Von Büchern, Hüten und ProfessoriXen: Eine Antwort auf Antonia Baum

17. November 2014

Als ich zur Zeit der Wende an der Technischen Universität Dresden studierte, hatten wir einen Professor[1], der in der DDR seit den 1970er Jahren als Autor eines wichtigen Fachbuchs bekannt war. In der Wendezeit stand er kurz vor der Emeritierung.

Wer mein Fach studieren wollte, kam an dem Fachbuch des Professors nicht vorbei: Erstens war es recht gut und zweitens gab es in der DDR-Fachliteratur wegen der Ressourcenknappheit keine große Auswahl.

Wenn wir uns als Dresdner Studenten mit Studenten von außerhalb austauschten, kam oft die Rede auf Professor X: Was es denn für ein Gefühl sei, an seiner Fakultät zu studieren und an seinem Institut studentische Hilfskraft zu sein?

Es waren durchaus gemischte Gefühle: Professor X hatte in den Jahrzehnten seit dem Erscheinen seines berühmten Fachbuchs kaum noch etwas veröffentlicht. In seinen Vorlesungen und in seinem Umgang mit den Doktoranden wurde er von Jahr zu Jahr unleidlicher, beim akademischen Mittelbau war er gefürchtet, und das Personal der Universität machte meist einen weiten Bogen um ihn. Legendär war die lange Liste der Bücher, die er aus der Bibliothek ausgeliehen und nie zurückgegeben hatte.

Wenn wir als Studenten ins Erzählen kamen, fiel meist auch der Spitzname des Professors: Hinter seinem Rücken wurde er Professor Gessler genannt, weil rund um sein Büro eine ganze Batterie aus unsichtbaren Gesslerhüten gegrüßt werden musste. Man hatte auch am Ende der DDR und in der Wendezeit das Machtgefälle zwischen den Professoren und dem »Rest« zu respektieren.

Die Zeit des Professors X an unserer Universität endete an einem traurigen Novembertag Anfang der 1990er Jahre. Als er sein Büro endgültig verlassen hatte, begann das große Aufräumen. Zwei Dutzend Fachbücher aus der Bibliothek fanden wir verstaubt unter dem Sofa, auf dem er so gern Mittagsschlaf gehalten hatte …


25 Jahre später hat sich Antonia Baum gestern in der F.A.S. mit den Diskussionen rund um die Professorin Antje Lann Hornscheidt befasst, die sich nicht mehr als Professorin, sondern als Profx bezeichnen lassen will.

In ihrem Artikel zeigt Antonia Baum einige Absurditäten und Unverschämtheiten, mit denen die Diskussion vergiftet wurde. Antonia Baum nimmt die Perspektive der Berliner Professorin ein, und das ist nicht nur legitim, sondern notwendig – aber sie vergisst dabei einen ganz wesentlichen Punkt: das Machtgefälle zwischen Professoren und Studierenden.

Ich kann keinen Artikel über den Fall Hornscheidt lesen, ohne an unseren Professor X zu denken. Es gibt nämlich nicht nur sprachlich einen Unterschied zwischen den Wendungen »Achten Sie darauf, mich als Profx anzusprechen!« und »Ich wünsche mir, als Profx angesprochen zu werden.«

Wer früher als Student oder Doktorand zu Professor X ging, war sich des Machtgefälles spätestens beim Warten im Vorzimmer bewusst. Wer heute auf der offiziellen Webseite der Professorin Hornscheidt liest

Wollen Sie mit Profx. Lann Hornscheidt Kontakt aufnehmen? Achten Sie bitte darauf, Anreden wie „Sehr geehrtx Profx. Lann Hornscheidt“ zu verwenden.

und dort zu einer obligatorischen Prüfung antreten muss, wird sich wohl sehr gründlich überlegen, ob er seine Sprache verbiegt oder seine Prüfungsnote in Gefahr bringt.

Dieser »Wunsch«, wie es Antonia Baum interpretiert, ist allenfalls unter Gleichgestellten ein Wunsch. Unter Berücksichtigung des akademischen Machtgefälles ist es kein Wunsch mehr. Man stelle sich einen Augenblick vor, ein Professor mit Adelstitel würde auf seiner offiziellen Webseite betonen

Wenn Sie mit Professor von und zu X Kontakt aufnehmen möchten, achten Sie bitte darauf, die Anrede »Seine Freiherrliche Hoheit« zu verwenden.

Auch in diesem Fall würde eine Anrede konstruiert, die es gar nicht gibt. Die »Freiherrliche Hoheit von und zu …« erscheint in der aufgeklärten Gesellschaft des Jahres 2014 genauso absurd wie die »Profx Hornscheidt«. In erster Linie sind diese Wendungen aber anmaßend, denn in beiden Fällen wird von Studierenden und Mitarbeitern eine Unterwerfungsgeste verlangt.

