Fundamentalisten mit ihren Morddrohungen gegen Dissidentinnen und Dissidenten. Diese islamischen Dissidentinnen und Dissidenten erhalten nicht Polizeischutz, weil die AfD in ihrem Programm zu islamkritisch wäre. Sie erhalten Polizeischutz, weil sie von fundamentalistischen Vertretern des Islam bedroht werden. Die Autoren schreiben:

Falsch verstandene Toleranz und beschwichtigende Narrative stärken den Rechtsextremismus dort, wo klarer Widerspruch angezeigt ist.

Das gilt aber – wie man an der Eröffnung der DITIB-Moschee als Quasi-Außenstelle des erdoganschen Religionsministeriums sehen konnte – viel mehr und viel drastischer für den Islamismus. Den Rechtsextremismus abzulehnen ist in Deutschland Staatsräson. Über den Islamismus und Staatsislam wurde viel zu lange laut geschwiegen – auch von den beiden Autoren des WELT-Artikels.



Tendenziöse Nachricht: »Harter Hund« aus Bayern soll neuer BAMF-Chef werden

18. Juni 2018

Der Montag beginnt mit den Nachrichten des Deutschlandfunks. Man verwendet dort die interessante Quellenangabe »laut übereinstimmenden Medienberichten« und führt aus:

Demnach erhält den Posten der Leiter des Fachreferats für Ausländerrecht im bayerischen Innenministerium, Sommer. Dieser werde in Fachkreisen als sogenannter »harter Hund« beschrieben, der abgelehnte Asylbewerber schneller ausweisen und Migranten stärker auf terroristische Kontakte hin überprüfen lassen wolle.

[Quelle im Original]

Jemand hat eine dezentrale Sicherungskopie in einem Webarchiv angelegt.


[Ergänzung]: Der DLF hat die Meldung am 18.06.2018 ungefähr um 07.30 Uhr intransparent geändert. Das Zitat lautet nun:

Demnach erhält der Leiter des Fachreferats für Ausländerrecht im bayerischen Innenministerium, Sommer, den Posten. Dieser sei in Fachkreisen für eine harte Linie gegenüber abgelehnten Asylbewerbern bekannt, hieß es.

Die Überschrift lautet nun: »Jurist aus Bayern soll neuer Chef werden«. Kein »harter Hund« mehr.


Meine erste Kritik an der Meldung: Aus journalistischer Sicht ist es höchst unseriös, die konkrete Quelle in den gesendeten Nachrichten nicht zu benennen. Auf Nachfrage haben Social-Media-Mitarbeiter des DLF getwittert:

Über den Wechsel hatten unter anderem die dpa, „Bild am Sonntag“ und „Focus Online“ berichtet, Quelle für das Fachkreise-Zitat ist der „Focus“.

[Quelle]

Aber es wurde so nicht gesendet.


Meine zweite Kritik an der Meldung: Selbst wenn man als Quelle die Illustrierte »Focus« nennen würde, bleibt es eine kolportierte Zuschreibung von Eigenschaften. Wer diese Information mit welchem Ziel in die Welt gesetzt hat, wurde durch den DLF nicht überprüft. Wenn das aber nicht überprüft wurde, gehört es nicht in die DLF-Nachrichten!


Meine dritte Kritik an der Meldung: Sie informiert nicht, sondern sie macht das Publikum voreingenommen. Sie spaltet und polarisiert, ohne irgendeinen Nachrichtenwert zu haben. [Ergänzung nach kritischer Nachfrage von @Sektordrei via Twitter: Die Meldung wird als tendenziös wahrgenommen.]

Die Anhänger der Politik des Innenministers Horst Seehofer werden vermutlich froh sein, dass da mal jemand so richtig durchgreift. Manche werden noch einen draufsetzen: dass der Wechsel zu spät erfolgt und die Härte bei weitem nicht ausreicht.

Die Gegner der Politik des Innenministers Horst Seehofer (etwa SPD, Linkspartei, Grüne, Linksradikale etc.) werden unterstellen, dass im BAMF ein Law-and-Order-Chef installiert werden soll, der Migranten ungerecht und hart behandeln will.

Warum lässt man den Beamten nicht erst mal seine Grundsätze vorstellen und seine Arbeit machen? Dann kann man die Ergebnisse beurteilen.


Davon abgesehen gibt es im Deutschlandfunk immer noch viele interessante und informative Sendungen. Aber ich werde in Zukunft noch genauer hinhören.



Alexander Grau »Hypermoral«: Diskussion und Lesung im Buchhaus Loschwitz (2)

25. März 2018

Im zweiten Teil der Lesung stellte Alexander Grau sein Buch »Hypermoral – Die neue Lust an der Empörung« vor und las aus einem Kapitel.


Die Notizen zum Inhalt des vorgelesenen Kapitels würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen, deshalb folgt hier zunächst die kurze Inhaltsangabe der 128 Seiten:

Das Buch beginnt mit einem kurzen Vorwort und einer kurzen Einleitung. Darin beschreibt Alexander Grau unter anderem dieses Symptom der Gesellschaft des Hypermoralismus:

Technische, wissenschaftliche oder ökonomische Probleme werden zu moralischen Fragen umgedeutet und in einen Jargon aufgekratzter Moralität überführt. Insbesondere Möglichkeiten der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung sind, zumal in Deutschland, kaum noch sachlich zu diskutieren: Wer, um nur ein Beispiel zu nennen, hierzulande die Chancen der Gentechnologie in der Medizin und in der Landwirtschaft diskutieren möchte, der hat von vornherein verloren, denn allein dieses Ansinnen gilt als Häresie. Hier hat man nicht nachzudenken, hier hat man sich zu bekennen.

Das Vorwort und die Einleitung können Sie als Leseprobe nachlesen.


Die Kapitel eins bis drei beschreiben die Steigerung von der Moral über den Moralismus zur Hypermoral. Im vierten Kapitel geht es um den Moralismus als Religionsersatz. Im fünften Kapitel befasst sich der Autor mit Hypermoralismus und Individualismus, im sechsten mit Hypermoralismus und Massengesellschaft und im siebten Kapitel ist der Höhepunkt erreicht: die »dauererregte Gesellschaft«. Ein Zitat aus Kapitel drei sei noch gestattet:

Eben weil der neue Moralismus sich selbst nicht als Ideologie sieht, sondern als Lehre des evident Guten, entwickelt er besonders penetrante Formen, den weltanschaulichen Gegner zu diskreditieren. Sahen traditionelle Ideologen im Abweichler entweder einen vom rechten Glauben abgefallenen Ketzer oder schlicht einen Ungläubigen und weltanschaulichen Gegner, so stempelt der Moralismus seinen Widersacher zum Opfer seiner persönlichen oder sozialen Prägung oder diskreditiert ihn schlicht als minderbemittelt, unreflektiert oder von Vorurteilen getrieben.


In der kurzen Fragerunde war die Stimmung folglich nicht eben euphorisch. Das Publikum schien sichtlich beeindruckt vom Fazit des eben gelesenen siebten Kapitels.

Dieser Zug ins Autoritäre ist individualistischen Emanzipationsgesellschaften immanent. Aus dem Streben nach Selbstverwirklichung wird das Diktat der Offenheit. Und aus der Befreiung aus tradierten Vorstellungen die Gefangenschaft im Zeitgeist.

Es ging in der Diskussion unter anderem um die Rolle der Linken, die ja in früherer Zeit in der Vertretung der Interessen des Proletariats, dessen Bildung und Emanzipation bestand. Die neue Linke im Zeitalter des Hypermoralismus, so Alexander Grau, erfinde Minderheiten und generiere Probleme.

Hypermoral und Politik: Alexander Grau verweist in der Diskussion und im Buch auf die Debatte um den ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, der am Rande einer Reise offen gesagt hatte, dass militärisches Eingreifen auch Handelswege und deutsche Interessen sichert. Köhler musste nicht zurücktreten, weil ihm eine fehlerhafte Aussage nachgewiesen worden wäre. Köhler musste zurücktreten, weil seine sachlich richtige Aussage als unmoralisch und unsagbar eingestuft wurde.

Es wurde noch einmal auf den Unterschied zwischen Moral und Hypermoralismus verwiesen: Moral sei immer einengend gewesen, während der Hypermoralismus im Mantel der Freiheit daher käme.


Am Ende der Lesung stellte eine Zuschauerin die Frage: Wie soll es denn nun weitergehen? Gibt es Auswege aus dem Hypermoralismus? Ist der Trend umkehrbar? Die Antwort fiel dem Autor und der Gastgeberin sichtlich schwer. Schließlich sagte jemand sinngemäß, es müsse wie im Märchen die Erkenntnis kommen: »Die Kaiserin ist ja nackt.«

Die bestmögliche Wirkung des Buchs wäre eine gelassene und entschiedene Trotzreaktion der Leser: So einfach nehmen wir die Hypermoral nicht mehr hin.

Dafür ist dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen. Es ist zum einen so gut geschrieben, dass es die richtigen Trotzreaktionen auslösen kann. Es ist zum anderen auch gut gestaltet: Der Text ist in einer sehr gut lesbaren Schrift auf kleinen Seiten gesetzt. Der Satzspiegel ist gut ausbalanciert. Ich habe einen Schreibfehler und keinen Satzfehler gefunden ;-)

Das Kulturhaus Loschwitz wollte seine Zuhörerinnen und Zuhörer nicht ohne Trost in den Abend und ins Wochenende schicken. Der vorletzte Satz des Abends war folglich das Hölderlin-Zitat »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«

Geheimtipp: Ein erstes Gegengift hat die Buchhändlerin nebenan im Angebot – man schaue im Buchhaus dort nach, wo an der Supermarktkasse die Süßigkeiten liegen würden: Das unscheinbare Heftchen heißt »Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft«, kommt vom Reclam-Verlag und kostet sechs Euro. Zur Immunisierung braucht es freilich mehr: Bücher, Gedanken, Entscheidungen und Taten.


Der allerletzte Satz des Abends war: »Bleiben Sie trotz allem empört!« – und das hatte nach dieser Lesung natürlich eine ironische Note. Denn wenn wir etwas gegen den Hypermoralismus tun wollen, müssen wir zuerst unsere eigene Empörung kontrollieren. Alexander Grau schreibt im Vorwort zum Buch, dass man sich nicht über etwaige Gutmenschen ereifern solle und fährt fort:

»Denn die dabei zum Ausdruck kommenden Ressentiments tragen wenig zur Klärung des Phänomens bei. Im Gegenteil. Sie bedienen letztlich die gleichen Emotionalisierungsmechanismen wie der Hypermoralismus selbst. Auch Empörung über Empörung ist Empörung. Das führt dazu, das Phänomen falsch einzuordnen.«

Deshalb werde ich in der kommenden Woche einen dritten Teil des Artikels schreiben, in dem ich meine eigenen Gedanken zum Leben mit der Hypermoral aufschreibe. Denn wenn es uns 1989 am Ende der DDR gelungen ist, einen diktatorisch-hypermoralischen Staat zu überwinden, dann müsste man doch heute auch etwas mehr tun können, als sich über die Hypermoral in einer ungleich freieren Gesellschaft zu empören.