Es gibt rein rechtlich die beiden Anreden »Sehr geehrte Frau Professor …« und »Sehr geehrter Herr Professor …«. Die sexuelle und soziale Selbsteinstufung der Lehrpersonen ist Privatsache und hat in offiziellen Beziehungen an der Universität nichts zu suchen. Der alte Gesslerhut sollte in der Mottenkiste bleiben. Er wird nicht dadurch akzeptabel, dass man ihn heute als Gesslix-Hut aufstellt.


Ergänzungen:

1. Ich bitte alle Leserinnen und Leser, Frau Prof. Hornscheidt als Mensch zu respektieren und demgemäß nicht auf der persönlichen Ebene anzugreifen.

2. Es geht mir in meinem Artikel ausschließlich um das offizielle Handeln von Frau Prof. Hornscheidt in ihrem Amt an der Uni. Jede Person kann sich privat nennen lassen, wie sie möchte – in einer öffentlich-rechtlichen Machtposition geht das aber nicht.

3. Frau Prof. Hornscheidt ist an der Humboldt-Uni in ein Amt berufen worden. Möglicherweise muss man dort nach der Berufung kaum noch Leistungsnachweise bringen. Es ist trotzdem vermessen, eine Amtsenthebung zu fordern, nur weil uns ihre Publikationen suspekt vorkommen. Rechtlich gesehen ist das nicht möglich.

4. Es ist in Ordnung, wenn Antonia Baum in der F.A.S. auch die Perspektive von Frau Prof. Hornscheidt darstellt. Das gehört zum Pluralismus. Ich finde es aber problematisch, dass sie die eine Seite positiv und die andere negativ verzerrt.


[1] In der fiktiven Figur »Professor X« sind Erinnerungen an die Eigenheiten mehrerer Personen aus meiner Zeit an der TU zusammengefasst.


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Warum ich gegen die Petition zum Braunkohlentagebau Nochten bin

4. November 2013

Heute Morgen gab es eine interessante Debatte unter Dresdner Twitterern. Ausgelöst wurde sie durch die Frage:


Ich habe geantwortet:

Wir brauchen sichere (24 Stunden / Tag verfügbare) Energie. Wir stehen in Konkurrenz mit Nachbarn, die sichere Energie haben.

Wenn man die Begrenzung auf wenige Zeichen berücksichtigt, ist damit schon die Grundlage einer wirtschaftlich nachhaltigen Energiepolitik umrissen.


Das EEG ist das Gegenteil einer nachhaltigen Energiepolitik: Durch die reine Einspeise-Vergütung ohne Rücksicht auf den realen Bedarf entfällt die Notwendigkeit, wirksame Speicher zu entwickeln und zu nutzen. Das EEG ist das anschauliche Beispiel für einen gravierenden Eingriff in den Markt mit den denkbar falschesten Anreizen.

Resultat dieser falschen Anreize sind wirtschaftliche Verluste für die Volkswirtschaft und ein Verlust an Freiheit für jeden Einzelnen. Dabei ist es übrigens völlig belanglos, ob einige Unternehmen von der Umlage befreit sind. Im ÖPNV würde sich die Abschaffung der Befreiung z. B. sofort auf die Fahrpreise auswirken. In anderen energieintensiven Branchen würden die Unternehmen aus dem Land getrieben.


Diese Petition und andere Aktionen gegen den Braunkohlenabbau werden durch die EE-Lobby unterstützt. Die EE-Unternehmen sind naturgemäß für ein Verbot der Energiegewinnung aus Steinkohle, Braunkohle und Erdgas: Sie sehen ihre kurzfristigen und mittelfristigen Profite aus den Zwangsabgaben der Bürger gefährdet.

Die Lobby der großen Energiekonzerne ist dagegen für ein Weiterbestehen des Braunkohlenabbaus und eine (relativ geringe) Erweiterung der Tagebau-Gebiete. Selbstverständlich muss man den großen Energiekonzernen dabei auf die Finger schauen: Die Einhaltung von Umweltauflagen und die Renaturierung der Braunkohlen-Gebiete sind unabdingbare Voraussetzung für die Akzeptanz des Braunkohlenabbaus. Dafür wird heute viel mehr getan als in der DDR-Zeit.


Ich kenne die harte Arbeit im Braunkohlentagebau von früher: So wie viele andere Soldaten im Grundwehrdienst habe ich dort in den Wintern 1986/87 und 1987/88 mit geholfen. Bei -20°C haben wir Bänder und Verlade-Trichter vom Eis und von angefrorener Rohbraunkohle befreit.

Wir haben damals auch geholfen, einen kleineren Bagger zu versetzen: Vor dem Bagger wurden Schienen verlegt, dann rückte der Bagger ein Stück vor – und dann wurden die Schienen von hinten nach vorn transportiert, um sie wieder neu zu verlegen.

Das war härteste körperliche Arbeit bei bitterer Kälte. Vermutlich wird man heute bessere Technik einsetzen, aber in sehr harten Wintern dürfte es bis heute kein Kinderspiel sein.


Ich habe in der DDR-Zeit den Eingriff in die Umwelt gesehen – einen Eingriff, der für das Funktionieren der Energieversorgung in der DDR lebenswichtig war. Ich war auch auf den Truppenübungsplätzen in der Braunkohlengegend und kenne die Natur dieser Landschaft in mehreren Zuständen. Deshalb sehe ich einen großen Unterschied zur heutigen Zeit:

Heute gibt es Umweltauflagen und Kontrollen – sowohl beim Abbau als auch in den Kraftwerken. Heute wird schon bei der Planung des Abbaus bis zum Renaturieren der Tagebaue weitergedacht. Heute wird eine Gesamtbilanz aus Kosten und Nutzen aufgestellt. Der größte Nutzen: Unsere Wirtschaft hat mit einem gesunden Mix mehrerer Energieträger eine stabile und wirtschaftlich effiziente Energieversorgung. Zu den Kosten zählt eben auch die Renaturierung und die Umsiedlung einiger weniger Menschen.


Aber Energie werden wir nie ohne Eingriffe in die Natur gewinnen können. Es kommt immer auf die Gesamtbilanz an: Wie effizient, wie stabil, wie nachhaltig ist unsere Energieversorgung? In dieser Hinsicht stehen die hochmodernen Braunkohlenkraftwerke nicht schlecht da.

Der wissenschaftliche und technische Fortschritt hat dazu geführt, dass z. B. der Feinstaub-Ausstoß aus den Kohlekraftwerken drastisch reduziert wurde. Er ist nach mehreren Filterstufen kaum noch messbar und somit in der Gesamtbilanz nicht mehr relevant. Deshalb protestieren die EE-Lobbyisten am meisten gegen die modernen Kraftwerke, die noch eine Laufzeit von 30 Jahren haben. Darin sehen sie die größte Gefahr für ihre eigenen Geschäfte.


Die erste Antwort des Petitions-Befürworters war übrigens das klassische Totschlag-Argument des Jahres 2013:

Komme mir bitte nicht mit diesen AfD-Argumenten, auf diese Diskussion habe ich keinen Bock. Danke.

Ich bewundere ja jeden, der mit so einfachen Antworten leben kann. Fairerweise sei hinzugefügt: Später wurde die Diskussion dann deutlich besser.




Das Sächsische Gedenkstättenstiftungsgesetz und die ganz privaten Erinnerungen

17. Oktober 2012

Die Parteien CDU, FDP, SPD und Grüne sind im sächsischen Landtag kaum jemals einer Meinung. Jetzt ist einer dieser seltenen Fälle eingetreten: Zur Änderung des Sächsischen Gedenkstättenstiftungsgesetzes haben diese vier Parteien einen gemeinsamen Gesetzesentwurf eingebracht und schließlich auch beschlossen.


Ich habe den bisherigen Text und die Änderungen des Gesetzes in einem Anhörungsprotokoll des Landtags gefunden (PDF, 11 MByte). Darin liegt der Text ab Seite 103 leider nur in gescannter Form vor. Der Freistaat Sachsen verfolgt mit diesem Gesetz das Ziel

(…) die Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft der nationalsozialistischen Diktatur und der kommunistischen Diktatur, insbesondere der SED-Diktatur wach zu halten, den Widerstand gegen diese Diktaturen zu würdigen sowie die Strukturen und Methoden der jeweiligen Herrschaftssysteme für die Öffentlichkeit zu dokumentieren.

Zu den Gedenkstätten gehören Orte, an denen in der NS-Diktatur und in der kommunistischen Diktatur Menschen hingerichtet wurden, zum Beispiel am Münchner Platz in Dresden. Zu den Gedenkstätten gehören Orte, an denen uns die Singularität der NS-Verbrechen bewusst wird: In Pirna-Sonnenstein und in Großschweidnitz wird an die Opfer der Euthanasie erinnert.

Es gibt aber auch Gedenkstätten, die an alltägliche Zustände in Diktaturen erinnern: an die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, an die Misshandlung von Jugendlichen, an die Abschiebehaft politischer Häftlinge und an die Bespitzelung der Oppositionsgruppen.