Es folgen noch einige Quellen und Denkanstöße, die nicht mehr in den Text passten, aber weiterführend wichtig sein könnten. Der obligatorische Warnhinweis: Wer das liest, könnte mit der Hypermoral in Konflikt kommen.


[Exkurs 1]: Es gibt ein Interview mit Alexander Grau im Deutschlandfunk (Ende 2017). Dort spricht Grau unter anderem über seine Motivation:

Vor dem Hintergrund dieser teilweise eskalierenden Debatten in vielen politischen, aber auch ganz privaten Bereichen ist es, glaube ich, notwendig, sich die Mechanismen, die dazu geführt haben, vor Augen zu führen. Das ist ein Stück weit unvermeidbar, dieser Hypermoralismus, den ich meine zu analysieren. Aber man kann ihn vielleicht dadurch etwas entschärfen, dass man sich über das Phänomen überhaupt klar wird, und dass man versucht zu verstehen, wie es dazu in unserer Gesellschaft kommen konnte.


[Exkurs 2]: Es kommt eher selten vor, dass die Leitmedien einen Gastautor zu Wort kommen lassen, der sich gegen einen Aspekt des Hypermoralismus ausspricht. Die »Sächsische Zeitung« hat das trotz (oder sogar wegen) der Tellkamp-Debatte getan. Auch hier ein Zitat aus dem Text:

Natürlich ist es die freie Entscheidung von Tellkamp, zu schweigen und die Lesungen abzusagen. Der Mainzer Historiker Andreas Rödder charakterisiert diese „Freiheit“ als eine »technische«:

Es heißt immer, in Deutschland könne man alles sagen. Das stimmt, allerdings nur in einem technischen Sinne. Eine offene Debatte erfordert mehr als das, nämlich Respekt für die Meinung des anderen, auch und gerade, wenn sie mir nicht gefällt.

Diesen Respekt erhielt Tellkamp nicht. Darum ist der Sieg der empörten Feuilletonisten eine Niederlage der offenen Gesellschaft, weil er ihre Offenheit einschränkt.


[Exkurs 3]: Der unvergessene Blogger und emeritierte Professor Zettel schrieb in »Zettels Raum« im Sommer 2012, als hätte er unsere Zeit und Alexander Graus Buch vorhergesehen:

Hier läge ein großes Potential für eine liberale Partei; eine Partei, die beispielsweise in der Sarrazin-Debatte die Position bezogen hätte: Wir teilen nicht unbedingt die Meinung Sarrazins; aber er hat Anspruch darauf, daß man ihn fair und mit Respekt behandelt und daß seine Thesen sachlich diskutiert werden.

Diese liberale Partei fehlt bis heute: Die FDP zeigte zwar zarte Ansätze, hatte aber in den letzten fünf Jahren vor allem mit sich selbst und ihrem Wiedereinzug in den Bundestag zu tun.

Wer die Wahlentscheidung zu hundert Prozent am Eintreten für Pluralismus und Freiheit ausrichten wollte, müsste seine Stimme ungültig machen. Wählen bedeutet heute mehr denn je: »das geringere Übel ankreuzen«.


[Exkurs 4]: Der Autor dieser Zeilen positioniert sich zum Schluss als sächsischer Liberaler, der dem neuen Ministerpräsidenten Kretschmer bis zur nächsten Wahl im Frühherbst 2019 den bestmöglichen Verlauf der Regierungsgeschäfte wünscht.

Denn die linke Seite des politischen Spektrums in Sachsen kann seit 25 Jahren nicht viel mehr als »Empörung über die CDU zeigen« – das ist Hypermoral mit dem Horizont eines Suppentellers. Die sächsische AfD kann in ihrer heutigen Verfassung auch nur Empörung, aber sicher nicht Regierung.

Michael Kretschmer zieht zur Zeit durch Sachsen, hört den Menschen zu, und zwingt seine Ministerialbürokraten zum Zuhören. Es bleibt zu wünschen, dass er gut zuhört und bis zum Spätsommer 2019 noch etwas schaffen kann. Kretschmer verteufelt die AfD nicht, sondern er will ihr mit Argumenten begegnen:

Wir müssen wegkommen vom gegenseitigen Beschimpfen – und in der Sache diskutieren.

Michael Kretschmer wird auch Fehler machen und er wird die sächsische CDU sicher nicht zu einer perfekten Partei machen können. Aber vielleicht wird sie für die relative Mehrheit der Wähler doch wieder etwas Besseres als das geringste Übel. Unserem Freistaat ist es zu wünschen.



Alexander Grau »Hypermoral«: Diskussion und Lesung im Buchhaus Loschwitz (1)

25. März 2018

Der Autor Alexander Grau ist vielen Lesern aus dem Magazin »Cicero« bekannt. In seiner Kolumne »Grauzone« befasst er sich mit Pluralismus, Meinungsfreiheit und dem Niveau der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten. Seine Aussage

»Denn Meinungsfreiheit, wirklich ernst genommen, ist nicht nur die Freiheit, eine Meinung zu haben. Meinungsfreiheit ist erst dann Meinungsfreiheit, wenn die andere, die abweichende Meinung zumindest als legitime Äußerung wahrgenommen wird. « [Quelle]

könnte als Motto über der Kolumne stehen. Alexander Grau setzt sich gegen den Ausschluss von Personen aus der Diskussion ein, ohne deren Position zu übernehmen. Nachdem der Auftritt eines AfD-Vordenkers am Hannah-Arendt-Center in New York von linken Intellektuellen ohne schlüssige inhaltliche Begründung als Fehler kritisiert wurde, schrieb Grau:

Die akademische Linke wehrt sich gegen den Verlust ihrer Diskurshoheit, die sie de facto zumindest in den Geisteswissenschaften Europas und Nordamerikas hat. Dem drohenden Verfall dieser linken Diskurshegemonie versucht man mit Ächtung und Isolierung zu begegnen. Dass man damit die Analyse der so gern Geächteten nur bestätigt, muss als Ausdruck intellektueller Agonie gedeutet werden. [Quelle]

So wundert es nicht, dass sich Alexander Grau nach den Ereignissen auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2017 als Teil einer Minderheit der deutschen Journalisten kritisch zu den linken Übergriffen äußerte:

So gesehen war das, was sich vergangene Woche auf der Frankfurter Buchmesse abspielte, ein Armutszeugnis des etablieren Kultur- und Literaturbetriebes, zumal sich dieser gern als wackerer Kämpfer für Pluralismus und Demokratie geriert. [Quelle]

Mit dieser Grundeinstellung passt Alexander Grau gut zu seinen Gastgebern: Susanne Dagen und Michael Bormann schaffen im Kulturhaus und in der Buchhandlung Loschwitz Räume für Kultur, Bildung und Meinungsfreiheit. Der NZZ-Autor Marc Felix Serrao ist Mitte März nach Dresden gekommen, hat sich selbst ein Bild von den Loschwitzer Verhältnissen gemacht und einen gelungenen Artikel verfasst.

Wenn an Serraos Artikel aus Sicht des Kunden ein klein wenig Kritik geübt werden muss: Es fehlt eine kurze Beschreibung der Vielfalt des Angebots. Den beschriebenen »zwanzig Zentimetern« mit Büchern rechter Verlage stehen viele Meter mit anderer Literatur gegenüber, ausdrücklich auch linksliberale und emanzipatorische Bücher. Jeder kann sich selbst davon überzeugen: Das Buchhaus Loschwitz ist keine »rechte« Buchhandlung. Nebenbei: Der typische linke Berliner Kiezbuchladen ist mit Sicherheit nicht so pluralistisch aufgestellt.

Die Liste der bisher im Buchhaus Loschwitz aufgetretenen Autorinnen und Autoren ist beeindruckend. In der aktuellen Reihe mit Lesungen aus politischen Büchern war u. a. die Politikberaterin und ehemalige Grünen-Politikerin Antje Hermenau zu hören.

Der Raum im Kulturhaus Loschwitz liegt im Dachgeschoss eines ausgebauten alten Hauses aus der Zeit, als der heutige Stadtteil Loschwitz noch ein Dorf an der Elbe war. Er fasst etwa sechzig Personen.

Die meisten Plätze waren augenscheinlich reserviert. Vor Beginn der Lesung wurde die Besetzung der Plätze optimiert – den später Angekommenen wurden noch Hocker und Treppenplätze angeboten. Als Susanne Dagen um 20.00 Uhr mit der Einleitung begann, war der Raum also bis auf den letzten Platz gefüllt.


Dem einleitenden Satz »Wir sprechen über die neue Lust an der Empörung« folgte umgehend ein Querverweis auf Stéphane Hessels französische Kampfschrift »Empört Euch«. Es sollte bei weitem nicht der einzige Verweis auf Vertreter der linken Seite des politischen Spektrums bleiben.

Tatsächlich gab es am ganzen Abend nur ein einziges Halbzitat von Rolf Peter Sieferle, den man sicher als rechten Autor einordnen kann. Auf der anderen Seite haben Gastgeberin, Gastautor und Fragesteller aus dem Publikum die linken Denker Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Michel Foucault insgesamt weit mehr als ein Dutzend Mal erwähnt.

Susanne Dagen ist bekanntlich seit der »Charta 2017« in der Öffentlichkeit nicht unumstritten: Sie nahm das Motto »Empört Euch« nicht in dem Sinne auf, wie es im Kulturbetrieb und in den Medien gern gesehen wird. Sie zeigte im Interview mit dem Elbhangkurier Verständnis für die erste Phase der Pegida-Bewegung:

Ich sympathisiere mit denen, die seit zwei Jahren auf die Straße gehen. Wenn die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen und das Ringen um Verständnis Pegida-nah ist, dann bin ich es. 2011 ist »Empört euch« von Stéphane Hessel erschienen, da haben alle gejubelt: Man solle seiner Empörung Raum geben, man solle sich aufbäumen, sichtbar werden! […] Ich kann mich nicht damit abfinden, dass man Leute aufgrund ihrer Bildung, ihrer Herkunft, ihrer Ausdrucksform und ihrer Meinung stig­matisiert.

Obwohl sich Susanne Dagen nicht mit Pegida-Führer Lutz Bachmann solidarisierte, brachte ihr dieses Interview heftige und in Teilen unfaire Kritik ein. Die Mehrheit der Kulturjournalisten und der Menschen im Kulturbetrieb würde wohl bis heute eine positive Bewertung der Ereignisse im Umfeld des Hamburger G20-Gipfels wohlwollend abnicken oder zumindest großzügig nachsehen. Ein Verständnis für die Sorgen und Nöte der Pegida-Teilnehmer ist dagegen unverzeihlich.


Womit wir beim Thema des Abends angekommen sind: Alexander Grau beschreibt in seinem Buch ein Klima der Hypermoral, in dem der bisher als selbstverständlich hingenommene Pluralismus verteidigt werden muss.