Der CDU-Abgeordnete Prof. Dr. Günther Schneider sagte im Landtag:

Das neue Gedenkstättenstiftungsgesetz hat damit seinen Ursprung in der Mitte des Sächsischen Landtages und ist der wichtige Schlussstein eines langen Konsensprozesses zwischen den an der Gedenkstättenstiftung des Freistaates Sachsen beteiligten Opfergruppen

Auch der Grünen-Abgeordnete Dr. Karl-Heinz Gerstenberg begrüßte die Verabschiedung des neuen Gesetzes mit den Stimmen der CDU, FDP, SPD und der Grünen:

Gedenkstätten ermöglichen also nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit der persönlichen Verantwortung für eine demokratische Gesellschaft, eine kritische Auseinandersetzung mit politischen und ethischen Fragen der Gegenwart. Und damit haben sie eine hervorgehobene Bedeutung dafür, dass das Bewusstsein einer Gefährdung der Zivilisationsprozesse immer wieder wach gehalten wird.


Eine Partei fehlt in der Aufzählung: Die Linkspartei hat den Entwurf zur Änderung des Gesetzes nicht mit eingebracht und erwähnt die Verabschiedung bis Redaktionsschluss dieses Artikels auch nicht auf ihrer Fraktionswebsite. Das kann nicht verwundern: Die Mehrheit ihrer Mitglieder in Sachsen wird vermutlich auch heute noch bedauern, dass die DDR-Diktatur gestürzt wurde und dass der Freistaat Sachsen an besonderen Orten an die Opfer dieser Diktatur erinnert.

Bleibt zu hoffen, dass sich viele Bürger an den Gedenkstätten über die SED-Diktatur informieren und dass die Erben diese Partei folglich immer weniger Wählerstimmen bekommen. Dagegen hilft der SED-PDS-Linkspartei auch keine weitere Umbenennung ;-)


Man hat es an den Reaktionen auf den »Turm« wieder gesehen: Filme, Bücher und Originaldokumente über die DDR-Zeit bis 1989 bleiben wichtig.

Man liest zwar immer wieder, dass doch inzwischen aus dieser Zeit »alles aufgearbeitet« sei. Doch das stimmt nicht: Zum einen gerät ohne Gedenkstätten vieles in Vergessenheit. Und zum anderen sind auch Erinnerungen an Freundschaften über die innerdeutsche Grenze hinweg, an Ausreise oder Flucht und den Fall der Mauer im Grunde virtuelle Gedenkstätten. Sie rufen uns in Erinnerung, wie frei wir heute sind …



Ein Ogasnök aus Waldheim?

3. Mai 2012

Zugegeben: Den Namen des Möbelstücks »Ogasnök« habe ich mir gerade ausgedacht. Ein solches Möbel gibt es nicht bei IKEA. Den Namen findet man auch noch nicht bei Google. Aber nach Medienrecherchen könnten in den DDR-Gefängnissen etliche Möbel — mit mehr oder weniger lustigen Namen — für die IKEA-Häuser im Westen gefertigt worden sein. Unter Bedingungen, die alles andere als lustig waren.


Der Autor dieses kleinen Blogs befand sich im Winter 1987/88 für eine Weile in der DDR-Haftanstalt Waldheim. Nein, ich saß nicht im Gefängnis. Ich habe damals als angelernte Aushilfskraft in den Werkstätten der Haftanstalt gearbeitet. Und das kam wie aus heiterem Himmel.

Die DDR-Führung hatte 1987 die größte Amnestie ihrer Geschichte erlassen. Mehr als 40.000 Häftlinge kamen in Freiheit — soweit man in der DDR von Freiheit sprechen konnte. Der SPIEGEL schrieb damals über die Probleme bei der Freilassung der Häftlinge:

Zahlreiche Betriebe sind auf sie angewiesen. So ist dem Gefängnis Brandenburg eine Möbelfabrik angegliedert, die durch die Amnestie den größten Teil ihrer Belegschaft verliert.

In der DDR wusste man auch ohne den SPIEGEL recht gut, dass in fast allen Strafanstalten kleine Betriebe eingerichtet waren, in denen die Häftlinge gearbeitet haben. Ich gehörte zu den jungen Grundwehrdienst-Soldaten, die es selbst miterlebt haben. Ich will mich in diesem Artikel so gut wie möglich an Waldheim erinnern.


Ich habe dort nicht in der Möbelproduktion gearbeitet und ich habe auch keine Möbelproduktion gesehen. Wir standen als junge Soldaten an Drehmaschinen, auf denen Bolzen und andere Teile für Textilmaschinen gefertigt wurden. In der Nachbarschaft wurden in einem anderen Betriebsteil aus elektronischen Bauteilen Schalter montiert.