In den ersten Minuten des Abends tasteten sich Susanne Dagen und Alexander Grau an die Begriffe heran: Moral, Moralismus, Hypermoral können als Steigerungsformen betrachtet werden. Ein charakteristisches Zitat aus dem Gespräch:

»Der Moralismus duldet neben sich keine Götter. Der Moralapostel weiß, was gut für ALLE ist.«

Die Hypermoral wird als Folge der Säkularisierung beschrieben: Ein großer Teil der Gesellschaft trennt sich zumindest geistig von der Religion, die Gesellschaft zerfällt in »Moralmilieus der Moderne«. [Nachgedanke: Es ist nicht nur die Säkularisierung. Auch die »wissenschaftlichen Weltanschauungen« der Linken haben keine große Bedeutung mehr].


Eine herrschende Moral gab es zu allen Zeiten: Was ist nun die neue Qualität des Hypermoralismus? – Bisher gab es über der Moral die Leitnormen der Tradition und der Religion. Heute werde, so Alexander Grau, die Moral selbst zur Herrscherin des Diskurses. Moral wende sich gegen die Tradition und begründe sich selbst.

Ein Kennzeichen des Hypermoralismus ist für Alexander Grau, dass gesellschaftlichen Streitfragen wie Gentechnologie, Atomenergie oder Energiewende moralisiert werden. Die herrschende Moral verdrängt andere Arten des Diskurses. Der Moralist steht in einer starken, ja übermächtigen Position und muss diese nicht rational begründen. Das führt zu einer »diskursiven Monokultur«. Gesellschaftliche Diskussionen werden eher emotional als rational geführt.

Konsequenterweise geht Alexander Grau schonungslos auf die Rolle der Kirchen in der Gegenwart ein. Im Zuge der Säkularisierung sei es zu einem Rückgang der traditionellen Frömmigkeit gekommen und traditionelle Glaubensformen würden in Zweifel gezogen. Die Evangelische Kirche sei politisiert worden und habe sich (zugespitzt formuliert) zu einer Moralagentur entwickelt.


Als Beispiel zur Rolle der Massenmedien wurde das Echo auf die Diskussion mit Uwe Tellkamp und Durs Grünbein am 08. März 2018 herangezogen. Etwas später am Abend kam die Rede auf die »mediale Strategie des bewussten Missverstehens von Sprechakten«, auf die »moralische Verurteilung des Wörtlich-Verstandenen« mit moralischer Ächtung und Diskursabbruch

Der Hypermoralismus sei auch ein Medienphänomen: Medien seien immer (auch) Unterhaltungsmedien, die letztlich von Skandalen und Skandalisierung immer noch am besten leben. Nach der inhärenten Logik der Medien werde der Skandal benötigt.

Manchmal muss der Blick einige Jahrzehnte in die Vergangenheit gerichtet werden: Alexander Grau wies darauf hin, dass philosophische Streitgespräche wie in den 1960er oder 1970er Jahren im heutigen Fernsehen schlicht undenkbar wären. Er verwendete dafür als Beispiel das Streitgespräch »Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?« zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen.

Alexander Grau konstatierte eine »Homogenisierung der Meinung« ab den 1980/90er Jahren und blickte auf zwei gescheiterte medienpolitische Großversuche zurück: Konrad Adenauer wollte das ZDF als Gegenpol zur »linken« ARD aufbauen, Helmut Kohl das Privatfernsehen als weltanschauliches Gegengewicht zu den öffentlich rechtlichen Sendern. Grau sah allerdings im »Zwangsgebührenprinzip« keine negativen Auswirkungen auf den Pluralismus: Letztlich könne mit oder ohne Zwangsgebühren eine Monokultur der Meinungen entstehen.


Wer dem Hypermoralismus auf den Grund gehen will, muss sich die Machtfrage stellen. Früher gab es die Monarchie oder die Diktatur mit machtausübenden Gruppen bzw. Einzelpersonen. Heute gibt es kein derartiges Machtzentrum und keine Zentralisierung einer Macht hinter der Hypermoral [den ironischen Seitenhieb auf die Förderpraxis des BMFSFJ für diverse Interessengruppen konnte sich Alexander Grau allerdings nicht verkneifen]. Angelehnt an Alexis de Tocqueville sagte er zum Thema Machtausübung über Meinungen:

»Die neue Tyrannei der Meinung ist nicht: Keiner wird dir das Wort verbieten. Die neue Tyrannei ist: Keiner wird mehr mit dir reden.«


Hinweis: Dieser Artikel wird fortgesetzt. Vor dem zweiten Teil des Berichts werde ich aber das Büchlein zu Ende lesen, eine kurze Inhaltsangabe verfassen und dann am Ende noch die Diskussion beschreiben.

[Zum Teil 2 bitte hier entlang.]



Was die Medien aus der nicht repräsentativen U-18-Wahl machen

16. September 2017

[Hinweis: Der folgende Artikel bezieht sich zwar auf Sachsen. Die Aussagen über die fehlende Repräsentativität der Zahlen gelten aber auch für jedes andere Bundesland. Die Datenbasis ist in anderen Bundesländern sogar noch schlechter.]


Die Redaktion der »Sächsischen Zeitung« berichtet heute über die U-18-Wahlen in Sachsen und stellt dabei folgende Zahl in den Mittelpunkt:

»Die Alternative für Deutschland (AfD) hat unter den Wählern von morgen in Sachsen besonders viel Zustimmung. Bei der sogenannten U18-Bundestagswahl stimmten am Freitag 15,46 Prozent für diese Partei. […] Damit liege die AfD in Sachsen auch weit über dem Bundesdurchschnitt. Dort erreichte die Partei 6,74 Prozent.«

Beide Aussagen sind irrelevant. Zum einen ist die U-18-Wahl weder für Sachsen noch für den Bund repräsentativ. Wenn man aber zwei nicht repräsentative Zahlen miteinander vergleicht, kann dabei nichts Sinnvolles herauskommen. Zum anderen ist die Wahlbeteiligung sehr gering.

An den U-18-Wahlen in Sachsen haben 12.200 junge Menschen teilgenommen. In Sachsen gibt es aber etwa 450.000 Schülerinnen und Schüler [Quelle: Destatis, siehe unten]. Wir können also von einer »Wahlbeteiligung« unter vier drei Prozent ausgehen.

Schon diese Zahl zeigt, wie gering der Anteil der jungen Leute tatsächlich ist, die die AfD nachweislich unterstützen, indem sie sich aktiv zugunsten der AfD an der U-18-Wahl beteiligen: es sind knapp 2.000 von 450.000 Kindern und Jugendlichen.


Nun könnte man einwenden, dass die Stichproben bei repräsentativen Umfragen viel kleiner sind: Bei der »Sonntagsfrage« werden meist zwischen 1.000 und 2.000 erwachsene Deutsche befragt.

Das Ergebnis der #U18Wahl kann aber für die »Wähler von morgen in Sachsen« nicht repräsentativ sein. Dafür gibt es mehrere Gründe:

Die jungen Leute wurden nicht nach den Regeln der Demoskopie ausgesucht und dann befragt, sondern sie konnten sich selbst entscheiden, ob sie an der Abstimmung teilnehmen möchten. Also nahmen politisch engagierte junge Leute mit höherer Wahrscheinlichkeit an der U-18-Wahl teil als nicht engagierte.

In den teilnehmenden Schulen und Jugendeinrichtungen wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (vermutlich) durch Lehrkräfte und Betreuer zur Teilnahme motiviert. Das ist als Schulung in Demokratie unbedingt zu begrüßen – aber es ergibt natürlich kein für Sachsen repräsentatives Bild: Wo es weit und breit gar keine U-18-Wahlen gab, fehlte diese Motivation.

Die Wahllokale der U-18-Wahlen in Sachsen sind nämlich vor allem in den großen Städten Dresden, Leipzig und Chemnitz konzentriert. In der Sächsischen Schweiz gibt es kein einziges U-18-Wahllokal (die nächste Möglichkeit wäre in Pirna). In der ganzen Stadt Riesa gibt es kein U-18-Wahllokal – junge Leute müssten entweder nach Oschatz oder nach Großenhain fahren. Im Erzgebirge oder auch in Nordsachsen gibt es nur wenige Möglichkeiten zum Mitmachen.

Somit hat die »Sächsische Zeitung« ein weiteres Mal gezeigt, dass in der Redaktion in Sachen Statistik und Demoskopie noch viel Verbesserungsbedarf besteht …


Ergänzung 1: Deutschland hat knapp elf Millionen Schülerinnen und Schüler. An der U-18-Wahl haben sich 220.000 Schülerinnen und Schüler beteiligt. Das entspricht also zwei Prozent. Für die Repräsentativität gilt bundesweit dasselbe, was ich zu Sachsen geschrieben habe.


Ergänzung 2: Die ZEIT übernimmt zwar alle Fehlschlüsse von dpa, aber sie ergänzt wenigstens die Worte »nicht repräsentativ«. Obwohl dann natürlich die Ausdrucksweise des ganzen Artikels nicht mehr stimmt …



Ermächtigungsgesetz und Euthanasie

9. September 2017

In den sozialen Netzwerken und in der »Sächsischen Zeitung« wurde heute kontrovers über den Tagesordnungspunkt 9 der letzten Stadtratssitzung diskutiert: »Wir entfalten Demokratie. Lokales Handlungsprogramm für ein vielfältiges und weltoffenes Dresden«.

Dabei wurde eine unglückliche Formulierung des CDU-Stadtrats Böhme-Korn in den Mittelpunkt gestellt: Um zu zeigen, dass die Demokratie zu unerwünschten Ergebnissen führen kann, führte er das Ermächtigungsgesetz von 1933 an. Das war ein unglücklich gewähltes Beispiel:

Kurz vor der entscheidenden Reichstagssitzung war zwar noch einmal der Reichstag gewählt worden, aber die Wahl und die letzten Sitzungen dieses Reichstags standen schon unter dem Druck der Nazis. Von einer freien Parlamentssitzung kann also nicht mehr die Rede sein. Unumstritten ist jedoch, dass die Fehler und Schwächen der Demokratie in der Weimarer Republik zum Erstarken der NSDAP und letztlich zur Machtergreifung Hitlers führten.

Ergänzung: Bei ca. 3:28 h beginnt in der Aufzeichnung die etwa siebenminütige Rede von Herrn Böhme-Korn. Es lohnt sich, sie im Zusammenhang zu hören.


Leider hat die »Sächsische Zeitung« als führende Lokalzeitung tendenziös über die Sitzung berichtet, indem sie allen Ernstes aus einem gleichartigen Abstimmungsverhalten der Opposition im Stadtrat eine »Allianz« konstruierte. Man muss es leider so klar sagen: Das ist kein objektiver Bericht über die Sitzung. Zitat:

Denn der Rat diskutierte knapp zwei Stunden darüber. Es gab eine Allianz zwischen CDU, FDP, AfD und NPD dagegen, eine zum Teil unterirdische Debatte und die Bemühungen von Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP), den Ruf der Stadt aufzupolieren und die gespaltenen Dresdner zu einen, wurden ausgerechnet vom Rat torpediert.

Was es wirklich gab: differenzierte Argumente demokratisch gewählter Stadträte gegen das Handlungsprogramm. Was es ebenfalls gab: ein gleichartiges Abstimmungsverhalten gegen das Programm. Es gab aber keinerlei argumentative oder organisierte »Allianz«. Zur Erinnerung: Eine Allianz ist ein vertraglich geregeltes Verhältnis zwischen gleichberechtigten Partnern.