Kaum einer von uns hatte einen Metallberuf gelernt, aber das war kein Problem: Erstens hatten wir alle in der Schule das Fach »Produktive Arbeit« absolviert. Und zweitens gab es ja erfahrene Facharbeiter, die uns die Maschinen eingerichtet haben. Es gab auch mehrere Ausbilder und Meister, die uns eingewiesen haben.


Diese Beschäftigten waren keine Strafgefangenen. Sie wurden von ihrem Textilmaschinenkombinat in den Strafvollzug delegiert, um dort die Häftlinge zur Arbeit anzuleiten. Ich habe sie als bodenständige, ruhige und sachliche Menschen kennengelernt. Bald kamen wir miteinander ins Gespräch.

Es gab natürlich Tabuthemen: Die Psychatrie gegenüber dem Gefängnis, aus der wir beim Aussteigen aus den Transportfahrzeugen manchmal verzweifelte Schreie von Insassinnen hörten. Die Politik. Und auch die Fluchtversuche und Selbstmorde einiger Häftlinge. Aber im Grunde sprachen die Facharbeiter und Ausbilder sehr offen mit uns — sogar über den Sinn oder Unsinn der Amnestie.

Sie zeigten uns die Artefakte, die man nach der Amnestie beim schrittweisen Renovieren der Latrinen, Waschräume und Aufenthaltsräume gefunden hatte: selbstgefertigte Messerklingen und Seile, aber auch abenteuerliche Vorrichtungen für die alkoholische Gärung.

Seitdem habe ich immer plastisch vor Augen, wozu Menschen fähig sind, wenn sie sich Freiheit — oder eine Illusion von Freiheit — verschaffen wollen.


Wir hatten in den Produktionsanlagen des Gefängnisses nur sehr wenig Freiraum, weil ein letztes Aufgebot an Häftlingen immer noch im Gefängnis verblieben war. Diese Häftlinge waren zu sehr langen Haftstrafen verurteilt worden und hatten davon noch nicht den erforderlichen Anteil verbüßt.

Aus Sicherheitsgründen haben wir also nicht im Gefängnis übernachtet. Wir schliefen in einem alten Tanzsaal in einem Landgasthof in der Nähe. Jeden Morgen wurden wir von dort auf großen Lastkraftwagen nach Waldheim gefahren. Jeden Morgen passierten wir schaudernd die Schleuse. Dahinter erwarteten uns erschreckende Zustände.

In einigen Räumen sah es so aus, wie man sich ein Zuchthaus der Kaiserzeit vorstellt. Hans Fallada hat diese Zustände in seinem Roman »Wer einmal aus dem Blechnapf frisst« beschrieben. Die Toiletten waren eigentlich Latrinen — ohne jeglichen Schutz der Privatsphäre. Die Waschräume waren sehr primitiv ausgestattet. In der ehemaligen Gefängniskirche befand sich eine kleine Turnhalle.


Wir waren Soldaten im Grundwehrdienst. Man konnte uns zwar befehlen, pünktlich zur Schicht anzutreten. Man konnte uns auch acht Stunden arbeiten lassen. Aber die Motivation fehlte. So hat man uns recht bald Sonderurlaub und Zulagen angeboten, wenn wir bestimmte Normen erfüllten. Natürlich war der Urlaub für die meisten von uns der einzig wirksame Anreiz.

Ich wollte zum Weihnachtsfest 1987 unbedingt meine damalige Freundin (und heutige Frau) sehen. Aber in der DDR-Armee hatte man nur Anspruch auf je einen Urlaub und einen Kurzurlaub pro Halbjahr. Insgesamt sind das wohl sechs Werktage und zwei Wochenenden gewesen. Durch Schikanen der Vorgesetzten konnte es geschehen, dass man mehrere Monate nicht nach Hause kam.


Also haben wir die Maschinen rotieren lassen. Wir waren sehr schnell eingearbeitet. Wir haben fast jede Woche einen neuen Rekord aufgestellt. Und dann haben wir die Fachkräfte eines Tages gefragt, was denn die Gefangenen so für Leistungen gebracht haben.

Die Ausbilder und Facharbeiter wollten keinen direkten Vergleich anstellen. Aber sie haben uns gesagt, dass wir die Leistungen der besten Häftlinge nie erreichen würden. Soweit ich mich an die Aussagen erinnern kann, gab es dort auch für die Häftlinge eine Art Anreizsystem. Es waren die Anreize, die im Gefängnis eines totalitär-repressiven Staates wirksam sein mussten: etwas besseres Essen, Tabak oder — interessantere Arbeit.

Nun war uns klar, warum die verbliebenen Häftlinge immer so müde aussahen, wenn sie einige Meter entfernt an uns vorbeitrotteten und doch unerreichbar waren. Wer würde unter Haftbedingungen nicht alles daransetzen, sich einen kleinen Vorteil oder Freiraum zu erarbeiten?

Man darf nicht vergessen: Die Anreize für kleine Vorteile und Freiräume, die man sich im Knast durch fleißige Arbeit verschaffen konnte, waren auf die Verhältnisse in den Gefängnissen des Staates DDR zugeschnitten — und nicht auf die Verhältnisse in den Gefängnissen eines Rechtsstaats.


Ähnlich war es ja auch in der Nationalen Volksarmee der DDR: Ein Soldat in der Bundeswehr hätte sich nicht mit der Aussicht auf ein paar Tage Weihnachtsurlaub zu hohen Leistungen an der Drehmaschine motivieren lassen. Er hätte seinen Weihnachtsurlaub als selbstverständlich hingenommen — widrigenfalls hätte er ihn eingeklagt …


Die meisten Häftlinge im Waldheim der 1980er Jahre haben (nach den Erzählungen der Zivilbeschäftigten) eine Strafe für eine wirklich schwere Straftat verbüßt: Mord, Vergewaltigung, schwerste Körperverletzung. Oft waren es Mehrfachtäter. Für solche Delikte wurde man auch im Westen zu langen Haftstrafen verurteilt.

Jeder Häftling leidet unter dem Freiheitsentzug — ob im Rechtsstaat oder in einem Staat ohne wirksame Rechtsmittel. Die Häftlinge in der DDR haben unter ihren Haftbedingungen vermutlich mehr gelitten als die Häftlinge in der BRD. Nach der Wiedervereinigung bekamen bestimmte Gruppen von Häftlingen Entschädigungen für inhumane Verhältnisse im Strafvollzug.

Sollte sich herausstellen, dass die DDR ihre [nicht politischen] Häftlinge ausgebeutet hat, müsste geprüft werden, ob der Rechtsnachfolger Bundesrepublik Deutschland in die Verantwortung genommen werden kann. Denn der Rechtsvorgänger DDR hat ja schließlich die Möbel bei IKEA in Rechnung gestellt und Geld dafür bekommen.

Für die Verhältnisse in Waldheim und anderen Gefängnissen kann nach meinem Verständnis nur die DDR verantwortlich gemacht werden — und nicht IKEA oder andere Unternehmen. Aber wenn eines Tages eine Entschädigung fließen sollte, müsste man im Grunde noch einen Schritt weiterdenken: An die Opfer der damals verurteilten Straftäter, die möglicherweise heute auch noch leben. Oder haben diese Opfer gar keine Rechte?



Over the hills …

7. Februar 2011

and far away singt Gary Moore ein letztes Mal im Blog politplatschquatsch und wie so oft haben Blogger mit einem ganz kurzen Eintrag mehr ausgesagt als Feuilleton-Redakteure mit vielen abgequälten Zeilen. Von Gary Moore war eine der ersten CDs, die ich mir nach der Wende gekauft habe. Dann ist viel Zeit ins Land gegangen. Heute gibt es Blues:

So long, it was so long ago
But I’ve still got the blues for you
Though the days come and go
There is one thing I know
I’ve still got the blues for you

Gary Moore: Still Got The Blues



Zwanzig Jahre zu spät

14. Oktober 2010

Erich Mielke und seine Tschekisten haben in der DDR auf jeden einzelnen Kopierer aufgepasst. Und wenn ich jetzt »Ormig« sage, dann wissen vielleicht noch einige Leute, was für furchtbar miese Kopien man damals anfertigen konnte: grau in grau, schmierig und nicht lange leserlich …

Trotzdem hat das MfS strengstens darauf geachtet, dass niemand Flugblätter kopieren konnte. Zuwiderhandlungen wurden hart bestraft.

Wenn Erich Mielke und Erich Honecker das noch erlebt hätten: Ein Kopierer von Canon ist in der Lage, bestimmte Schlüsselwörter beim Kopieren zu erkennen, das Kopieren zu unterbinden und den Administrator über den Kopierversuch zu informieren.

Ich hätte mir 1989 nicht träumen lassen, dass in einem demokratischen Rechtsstaat mal solche Geräte erfunden, produziert und eingesetzt werden könnten …



Demokratie auf dem Plakat

15. Juni 2010

Der Kollege vom Dresdner Rand weist auf ein Plakat hin, das ich sonst immer nur beim Lauftraining wahrgenommen habe: Hier bestimmen Sie. Schöne Idee. Trotzdem: eine Regierung wie diese habe ich mir 1989/90 auch den nach langen Jahren der Helmut-Kohl-Kanzlerschaft nicht träumen lassen …



Zwei Texte schreiben

16. März 2010

Amelie Fried hat ihren Text über die Misshandlungen an ihrer ehemaligen Schule unter das Motto gestellt:

Schnell wurde mir klar, dass ich eigentlich zwei Texte schreiben müsste.

und das trifft in seiner verblüffenden Einfachheit eigentlich auf fast jede Schule und auf fast jede Jugend zu.