In einer demokratischem Abstimmung kann es nur die Möglichkeiten JA, NEIN und Enthaltung geben. Ein »Nein, aber nicht so wie die AfD und die NPD« ist in der Satzung des Stadtrats nicht vorgesehen.


Eine Abgeordnete der Linken konstruierte daraufhin eine Zusammenarbeit demokratischer Parteien mit Neonazis:

Krass. #Dresden. #AfD, #CDU, #NPD & #FDP vereint gegen ein Stadtprogramm gegen rechts.

Das ist einfach nur verzerrend und bösartig. Aus einem gleichen Abstimmungsverhalten ein »vereint« konstruieren ist schon deshalb Unsinn, weil die NPD in sozialen Fragen durchaus auch mit der Linken stimmt.

Und warum sollte man das skandalisieren? Was wäre z. B. daran falsch, wenn auch Rechte für ein Sozialticket im ÖPNV stimmen würden, weil aus ihrer Sicht die Vorlage richtig ist? Wird der Beschluss dadurch entwertet?


Im weiteren Verlauf der sehr müden Debatte hat der Grünen-Stadtrat Schmelich folgendes gesagt [etwa bei 4:05:30 beginnt sein Beitrag in der Aufzeichnung]:

Ich soll die CDU jetzt nicht provozieren, wurde mir gerade mit auf den Weg gegeben. Das ist schwer. Das ist eine echte Herausforderung zu später Stunde. […]

[Einige Sätze später spricht Schmelich die CDU an:]

Und was ich von Ihnen höre, ist das Plädoyer für die Euthanasie der Demokratie, für das Einschläfern der Demokratie.

[Zwischenrufe, Glocke]

Das heißt nichts anderes als Einschläfern.

Ohne die beiden unglücklich gewählten Worte aufrechnen zu wollen: Warum wird über diese völlig überflüssige Bemerkung eigentlich nicht diskutiert? Schmelich wirft der CDU nichts anderes vor, als die Demokratie zu töten.

Alle Bedeutungen von Euthanasie laufen auf den Tod hinaus: »einschläfern« im Sinne von »euthanasieren« ist nichts anderes als ein euphemistischer Begriff für das Töten eines Tieres.

Die Hauptbedeutung von »Euthanasie« ist (bezogen auf ein totalitäres System) das systematische Töten von Menschen, die das System als nicht lebenswert einstuft.

Vor der NS-Zeit gab es das Wort »Euthanasie« noch im Zusammenhang mit »Sterbehilfe«. Aber auch das passt natürlich überhaupt nicht: Die CDU ermordet die Demokratie nicht und sie leistet auch keine Sterbehilfe.



Wie die ZEIT ihre Leser in Sachen Parteiprogramme verwirrt

1. September 2017

In einem aktuellen Artikel der ZEIT werden Wahlprogramme mit statistischen Methoden untersucht. Es wird mehrmals betont, dass diese Untersuchung »computergestützt« erfolgte. Der dazugehörige Artikel ist so fehlerhaft, dass er mich zum Widerspruch herausfordert.


Auf die Länge kommt es nicht an

Der Autor des Artikels hat mit Skripten in der Statistik-Programmiersprache R nach dem längsten Wort, dem längsten Satz und dem längsten Parteiprogramm gesucht. Er hat über die Wortlänge herausgefunden:

Das längste Wort der sechs Programme ist übrigens die Mindestlohndokumentationspflichtenverordnung, welche die FDP abschaffen will.

Dieses Wort stammt allerdings gar nicht von der FDP, sondern es bezeichnet eine tatsächlich vom Gesetzgeber erlassene Verordnung. Wer diese Verordnung abschaffen will, muss sie natürlich auch benennen dürfen. Hätte die Partei die gängige Abkürzung MiLoDokV verwendet, dann hätte niemand etwas damit anfangen können.

Zweifelhaft ist auch der rein quantitative Vergleich der Satzlängen: Einen gut geschriebenen langen Satz kann man »abwickeln« wie eine Schriftrolle – er kommt dem Leser entgegen und wird unmittelbar verstanden. Bei einem schlecht geschriebenen langen Satz muss man immer wieder nach dem Anfang oder nach dem letzten Orientierungspunkt suchen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass es auch hierbei nicht auf die Länge ankommt. Somit hat es aber auch keinen Sinn, den längsten Satz jedes Parteiprogramms zu identifizieren.

Der Vergleich der Längen literarischer Werke oder politischer Programme ist letztlich genauso irrelevant: Man kann ein langes, spannendes, gut geschriebenes Werk bis zum Ende lesen und man kann ein kurzes, langweiliges, schlechtes Werk gähnend weglegen.

Fazit 1: Die Wortzahl ist nicht das entscheidende Kriterium für die Bewertung von Parteiprogrammen. Die Länge des längsten Satzes ist für das Verständnis irrelevant – es kommt auf dessen Qualität an. Die häufige Verwendung sehr langer Wörter gilt zwar als Kennzeichen schwer verständlicher Texte, aber dazu wurde offenbar keine Untersuchung vorgenommen.


Lesbarkeit und Verständlichkeit der Wahlprogramme

In dem ZEIT-Artikel ist eine Grafik enthalten, in der folgender Sachverhalt dargestellt werden soll:

Der hier verwendete Index gibt an, wie viele Bildungsjahre ungefähr nötig sind, um einen Text verstehen zu können. Zum Vergleich die durchschnittliche Werte für Texte des Sozialwissenschaftlers Niklas Luhmann und einem Dossierartikel aus DIE ZEIT.

Abgesehen davon, dass das »Bildungsjahr« nirgendwo im Artikel definiert ist: In der Grafik werden mit der »Illusion der Präzision« (Walter Krämer) Werte auf zwei Kommastellen genau dargestellt.

Auf zwei Kommastellen genau! Ein Zehntel eines Jahres sind ca. 36 Tage, ein Hundertstel sind ca. dreieinhalb Tage. Man kann sich die zugehörigen Daten herunterladen [unterhalb der Grafik steht Quelle: WZB und »Daten«] und stößt dabei auf folgende Angaben:

AfD,11.5948037684511
CDU/CSU,10.3210168503582
FDP,11.1246488076462
Grüne,10.5654073529334
Linke,11.0994424518685
Luhmann,12.8551158189592
SPD,11.209526051119
ZEIT Dossier,8.2088166524783

An dem Balkendiagramm und an den Angaben im Artikel ist bereits erkennbar, dass die Berechnung keine sinnvolle Grundlage haben kann. Muss man sich wirklich 88 Tage länger bilden, um nach dem CDU-Programm (10,32 Bildungsjahre) auch das Programm der Grünen (10,56 Bildungsjahre) zu verstehen? Aber ganz abgesehen von der Illusion der Präzision und von den lächerlichen Unterschieden zwischen den »Bildungsjahren«, die man für Parteiprogramme benötigen soll, gibt es folgende sachliche Einwände:

Menschen haben eine unterschiedliche Auffassungsgabe. Jeder Mensch lernt anders. Jeder Mensch baut anderes Wissen auf und braucht anderes Wissen. Jeder Mensch macht andere Erfahrungen. Vor zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren lernte man anders als heute.

Dazu kommt: Deutschland ist ein föderaler Staat mit sehr unterschiedlichen Bildungssystemen und sehr unterschiedlicher Bildungsqualität. Ein Bildungsjahr in Bremen und ein Bildungsjahr in Bayern sind so schwer zu vergleichen wie das Bremer Abitur und das Abitur in Bayern.

Verzeihen Sie mir bitte den harten Ausdruck: Es ist völliger Blödsinn, die Bildungswege von Millionen wahlberechtigten Deutschen unterschiedlichster Intelligenz zwischen 18 und über 90 Jahren auf »Bildungsjahre« herunterzubrechen. Selbst wenn der Intelligenzquotient irgendwie in die Definition des Bildungsjahres einbezogen sein sollte, wären die Bildungsjahre immer noch nicht vergleichbar.

Dass man Texte nicht allein anhand quantitativer Analysen der Wortlänge und der Satzlänge einschätzen kann, wurde oben schon gezeigt. Auch der Vergleich der Komplexität eines Textes von Prof. Luhmann mit der Komplexität des Parteiprogramms der AfD ist von eher geringer Aussagekraft. Das alles hindert die ZEIT nicht an der vollmundigen Behauptung:

Das belegen Lesbarkeitsindices, denen einen Analyse der durchschnittlichen Wort- und Satzlängen zugrunde liegt. Der hier verwendete Index gibt ungefähr an, wie viele Bildungsjahre nötig sind, um einen Text verstehen zu können. Zwar sind die Programme deutlich einfacher zu verstehen als ein Text von Niklas Luhmann, aber auch deutlich schwieriger als beispielsweise das Dossier der ZEIT. [Hervorhebung von mir]

Fazit 2: Weder mit der quantitativen Analyse der Wahlprogramme noch mit dem zweifelhaften Ansatz eines wie auch immer gearteten »Bildungsjahres« kann man belegen (was für ein großes Wort!), welches Parteiprogramm schwerer oder leichter verständlich ist. Fast genauso sinnvoll wäre eine Untersuchung des Kaffeesatzes aus den Büros der Parteivorsitzenden.


Zur Stimmung der Parteiprogramme

Schließlich geht der ZEIT-Artikel auf die Stimmung der Programme ein: sind sie eher positiv oder negativ »aufgeladen«? Diese Berechnung hat etwas mehr Hand und Fuß, wird aber von der ZEIT falsch dargestellt:

Das CDU-Programm 2017 ist das bisher optimistischste
Das Verhältnis von positiven zu negativen Wörtern in den Wahlprogrammen. Werte über 0 zeigen eine positive Stimmung, Werte unter 0 eine negative.

Wenn man sich die Zahlen dazu anschaut, wird deutlich, dass das nicht stimmen kann. Das Verhältnis zwischen positiven und negativen Wörtern in den Wahlprogrammen kann nicht gemeint sein. Würden in einem Programm z. B. hundert positive und zweihundert negative Wörter stehen, ist das Ergebnis eine Verhältniszahl von 0,5.

Was vermutlich wirklich untersucht wurde: Das Verhältnis zwischen den positiven Wörtern und der Gesamtzahl der Wörter eines Parteiprogramms. Und parallel das Verhältnis zwischen den negativ besetzten Wörtern und der Gesamtzahl der Wörter. Das lassen zumindest die Grafiken auf der zugehörigen Github-Seite unter »Sentiment« vermuten.

Fazit 3: Den einzigen halbwegs sinnvollen qualitativen Ansatz, nämlich die Suche nach positiv oder negativ besetzten Wörtern, vermasselt die ZEIT mit einer falschen Darstellung. Dazu hätte ich gern mehr erfahren.



Was wurde in der Rechtsextremismus-Studie eigentlich geändert?

27. Juli 2017

Die meisten Kommentare zur Rücknahme der Rechtsextremismus-Studie beziehen sich auf eine dpa-Meldung über einen Artikel der »Sächsischen Zeitung«. Auch die »Sächsische Zeitung« zitiert online die dpa-Meldung über ihren eigenen Print-Artikel.