Die Gedanken an die Schule und den Beginn des Erwachsenwerdens laufen auch bei mir etwas mehr als 20 Jahre nach der friedlichen Revolution beim Denken, Schreiben und Lesen[1] eigentlich immer zweigleisig.

Da war zum einen die Jugendzeit mit Lesen, Sport, Kultur, Feiern und vielen persönlichen Freiheiten. Da waren einige Lehrer, die uns wirklich wachsen ließen.

Da war zum anderen der völlig sinnlose sozialistische Druck und Drill, der uns Jungen längerdienend in die NVA und möglichst viele junge Erwachsene in die SED bringen sollte. Als wäre den linientreuen Lehrern nicht klar gewesen, dass man mit Druck und Drill gerade keine Motivation stärken kann[2].

Nein, es gab wohl an unserer Schule keine sexuellen Misshandlungen oder Belästigungen (zumindest sind mir bis heute keine bekannt). Aber der am penetrantesten SED-treue Lehrer hat Schüler systematisch erniedrigt, Laufbahnen versperrt und junge Erwachsene denunziert. Wo es unkontrolliert ausgeübte Macht gibt, bleibt das wohl nicht aus …

Schlechte Lehrer haben ihre Macht auch im Osten genutzt, um junge Menschen zu erniedrigen. Gute Lehrer haben ihre Macht auch im Osten genutzt, um jungen Menschen den Rücken zu stärken. Ich bin bis heute dankbar, dass bei mir die guten Lehrer leicht in der Mehrheit waren …


[1] Man kann ja zum Beispiel gegen Tellkamps »Turm« eine Menge Argumente vorbringen, vielleicht sogar berechtigte Einwände, aber zum Nachdenken und Erinnern brachte mich das Buch auf jeden Fall.
[2] Auf welchem Stand war eigentlich in der DDR die Theorie von der Motivation des Menschen? Weit kann sie nicht entwickelt gewesen sein …



Heinz Eggert bloggt über Margot Käßmann

25. Februar 2010

In den Kommentaren hat casus darauf hingewiesen, dass sich der ehemalige sächsische Innenminister Heinz Eggert in einem privaten Blogartikel mit dem Fall der Bischöfin Käßmann auseinandergesetzt hat. Herzlichen Dank an casus für den Hinweis!

Der Artikel in seinem Blog scheint der unredigierte Entwurf zu
einem Kommentar in der Sächsischen Zeitung zu sein.

Heinz Eggert beschreibt in seinem Artikel ein Erlebnis aus seiner Zeit als junger Pfarrer. Die Mitglieder des Bibelkreises diskutieren abstrakt über den Fall eines Pfarrers im Trennungskonflikt und kommen zu dem Ergebnis: ein Pfarrer muss immer Vorbild sein — zu wem solle man sonst aufschauen? Eggert schreibt:

Da begriff ich, dass ich keiner von ihnen war, auch wenn ich es sein wollte. Ich musste gar nicht auf den Sockel klettern, in ihren Augen stand ich schon oben. Auch als kleiner Dorfpfarrer. Erwartungsdruck nennt man das. Je höher der Sockel, umso tiefer kann man natürlich stürzen.

Heinz Eggert schreibt über den Sockel, auf den Pfarrer und Bischöfe oft gestellt werden. Damit hat er prinzipiell recht. Doch man kann sich solche Sockel auch selbst erhöhen, indem man ein paar Schichten Material mit moralischen Ansprüchen obendrauf packt.

Ein besonders feines Gespür haben dafür die Gruppen, die von den großen Kirchen lange Zeit ausgegrenzt wurden: zum Beispiel Homosexuelle und heimliche Partnerinnen katholischer Priester. Aus persönlichen Gesprächen weiß ich: ein öffentliches »Outing« hoher Amtsträger wird dann wahrscheinlicher, wenn diese Amtsträger öffentlich besonders rigide gegen »Verfehlungen« auftreten, die sie selbst begehen.

Dagegen wird hohen Amtsträgern ihr Verhalten eher nachgesehen, wenn sie sich gegenüber dem selben Verhalten anderer Menschen tolerant und nachsichtig zeigen.

Der Volksmund kennt das Sprichwort: Sie predigten öffentlich Wasser und tranken heimlich Wein. Schon mit einfacher Google-Suche konnte man am Wochenbeginn Beispiele für hochmoralische Ausführungen der Bischöfin über Alkohol, Verkehrssicherheit und Fasten finden. Ist sie zurückgetreten, weil sie selbst am besten wusste, wie viele Beiträge in den Archiven noch gesucht und gefunden werden würden?