In der gedruckten Zeitung steht im Unterschied dazu heute der folgende interessante Satz, der in der Öffentlichkeit m. W. kaum zitiert wurde:

Im Fall eines in der Studie namentlich genannten Erfurter Stadtrats seien »jedoch ganz offensichtlich nicht belegbare bloße Aussagen eines anonymen Akteurs als Tatsachen dargestellt worden, obwohl die Aussagen dritter Personen nicht erweislich wahr sind.«


Wer könnte damit gemeint sein? Wenn das Ministerium nur aus diesem Grund eine Studie öffentlich in der Luft zerreißt, muss die Aussage einige Brisanz haben. Wir können es eingrenzen auf Erfurt und auf namentlich genannte männliche Stadträte. Die Auftragsideologen Forscher aus Göttingen schreiben in ihrer Stellungnahme:

Die eine Änderung, die nun vorgenommen wurde und zur Erklärung der Ostbeauftragten geführt hat, enthält lediglich eine weitere Anonymisierung, diesmal von einer Person, die in einem Interview kritisch genannt wurde. Auf diese Anonymisierung wurde sich geeinigt. Das Ministerium ist über diesen Vorgang stets informiert, das Ergebnis ist ihm explizit und unverzüglich vorgelegt worden. Das Ministerium weiß ebenfalls, wer die (keineswegs unprominente) Quelle des kritischen Zitats ist. Eine solche Interviewpassage – die in der Schärfe der Wortwahl und Interpretation Wesentliches aussagt über die parteipolitisch aufgeheizte Atmosphäre im dort bestehenden Konflikt – schlicht gar nicht zu bringen, wäre aus wissenschaftlicher Perspektive höchst problematisch gewesen.

Ich habe das Original-PDF vorliegen (Titel=“Abschlussbericht“, 238 PDF-Seiten, 24.05.2017 13:06). Das gab es damals als freies Download. Hätte ich die geänderte Version, die dem Ministerium vorliegt, würde ich nun einfach ein »diff«-Werkzeug für PDF-Dateien über beide Dokumente laufen lassen, um die Unterschiede zu finden.

Wer ist noch neugierig? Sollte man nach der ominösen Aussage suchen?


Ergänzung 1: In der Version der Studie vom 24.05.2017 sind keine Erfurter Stadträte mehr namentlich benannt. Aus der Liste der Interviewpartner (Erfurt und Erfurt-Herrenberg) kann man keinen Namen mehr entnehmen. Interessant ist die Liste aus einem anderen Grund:

Trotz der stark verklausulierten Art und Weise der Darstellung wird klar, dass die Forscher fast nur mit links orientierten Bezugspersonen gesprochen haben. Folgende Ausdrucksweisen geben Anhaltspunkte:

  • Mitarbeiter der Partei DIE LINKE …
  • Mitglied des Stadtrats für die SPD
  • zwei politische Akteure aus dem grünen Spektrum
  • Bodo Ramelow (DIE LINKE)
  • zivilgesellschaftliche AkteurInnen

CDU oder Liberale werden als Parteien überhaupt nicht genannt, auch ein Hinweis auf konservative Gesprächspartner fehlt.



»Pulse of Europe« in Dresden

23. April 2017

Am 23.04.2017 kamen ab 14.00 Uhr wieder Menschen auf dem Neumarkt zu einer Kundgebung für »Pulse-of-Europe« zusammen. Diese Veranstaltung findet in mehreren deutschen Städten statt. Die meisten Teilnehmer gibt es wohl in Frankfurt. Es ist aber schwierig, verlässliche Angaben zu bekommen. Deshalb habe ich heute zehn Minuten nach Beginn der Veranstaltung dieses Foto gemacht:

[Update: Mein Foto wird in der Online-Ausgabe der »Sächsischen Zeitung« zum Anlass genommen, über die Teilnehmerzahl nachzudenken. Link zum Artikel.]

Beteiligung an #PulseOfEurope in #Dresden: 23.04.2017 um 14.10 Uhr (Beginn: 14.00 Uhr)

Beteiligung an #PulseOfEurope in #Dresden: 23.04.2017 um 14.10 Uhr (Beginn: 14.00 Uhr) – Klick auf das Bild vergrößert.

Als ich fünf Minuten später vom Turm der Frauenkirche herabgestiegen war, standen die Personen auf derselben Fläche, aber eventuell ein klein wenig dichter. Somit würde ich von etwa 400 bis 500 Beteiligten ausgehen. Die Angabe aus den »Dresdner Neuesten Nachrichten« vom frühen Abend scheint mir deutlich zu hoch:

Zum siebten Mal fand am Sonntag eine Kundgebung der Bewegung „Pulse of Europe“ statt. Auf dem Dresdner Neumarkt wollten die Veranstalter ein Zeichen für die Wahl in Frankreich setzen. Für die knapp 1000 Teilnehmer gab es passend zum Anlass Croissants und Café au lait.

Tatsächlich wurden kurz vor 15.00 Uhr ganz vorn an der Bühne einige Croissants verteilt, aber nur ein Beutel. Es waren bei weitem nicht Croissants für »knapp tausend Teilnehmer«. Und der Milchkaffee wurde ausdrücklich nicht an die Teilnehmer verteilt. Der Vertreter der Veranstalter am Mikrofon sagte das ganz eindeutig. Der Zeitungsbericht enthält also Fehler.


Politische Kundgebungen und ihre Teilnehmerzahlen – das ist immer ein heikles Thema. Es gibt Angaben der Veranstalter, die ihre Veranstaltung natürlich in ein besseres Licht rücken wollen. Auf diese Angaben kann man sich in der Regel nicht verlassen.

In Dresden wurde die Teilnehmerzahl vieler Demonstrationen auch von der Gruppe »durchgezählt« ermittelt. Sie hatte sich dabei einen guten Ruf erarbeitet. Seit Ende März hat »durchgezählt« allerdings bei »Pulse of Europe« nicht mehr gezählt. Ihr letzter Tweet dazu war am 26.03.2017:

Bei #PulseOfEurope in #Dresden nahmen heute 950- 1100 Menschen teil. 957 Pers. im Zählbild. Foto von J. Kau. #dd2603 [Link zum Bild]

Der Grünen-Politiker D. Herrmann gehört laut seinem Twitter-Profil zur »Pulse of Europe«-Gruppe Dresden. Er behauptete am Nachmittag, dass heute 900 Menschen teilgenommen hätten.

Rund 900 Menschen in #Dresden bei #PulseofEurope #dd2304 „Dresde aime la France“

Wenn man mein Bild und das »durchgezählt«-Bild von Ende März vergleicht, scheint das eher unwahrscheinlich. Später relativierte Herrmann:

Heute wieder viele hundert Menschen bei #pulseofeurope #Dresden #DD2304

Diese Angabe kann man nicht bestreiten. Es waren mehrere hundert Menschen. Eine begeisterte Massenkundgebung war es aber sicher nicht.


Zum Inhalt: Nachdem ich vom Turm der Frauenkirche wieder abgestiegen war, nutzte ich die Gelegenheit, die Reden und Beiträge etwa 45 Minuten lang anzuhören. Wenn sich alle Beteiligten einig sind und wenn in den Reden keine Argumente gegenübergestellt werden, kann das ziemlich ermüdend sein. Es gab neben vielen sehr allgemeinen Aussagen und Appellen an das gemeinsame Europa-Gefühl einige interessante Punkte.

Ein Handwerksmeister meldete sich zu Wort und berichtete zunächst, dass er am Ende der DDR-Zeit im Jahr 1989 auf die Straße gegangen sei. Er sprach sich dann gegen Grenzen in Europa aus – mit der Begründung, dass seine Söhne und andere junge Männer nie wieder an einer Grenze Dienst tun sollten. Warmer Beifall.

Das klingt auch wirklich sehr schön, aber es ist zu kurz gedacht: Erstens müssen die Außengrenzen der EU gesichert werden, damit die Binnengrenzen einigermaßen offen bleiben können. Deshalb stellen die Staaten Beamte für Frontex ab. Außerdem brauchen die Rechtsstaaten zur Abwehr von Gefahren auch im Inneren Europas Sicherheitskräfte. Also müssen junge Männer unter anderem zur Armee und zur Bundespolizei. Das ist dann die Realität – aber das sagt bei »Pulse Of Europe« in Dresden niemand.


Viel Beiträge wirkten improvisiert und es fehlte der Zusammenhang. Es ist gut zu wissen, dass es ein gemeinsames Transplantationssystem in Europa gibt, durch das etwa ein Mensch aus Frankreich das Knochenmark eines Menschen aus Deutschland erhalten kann. Andererseits machte dort jemand (schwer verständliche) Werbung für seinen »Esperanto«-Verein. Ein anderer nutzte seine Redezeit, um eine Zukunftsvision ohne Kapitalismus darzustellen.


Ich bin persönlich nicht gegen die EU und ich war ausdrücklich gegen den #Brexit. Aber man darf die Probleme der EU nicht verdrängen. Die meisten Wortbeiträge sollten ein schönes Gefühl der Einigkeit verbreiten, aber sie waren eben nicht bis zum Ende gedacht. Die tatsächlichen Krisen Europas (Staatsschulden, Währung, Migration, Wohlstandsgefälle, Globalisierung) wurden gar nicht angesprochen.

Immerhin forderten mindestens zwei Redner eine höhere Entwicklungshilfe, allerdings sprach man sich gleichzeitig gegen eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben aus. Aber die Entwicklung muss oft verteidigt werden – deshalb gibt es etwa den Einsatz in Mali. Man braucht also beides: die Bundeswehr und die Entwicklungshilfe.

Um 15.00 Uhr wurde aus den Lautsprechern die »Ode an die Freude« (in einer kitschigen Interpretation) zum Mitsingen gespielt und im selben Moment begann das Läuten der Kirchenglocken der Frauenkirche. Das klang insgesamt so furchtbar dissonant, dass ich die Flucht ergriffen habe.


PS #1: Zur Teilnehmerzahl gib es in manchen Fällen auch Angaben der Polizei – aber in der Regel nur dann, wenn sie die Veranstaltung schützen muss oder wenn für einen Demonstrationszug Straßen gesperrt werden müssen. Die Angaben der Polizei liegen oft deutlich unter den Angaben der Veranstalter. Für »Pulse of Europe« liegen bisher keine offziellen Zahlen vor.


PS #2: Weil die Anfragen kamen: Das Material für die Choreographie war vorbereitet. Die EU-Fähnchen wurden von den Ordnern verteilt, bei denen man auch Geld spenden konnte. Es wäre im Sinne der Transparenz sicher interessant: Aus welchen Quellen werden die Kosten der Kundgebungen und des Materials getragen?


PS #3: Die »Sächsische Zeitung« berichtet ebenso wie die »Dresdner Neuesten Nachrichten« über rund 900 Teilnehmer. Eine Quellenangabe fehlt [Link zum Artikel].



Schmalbarts »Beobachter«: Neuer Name – mehr Substanz?

2. April 2017

Schmalbart hat seine Seite »Beobachter Völkischer« still vom Netz genommen und führt das Projekt unter einen neuen Namen fort: Die Seite heißt nun »Vox Populisti«. Von dieser Ankündigung will man heute nichts mehr wissen:

Heute startet „Beobachter Völkischer“, der sich mit Medienangeboten und Akteuren aus dem Umfeld von Populisten befasst.

Neues Spiel – mehr Glück? Ich habe mir einen der neuen Artikel angeschaut:

Breitbart: Merkel lanciert Falschmeldung bei Besuch im Weißen Haus


Was ist geschehen?

In einer Pressekonferenz aus Anlass ihres USA-Besuchs verwendete Bundeskanzlerin Angela Merkel für die TTIP-Verhandlungen zwischen der EU und den USA das Wort »bilateral« im Sinne von »zweiseitig« .

Der US-Präsident Donald Trump verwendet das Wort »bilateral« dagegen nur im Sinne der Verhandlung zwischen zwei Nationalstaaten. Für ihn ist TTIP ein multilateraler Vertrag.


Was macht Breitbart daraus?

Breitbart nimmt die Position des US-Präsidenten ein und unterstellt Angela Merkel in der Überschrift eines Beitrags »fake news« (im Sinne Trumps bedeutet das: »Merkel liegt falsch«):

Merkel Floats Fake News at Trump Presser: TTIP Deal is ‘Bilateral’

Breitbart kann sich außerdem die Spitze nicht verkneifen, dass die EU-Kommission auf der anderen Seite des Verhandlungstischs nicht demokratisch gewählt sei.

Im Artikel gibt Breitbart die Position des US-Präsidenten so wieder, wie man sie auch anderswo lesen kann. Man bezieht auch noch Marine Le Pen ein, die man in Trumps Lager wohl als natürliche Verbündete sieht.


Wie lautet das Fazit?

Für jemanden, der nur Überschriften liest, ist Breitbarts Titel ein Aufreger und eine Irreführung. Wer aber den Text liest, wird in Kurzform über die Positionen der Trump-Seite informiert – und das ist ja der Sinn eines Meinungsartikels in einem Meinungsmedium.

Die Methode funktioniert so: erst Klickbait mit einem Aufreger, dann einseitige Information. Sie ist hässlich und es ist legitim, dass »Vox Populisti« daran Kritik übt.

Diese Methode hat Breitbart allerdings nicht exklusiv. Nach diesem Prinzip arbeiten fast alle politisch-aktivistischen Kampagnen: gegen TTIP, für den Brexit, gegen Glyphosat, für mehr Umverteilung – und wie sie sonst noch heißen. In jedem Lager.

Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: Sieh dir das an, das ist etwas Neues – aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind. [Quelle: Prediger 1, Verse 9 und 10]

Letztlich hat auch Schmalbart selbst mit dem Titel »Beobachter Völkischer« diese Methode angewendet, wie hier bereits kritisiert wurde. Es wäre also hilfreich, wenn »Vox Populisti« über die tatsächliche Methode und nicht über den Einzelfall aufklären würde.

Aber immerhin wurde die Assoziation konservativer Medien wie »Achse des Guten«, »Tichys Einblick« und »Weltwoche« mit dem »Völkischen Beobachter« der NSDAP stillschweigend beendet. Man muss sich auch an kleinen Dingen freuen.



Das Straßenschild muss weg!

29. März 2017

In Berlin wird über die Umbenennung der Mohrenstraße diskutiert und ich wurde gebeten, meine Meinung zu diesem Gastartikel in der Berliner Zeitung zu sagen:

Offene Frage, @drbrandner und @stefanolix: Gibt es ein unideologisches Argument für den Namen „Mohrenstraße“? [Tweet zum Einstieg]

Der Fragesteller ist Christian Bangel, Chef vom Dienst bei @zeitonline. Zuerst reagierte Barbara Brandner mit der Frage, welches Argument denn für die Umbenennung spräche.

Gegenfrage: Gibt es für deren Umbenennung ein unideologisches Argument? Der Text ist Ideologie. Weder Mohr noch Neger haben in der Sprachgeschichte überwiegend abwertende Bedeutung. [Tweet]

Darauf Christian Bangel:

Da steht das Gegenteil und ich schließe mich an. Sie müssten Belege für Ihre Ideologiebehauptung liefern. Oder besser: für die von Ihnen behauptete positive Konnotation des Wortes „Mohr“.

Christian Bangel setzt sich also ebenfalls dafür ein, dass die Straße umbenannt wird – aber er fordert uns zu Argumenten heraus. Diese Herausforderung nehme ich gern an.

Bevor wir einsteigen: Es gibt für kaum ein Wort nur eine absolut positive oder absolut negative Konnotation. Die Konnotation eines Wortes ändert sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Bei Urteilen über die Vergangenheit sollten nur mit äußerster Vorsicht unsere heutigen Maßstäbe angelegt werden.


Die Autoren des Artikels aus der Berliner Zeitung möchten anhand sprachlicher Argumente herleiten, dass der Begriff »Mohr« in der deutschen Sprache negativ besetzt sei und dass das Straßenschild folglich verschwinden müsse. Für alle Zitate aus dem Artikel gilt diese Quelle.

Schauen wir, um die Diskussion zu versachlichen, zunächst auf die Etymologie. Das Wort „Mohr“ (altdeutsch: mor) stammt sowohl vom griechischen moros („töricht“, „einfältig“, „gottlos“) als auch vom lateinischen maurus („schwarz“, „dunkel“) ab.

Hier wird bereits versucht, die Bedeutung des Wortes in einen negativen Rahmen zu setzen. Als erste Abstammung des Wortes wird (ohne Quellenangabe) eine Bedeutung genannt, die in den Online-Nachschlagewerken DWDS, Wiktionary, Duden und im alten Wörterbuch der Deutschen Sprache (Grimm) nirgends zu finden ist (siehe unten).

Um es klar zu sagen: Die Autoren sind in der Beweispflicht. Sie müssten anhand von Quellen zeigen, dass das deutsche Wort »Mohr« aus einem griechischen Wort stammt, das später im Englischen für »Trottel« oder »Idiot« stand.


Es geht weiter im Text:

In der Lutherbibel heißt es dann: „Kan auch ein Mohr seine haut wandeln?“ Bis heute, in der Fassung aus dem Jahr 2017 erneut bestätigt, verwendet die Lutherbibel an dieser Stelle das Wort „Mohr“.

Der Begriff „Mohr“ entspricht etymologisch zwar locker dem griechischen Aithiopia hat aber allenfalls unspezifische geografische Konnotationen. Der Gebrauch des Begriffs durch Martin Luther ist klar negativ belegt: Im Kontext des zitierten Bibelverses geht es darum, dass die Farbe schwarz die nicht änderbar sündhafte Seele anzeigt.

Auch hier gibt es in dem Artikel keine Quellenangabe. Aber ich reiche sie gern nach: Martin Luther verwendet das Wort »Mohr« bei der Übersetzung einer Brandrede des Propheten Jeremia, der den Bewohnern Judas und Jerusalems mit sehr drastischen Worten ihre Schlechtigkeit und chronische Unverbesserlichkeit vorhält:

Kann auch ein Mohr seine Haut wandeln oder ein Parder seine Flecken? So könnt ihr auch Gutes tun, die ihr des Bösen gewohnt seid. [Jeremia 13, Vers 23]

Was der Prophet damit sagt: Ihr seid so sündig und unverbesserlich, dass Ihr nie wieder Gutes tun könnt. Er stellt den schwarzen Menschen nicht als schlecht, sondern seine Haut als unveränderbar dar. Das ist ein Unterschied.

Was man mit dem Wissen von heute sagen kann: Jeremia objektifiziert die Haut der schwarzen Menschen für seine Argumentation. Das würde man heute mit dem gebotenen Anstand sicher nicht tun.

Zur theologischen Seite habe ich den evangelischen Inselpfarrer von Teneriffa-Süd befragt. Er bestätigte mir, dass die Konnotation nicht negativ ist und sagte mir dazu noch:

Das Alte Testament ist das älteste Dokument aus dem vorderen Orient, das überhaupt einen allgemeinen Begriff des Menschen hat, unabhängig von Ethnie, Rasse und Geschlecht.

Damit ist das Argument gegen Martin Luther auch erledigt: Luther übersetzt den Jesaja nach bestem Wissen und Gewissen. Er verwendet das Wort »Mohr« in keiner Weise negativ oder rassistisch.


Auch bei der folgenden Argumentation aus dem Artikel fehlen wieder der Zusammenhang und die Quelle:

Diese negative Prägung des Wortes „Mohr“ lässt sich auch literarisch durch die Jahrhunderte verfolgen. Bei Kleist heißt es etwa: „Du hast ein menschliches Gesicht, zu dir,/ Wie zu dem Weißen unter Mohren, wende/ Ich mich“ – die Mohren sind die, die sich von Menschen unterscheiden.

Ich kann nur empfehlen, jedes Argument im Zusammenhang zu lesen. Hier ergibt sich aus dem Zusammenhang, dass Kleist im Text den einzigen Menschen meint, den jemand in der Fremde zu kennen glaubt, weil er nämlich derselben Kultur angehört:

Nur dir, nur dir darf ichs vertraun – Denn hier
Auf dieser Burg – mir kommt es vor, ich sei
In einem Götzentempel, sei, ein Christ,
Umringt von Wilden, die mit gräßlichen
Gebärden mich, den Haaresträubenden,
Zu ihrem blutgen Fratzenbilde reißen –
– Du hast ein menschliches Gesicht, zu dir,
Wie zu dem Weißen unter Mohren, wende
Ich mich – Denn niemand, bei Gefahr des Lebens,
Darf außer dir des Gottes Namen wissen,
Der mich entzückt. –

[Heinrich von Kleist: Die Familie Schroffenstein]

Auch hier argumentieren die Autoren des Artikels also nicht redlich: aus dem Zusammenhang gerissen und ohne Quellenangabe soll eine negative und rassistische Verwendung unterstellt werden, die es bei Kleist nicht gibt.


Eine letzte Argumentationslinie der Gastautoren der »Berliner Zeitung« soll die negative Verwendung des Begriffs »Mohr« bei Hofe beweisen und scheitert ebenso:

An herrschaftlichen Höfen wurde der Begriff „Mohr“ für Menschen genutzt, die ver- und gekauft wurden: So bestand die Prinzessin am Ostfriesischen Hof zu Aurich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf ihren „Mohren“ – Fürst Georg Christians versuchte vergeblich „einen jungen Mohren und eine junge Mohrin“ in Amsterdam für sie zu kaufen.

Und Friedrich Wilhelm I. schrieb 1728 an seinen Gesandten, er solle „nach anliegendem Maßband einige junge Mohren kaufen […]. Sie müssen so jung sein, dass sie noch wachsen werden. Der Resident muss darauf bedacht sein, die Jungens wohlfeil zu bekommen.“

Ja: An herrschaftlichen Höfen wurden zu jener Zeit Menschen gehandelt. Friedrich Wilhelm I. von Preußen hat von August dem Starken auch 600 Dragoner »übernommen« und gegen wertvolle Vasen getauscht, die bis heute unter der Bezeichnung »Dragonervasen« in Dresden zu sehen sind.

Beide Geschäfte sind nach heutigen Maßstäben ein Verstoß gegen elementare Menschenrechte. Nach damaligen Maßstäben hat Friedrich Wilhelm aber einfach nur beschrieben, was er für eine »Ware« haben will: eben Dragoner oder Mohren. Nicht das Wort »Mohr« ist hier der Skandal, sondern der Handel mit Menschen – ob es nun Soldaten oder Menschen mit schwarzer Hautfarbe waren.


Zuletzt bleibt anzumerken dass ich weder für eine Umbenennung noch gegen eine Umbenennung der Straße bin. Für einen Argumentationswettstreit bin ich aber zu haben.

Wenn die Straße per Beschluss der Kommunalpolitiker umbenannt wird, sollte es mit guten Argumenten begründet werden. Wenn eine demokratische Entscheidung der Betroffenen getroffen werden soll, schaden Argumente bekanntlich auch nicht. Nur: Gebt mir bitte bessere Argumente als diesen tendenziösen Artikel aus der Berliner Zeitung!


Sprachlich interessante Links:

Der Begriff Mohr im DWDS

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm: Mohr

Der Duden: Mohr

Wiktionary: Mohr


Weiterführende Links: Ein Bild in Berlin und seine Geschichte [via].


Weiterführende Debatte:

Diskussion mit Christian Bangel (Thread)



Die Geschichte der drei Fragen zur Hasskriminalität

11. März 2017

Alles begann mit einer Grafik der »Tagesschau«: Sie zeigt linke und rechte Straftaten, die aus Hass begangen worden sein sollen. Diese Grafik wird gern zur Unterstützung der Argumentation »von ›Links‹ geht doch keine Gefahr aus« eingesetzt.

Zu Beginn ein Appell: Beschimpfen Sie bitte nicht diejenigen Nutzer, die in den sozialen Netzwerken mit der Grafik der Tagesschau daherkommen. Antworten Sie sachlich, ohne Drohungen und Schimpfwörter. Bringen Sie Argumente. Dann haben Sie schon mal nach Punkten gewonnen – und vielleicht können Sie sogar jemanden überzeugen.

Sie finden die Grafik in der Mitte dieses Tweets.

Die Grafik der Tagesschau stellt für 2015 die riesige Zahl von 9.426 Straftaten »rechter Hasskriminalität« der hundertfach kleineren Zahl von 96 Straftaten »linker Hasskriminalität« gegenüber. Ist also »Rechts« hundertmal schlimmer als »Links«? Um das herauszufinden, lohnt sich ein Blick auf die Zahlen.


Was ist eigentlich Hasskriminalität?

Die Zahlen der Tagesschau stammen aus einer gesonderten Auswertung der Statistik zur politisch motivierten Kriminalität (PMK). Das Besondere an dieser Statistik politischen Auswertung ist: Sie beschränkt sich ausschließlich auf Hasskriminalität – also auf Straftaten, von denen man annimmt, dass sie aus Hass begangen werden.

Dafür hat die Politik spezielle Kategorien geschaffen, mit denen nahezu alle »rechten«, aber nahezu keine »linken« Straftaten abgedeckt sind. Um es für den Teilbereich der Gewalttaten in konkrete Zahlen zu fassen (die Zahlen der Gewalttaten stammen vom Verfassungsschutz):

Von den »rechten« Gewalttaten des Jahres 2015 finden sich 980 von etwa 1.400 in der Hasskriminalität wieder.

Von den »linken« Gewalttaten des Jahres 2015 finden sich dort ganze 24 von etwa 1.600 Gewalttaten.

Noch einmal in Prozent: Aus Hass wurden laut dieser politischen Einordnung 70 % aller rechten, aber nur 1,5 % aller linken Gewalttaten verübt. Wenn man die Zahlen der PMK zugrundelegt, ist der Anteil »links« noch wesentlich kleiner und »rechts« etwas kleiner.


Wie kommen diese Ergebnisse zustande?

Die Gewalttaten der »Linken« werden zwar in der PMK-Statistik und im Verfassungsschutzbericht erfasst, aber sie werden aus der Erfassung der Hasskriminalität fast vollständig wieder herausgenommen.

Das geschieht mit einem simplen politischen Trick, der nichts mit Statistik zu tun hat: Straftaten von »Linken« werden durch das Festsetzen geeigneter Kategorien nicht als Hasskriminalität gewertet. Es rutscht allenfalls das eine oder andere Delikt durch, das sowohl von rechts als auch von links begangen werden kann – etwa einige Fälle des Antisemitismus.

Wenn aber Linksextremisten in Leipzig mit Steinwürfen und anderen Gewalttaten eine Polizeiwache überfallen, dann geschieht das im Rahmen dieser politisch verordneten Einordnung nicht aus Hass.

Es verwundert natürlich, dass der Staat Angriffe auf seine eigenen Beamten nicht als Hasskriminalität zählt. Ich kann dazu nur sagen: Ich habe als zufälliger Zeuge Angriffe gegen Polizisten gesehen und ich habe auch den herausgebrüllten Hass der Täter gehört. Ich würde dafür eine eigene Kategorie schaffen.


Eingeschobener Hinweis: Ich habe den Bereich der Gewalttaten gewählt, weil diese Taten wenigstens annähernd vergleichbar sind. Propagandadelikte sind bekanntlich zu 99 % »rechte« Straftaten: Es ist aus guten Gründen strafbar, den Holocaust zu leugnen, bestimmte Naziparolen zu grölen und ein Hakenkreuz an die Wand zu malen.

Es ist dagegen nicht strafbar oder wird kaum verfolgt: die Verbrechen des Stalinismus, des Maoismus oder auch des nordkoreanischen Regimes zu leugnen, deren Parolen zu grölen, und deren Symbole zu verbreiten.


Wie sind die Gewalttaten von Rechts und Links einzuordnen?

Die Statistik des Verfassungsschutzes und die allgemeine PMK-Statistik weisen für 2015 mehr linke als rechte Gewaltstraftaten aus. Der Verfassungsschutz nennt 1.608 linksextremistische und 1.408 rechtsextremistische Gewalttaten.

Zwischen den Statistiken des Verfassungsschutzes (Verfassungsschutzbericht) und der Innenministerien (PMK) gibt es Unterschiede, weil der Verfassungsschutz nur Straftaten mit ausdrücklich extremistischem Hintergrund zählt. Die Innenministerien zählen dagegen jede politische Gewalt. Aber diese Unterschiede kann man im Rahmen dieses Themas vernachlässigen.

Eine interessante Frage stellte Martin Domig auf Twitter: »Wie wird festgestellt, ob eine Tat links oder rechts eingeordnet wird?« – Ich denke, dass der Verfassungsschutz hier vor allem auf die Gruppenzugehörigkeit der Täter und auf die Motive schaut. Aber nach der Hufeisentheorie treffen sich rechte und linke Totalitäre ja bekanntlich in ihrer Ablehnung des demokratischen Rechtsstaats.


Hat die Tagesschau gelogen?

Nein! Die Tagesschau hat mit ihrer Grafik eine staatliche Statistik politische Interpretation wiedergegeben, die in dieser Form offiziell herausgegeben wird. Die Grafik gibt die Zahlen soweit auch richtig wieder. Die Tagesschau lügt weder mit der Grafik noch mit den Zahlen.

Diese Statistik politische Interpretation ist aber erklärungsbedürftig: Aus welchen Straftaten wird sie zusammengestellt? Was wird weggelassen und warum wird es weggelassen? Warum werden Gewalt und Propaganda in einem Balken zusammengefasst?

Deshalb ist der Tagesschau trotzdem ein Vorwurf zu machen: Sie scheitert an der Aufgabe, die Zahlen für ihr Publikum richtig einzuordnen – oder sie hat es nicht gewollt. Das vermag ich nicht einzuschätzen. Die Zahlen sind jedenfalls so brisant, dass sie eine Erklärung notwendig gehabt hätten.


Werden wir in Zukunft bessere Statistiken bekommen?

Um es ehrlich zu sagen: Es sieht nicht danach aus. Man kann jede fragwürdige Statistik Interpretation noch ein Stück fragwürdiger machen. Der Begriff der Hasskriminalität wird in Zukunft noch weiter gefasst: er umfasst nun auch »islambezogene Hasskriminalität«.

Wenn aber jemand aus Hass gegen Christen hetzt, die Scheiben eines Gemeindehauses einwirft, eine christliche Kirche anzündet oder diesen Brand bejubelt, dann ist es auch in Zukunft kein Hassverbrechen.

Wenn jemand Polizisten mit Steinen und Feuerwerkskörpern angreift, Hass gegen sie verbreitet oder ihnen mit Überfällen auf dem Heimweg vom Dienst droht, dann sind diese Straftaten mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft nicht in der Statistik politischen Interpretation der Hasskriminalität zu finden.


Fazit

Was richtet man mit Statistiken an, die eine große Kategorie von Straftaten (»Rechts«) in den Vordergrund stellen und die andere Kategorie (»Links«) verschleiern? Man verletzt das Rechtsempfinden der Bürger, man untergräbt das Vertrauen der Bürger in staatliche Stellen und staatliche Zahlen.

Deshalb noch ein Appell an jede Leserin und jeden Leser dieses Textes: Bewahren Sie bitte die Ruhe und lesen Sie die Zahlen einen kühlen Kopf. Halten Sie kritische Distanz zu Statistiken: Die meisten sind wirklich gut, nur wenige sind zweifelhaft. Finden Sie heraus, welche Statistiken Ihnen einen Erkenntnisgewinn bringen. Reden Sie mit anderen Menschen darüber. Verdammen Sie bitte nicht jede Statistik, nur weil es einige schlechte gibt.


Quellen: Die Statistiken der Hasskriminalität und der politisch motivierten Kriminalität sind in dieser Pressemitteilung als PDF-Dateien verlinkt.

Der Verfassungsschutz berichtet über linksextremistische und rechtsextremistische Straftaten.

Zur Stärkung Ihrer Medienkompetenz können Sie ja dann in diesem Artikel der ZEIT nach »rechten« und »linken« Gewalttaten suchen ;-)

Viel Erfolg beim Auswerten!



Ergänzung 1: Delikte unter falscher Flagge

Das Hakenkreuz steht für die Nazis und die Naziverbrechen. Es ist in Deutschland ein verbotenes Symbol und wird als »rechte Hasskriminalität« eingestuft. Allerdings ist es sehr leicht, ein Hakenkreuz zu schmieren oder zu sprühen. Das Hakenkreuz wurde z.B. zur Tarnung von Straftaten verwendet:

Bingen: Brandstiftung

Vorra: Verschleierung von Baumängeln

Es gibt aber auch Fälle, in denen ein Überfall und Übergriff schlicht erlogen wurde: dazu gehört der Hakenkreuzfall von Mittweida.

Das sind drei Fälle, die aufgeklärt werden konnten. Sie waren in ihren Auswirkungen so brisant, dass Polizei und Staatsanwaltschaft eine Menge Ermittlungsarbeit hineinstecken mussten: Brandstiftung, Zerstörung, Vortäuschung einer schweren Straftat.

Aber es gibt auch viele »harmlose« Fälle, in denen Nazisymbole einfach so geschmiert werden und die Täter im Schutz der Dunkelheit entkommen: In Wahljahren werden Wahlplakate von Politikern aus CDU, FDP und seit einigen Jahren auch AfD des öfteren damit verunstaltet. Diese Fälle lassen sich kaum jemals aufklären. Das Hakenkreuz gilt dann nichtsdestotrotz als rechte Hasskriminalität, obwohl es auch von jedem politischen Gegner der genannten Parteien kommen kann.


Ergänzung 2: Statistik oder politische Interpretation?

Ich habe an einigen Stellen das Wort »Statistik« durchgestrichen und durch »(politische) Interpretation« ersetzt. Mit folgender Begründung: Die Erfassung der Straftaten durch den Verfassungsschutz als »linksextremistisch« oder »rechtsextremistisch« kann noch als Statistik bezeichnet werden. Die PMK-Statistik der Innenministerien ebenfalls – auch wenn hier politischer Einfluss genommen wird. Dagegen ist die spätere Aufgliederung der Zahlen in »Hass« und »kein Hass« eine rein politische Entscheidung.


Ergänzung 3: Wer sich gehasst fühlt …

In einer Agenturmeldung vom 28.02.2017 wurde verbreitet, dass dem Europarat die Statistik noch lange nicht ausreicht.

Wenn die Darstellung der Agentur richtig ist, soll künftig nach Auffassung des Europarats jedes Delikt als Hasskriminalität gelten, das von ausgewählten Gruppen oder Einzelpersonen, Lobbyisten oder Aktivisten als solche definiert wird (Hervorhebung von mir):

Die Kommission forderte Deutschland auf, alle Taten als Hasskriminalität zu verstehen, die Opfer oder Dritte als rassistisch, homo- oder transphob auffassen. Die Reduzierung auf Delikte, die sich gegen eine Person etwa wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung richteten, sei zu restriktiv.

Hasserfüllte Gewalt gegen die Vertreter des Rechtsstaats, gegen Investoren, gegen Eigentümer von Wohnungen oder einfach nur gegen die Mitglieder einer christlichen Kirchgemeinde wird dagegen auch weiterhin nicht erfasst werden.



Schmalbart beobachtet das Völkische

6. März 2017

Das Netzwerk »Schmalbart« bezeichnet sich als »Netzwerk von Menschen, die etwas gegen Populismus unternehmen wollen«. Man hat eine Seite gestartet, auf der man nach eigener Aussage rechtspopulistische Medien beobachten will. Die Seite heißt

Beobachter Völkischer

und man darf annehmen, dass es also speziell um »völkische« Medien geht [aktuell: hier ist der grundsätzliche Artikel dazu].

Zu den Artikeln aus »völkischen Medien« gehört für »Schmalbart« dieser Artikel der »Achse des Guten« über die VW-Vorstandgehälter. Mein schneller Kurzkommentar zu einem der ersten Schmalbart-Artikel:


1. Es stimmt, dass Liberale die Gehaltsfindung für Spitzenmanager dem Markt überlassen, aber unter folgenden Bedingungen: der Preis muss sich frei am Markt bilden können und der Spitzenmanager muss seine Leistung bringen. Es bestehen mindestens seit dem großen Betriebsratsskandal Zweifel, ob bei den VW-Gehältern wirklich immer der Markt entscheidend war. Es bestehen noch größere Zweifel, ob etwa Herr Winterkorn oder Frau Hohmann-Dennhardt wirklich die vielen Millionen Euro Gehalt wert waren. Diese berechtigten Zweifel werden in dem Achse-Artikel (zugegebenermaßen pointiert) angesprochen.

2. In dem Achse-Artikel werden auch typische linke Argumente verwendet, etwa zum Verhältnis zwischen den Einkommen der Arbeiter und der Spitzenmanager. Diese Argumente kennt man etwa von Frau Wagenknecht oder Herrn Gysi, von SPD-Politikern oder von Gewerkschaftern.

3. Der Artikel ist seinem Wesen nach ein Kommentar, also eine Meinungsäußerung. In dem Kommentar wird durchaus abgewogen, ob der Staat in die Gehaltsfindung eingreifen sollte. Als Besonderheiten werden hervorgehoben: die Staatsbeteiligung bei VW und der Einfluss der SPD. Beides kann man kritisieren – dafür muss man weder »rechts« noch »völkisch« sein.


Diese drei Punkte führen mich zu der Frage: »Schmalbart« beobachtet »rechte«, »völkische«, rechtspopulistische Medien – wieso wird dieser Artikel als »rechts« oder »völkisch« diskreditiert? Beides ist in der Öffentlichkeit negativ konnotiert. Ich kann in dem Artikel allenfalls eine allgemeine Tendenz zum unbestimmten Populismus erkennen, aber keine rechtsradikalen oder völkischen Aussagen.


Ergänzung: Der Name der »Schmalbart«-Seite ist bewusst die Umkehrung des Namens des »Völkischen Beobachters«. Dieser war das Zentralorgan der NSDAP. Wenn man im Jahr 2017 eine Seite »Beobachter der Völkischen (Medien)« nennt, dann müssten die beobachteten Medien also der NPD oder noch schlimmeren Organisationen nahe stehen. Diese Medien müssten einen neuen Nationalsozialismus propagieren und/oder den alten Nationalsozialismus verherrlichen. Die Namensgebung ist angesichts der tatsächlich beobachteten Medien völlig absurd [aktuell: das habe ich dann hier weitergeführt].



Zur Einschränkung der Meinungsfreiheit

14. Januar 2017

Ich adaptiere für mich zwei Sätze aus der Stellungnahme der Agentur »Scholz & Friends« [Quelle] und ergänze sie mit einem dritten Satz:

Politische oder wirtschaftliche Einflussnahme mit dem Ziel, Meinungsäußerungen, die sich im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der geltenden Gesetze bewegen, zu unterbinden, lehne ich strikt ab.

Ich verurteile es ebenso, Unwahrheiten, Beleidigungen und Bedrohungen einzusetzen, um politische Diskussionen im eigenen Sinn zu beeinflussen.

Das gilt auch für manipulative Halbwahrheiten, für jede Art der Manipulation der Ergebnisse von Suchmaschinen, für den manipulativen Einsatz von Bots und für jede Form des Astroturfing.

Um die Jahreswende 2016/17 gab mindestens zwei sehr zweifelhafte Aktionen gegen die Freiheit bürgerlich-konservativer Medien. Ich befürchte für das Wahlkampfjahr 2017 weitere solche Aktionen. Ich lehne solche Aktionen konsequenterweise auch dann ab, wenn sie linke Medien (wie etwa die »junge welt«) treffen sollen.

Ich werde deshalb genau hinschauen, welche Strategie und welches Geschäftsmodell die #Schmalbart-Akteure verfolgen. Ich sehe heute die Gefahr, dass sich #Schmalbart zu einer »pressure group« gegen die Meinungsfreiheit entwickeln kann. Ich hoffe, dass ich Unrecht behalten werde – und bin gleichzeitig wachsam.


Für eine möglichst breite Information über #Schmalbart werden hier Links bereitgestellt, die absichtlich Meinungen der Befürworter und Gegner umfassen:

  1. Die Plattform journalist.de findet das Vorhaben spannend und begleitet es wohlwollend: [Link].
  2. Die Deutsche Welle informiert in einem englischsprachigen Beitrag über Schmalbart: [Link].
  3. Auf detektor.fm wird mehr oder weniger offene PR für das Projekt gemacht: [Link].
  4. Der RBB informiert am 14.01.2017 über das erste »Schmalbart«-Treffen: [Link].
  5. Die Journalistin Sieglinde Geisel war anwesend und hat den ersten (mir bekannten) Bericht über das Treffen geschrieben: [Link]
  6. Die englischsprachige Wikipedia hat Artikel über »rent-seeking« (politische Verhältnisse beeinflussen, um daraus ökonomischen Nutzen zu ziehen) und »Astroturfing«, die man in diesem Zusammenhang hilfreich finden kann.


Schmalbarts Strategie

12. Januar 2017

Das Netzwerk »Schmalbart« bezeichnet sich als »Netzwerk von Menschen, die etwas gegen Populismus unternehmen wollen«. In einem lesenswerten Interview im Deutschlandfunk wurde das Netzwerk gestern vorgestellt.


Schauen wir uns an einem Beispiel an, wie Schmalbart bisher agiert. Der Dialog ist sprachlich leicht bearbeitet, um ihn lesbar zu machen. Das Original finden Sie hier auf Twitter.

Der Publizist Dushan Wegner fragt den Account der Initative »Schmalbart«

Wo nehmen Sie eigentlich das Geld her?

Schmalbart antwortet:

Bisher sind es 82 Privatpersonen. Und unsere Mitglieder kommen aus dem ganzen Bundesgebiet.

Dushan Wegner fragt zurück:

Wie viele [davon sind in der] SPD?

Schmalbart antwortet:

Sie haben einen Fav von Tatja Festerling, Glückwunsch!


Was ist aus diesem Dialog erkennbar? Zum einen die Strategie des Ablenkungsmanövers: Schmalbart will auf die Frage nicht antworten, also wird das Thema gewechselt. Es gibt dafür die schöne Metapher »einen roten Hering werfen«.

Zum anderen sieht man das typische Reaktionsmuster politischer Kampagnen aller Seiten: Ich verwende etwas gegen meinen Kontrahenten, das er nicht beeinflussen kann. In diesem Beispiel ist es die Zustimmung einer dritten Person, aus der Schmalbart eine Verbindung konstruiert.

In der Folge haben andere Beteiligte mehr oder weniger sachlich gegen diese willkürliche Konstruktion protestiert. Schmalbart hat auf wenige Einwände geantwortet. Eine Antwort soll noch herausgegriffen werden:

Ja, Selbstbeobachtung ist schwierig, blinder Fleck. Die Resonanz auf eigenes Handeln erste Reflexion.

Hier wird die Diskussion auf eine Meta-Meta-Meta-Ebene verschoben, die mit dem eigentlichen Dialog nichts mehr zu tun hat. Twitter ist bekanntlich eine offene Plattform, auf der jeder Account jedem anderen Account widersprechen oder zustimmen kann. Deshalb sind auch solche Antworten sinnfrei:

Nein, das sagt aus, dass Ihnen Festerling zugestimmt hat bei Ihrem Tweet gegen uns. Wenn Ihnen das nicht zu denken gibt …

Schmalbart geht in seinen Antworten nicht darauf ein, aufgrund welcher sachlichen Zusammenhänge man dort Dushan Wegner mit Tatjana Festerling assoziiert hat. Eine Zustimmung Dushan Wegners zu Aussagen Tatjana Festerlings, die ja ein Indiz für eine Verbindung wäre, wird nicht belegt.


Vorläufiges Fazit: Die bisherige Gesprächsführung des Accounts @Schmalbart1 ist für mich keine Motivation, dieser Initiative Geld zu spenden oder sie ideell zu unterstützen. Ich werde sie aber sachlich und kritisch begleiten.