Sie soll im Amt bleiben, sagte [zu Heinz Eggert] vorgestern Abend in einer Dresdner Neustadtkneipe ein junger Mann, der ansonsten nach eigener Auskunft mit Kirche nicht viel am Hut hat. Sie ist doch eine von uns, war sein Argument. Bei jedem Politiker hätte er den Daumen nach unten gezeigt.

Das finde ich nicht wirklich widerspruchsfrei. Denn das Amt der EKD-Ratsvorsitzenden ist ein politisches Amt. Die Trägerinnen und Träger dieses Amtes muss man auch nach politischen Maßstäben messen — im Grunde also an ihrer Glaubwürdigkeit, am Verhältnis zwischen Reden und Tun. Es wäre ungleich einfacher für Frau Käßmann gewesen, wenn sie sich in ihrem Amt zu den Themen Alkohol und Fasten zurückgehalten hätte. Denn dann hätte niemand an den Zusammenhang zwischen Wasser und Wein gedacht …


Ergänzung: Ein Fall von Autoritätsverlust (aus der F.A.Z.)



Noch eine ganz kurze persönliche Anmerkung: Heinz Eggert war für mich eine der wirklich authentischen politischen Persönlichkeiten der Wende in Sachsen. Er hat sich als Innenminister besonders für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und gegen Rechtsextremismus eingesetzt. Er war nie ein stromlinienförmiger Politiker, sondern er bewahrte sich seine Ecken und Kanten. Es ist schade, dass es kaum noch solche Persönlichkeiten in der Politik gibt.



Unter Beobachtung im ehemaligen Stasi-Knast

30. Oktober 2009

Gestern nacht hat hier ein Kommentator auf die Aktion eines ehemaligen Häftlings und einer Künstlerin hingewiesen: zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution will Carl-Wolfgang Holzapfel die Haft im Stasi-Knast nachstellen und Franziska Vu will die Aktion fotografieren.

Im Jahr 2009 wird der Insasse der Zelle nicht durch Stasi-Wärter beobachtet, sondern durch eine Webcam. Jeder kann sich die Bilder auf den Schirm holen. Ich habe den direkten Link gestern entfernt, weil er direkt auf einen schlafenden Menschen verwies und weil ich es nicht richtig finde, Menschen live beim Schlafen zu beobachten.

Die Sächsische Zeitung berichtet heute über die nicht unumstrittene Aktion. Dort gibt es auch Links zu Fotos und zu der Live-Webcam (so steht es zumindest in der gedruckten Ausgabe). Die SZ erwähnt aber online nur die Adresse, ohne die Seite direkt zu verlinken.

Umstritten ist das Projekt nicht nur wegen der Big-Brother-Überwachung, in die sich der ehemalige Häftling freiwillig begeben hat. Carl-Wolfgang Holzapfel wurde 1964 nach einer Demonstration für die Freilassung politischer Gefangener verhaftet, zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt und nach 13 Monaten freigekauft. Er lebte dann in der BRD und war zeitweise Mitglied der Republikaner.

Auch mit der Vergangenheit als Republikaner hat er das Recht, sich zu politischen Fragen zu äußern. Es haben sich einige bekannte deutsche Politiker aus extremistischen Gruppen gelöst und in demokratischen Parteien Karriere gemacht. Der Mensch kann sein ganzes Leben lang umdenken und neue Wege beschreiten. So muss es grundsätzlich möglich sein, dass ein ehemaliges Mitglied der Republikaner eine solche Aktion durchführt.

Auf einem anderen Blatt steht die Frage: dient es der Sache? Auf der einen Seite wird an das Unrecht in der DDR erinnert. Auf der anderen Seite wird die Angelegenheit im politischen Kampf instrumentalisiert und es wird vom eigentlichen Anliegen abgelehnt. Ich denke, dass man die Aktion in ein Fotoprojekt umwandeln sollte. Die Live-Kamera kann mir im Jahr 2009 keine neuen Erkenntnisse mehr verschaffen.


Heimliche Leser in der DDR

16. Oktober 2009

Was haben Asterix, der Neckermann-Katalog, die »Kulturgeschichte der Erotik«, die »Permanente Revolution« von Trotzki und »Schwarzenberg« von Stefan Heym gemeinsam? Sie waren in der DDR verboten und konnten jederzeit unter dem Vorwand der Suche nach »Schund- und Schmutzliteratur« konfisziert werden.

Könnt Ihr Euch vorstellen, wie das ist, wenn man als Schüler ohne Vorwarnung — vor allen anderen Mitschülern — den gesamten Inhalt aller Taschen auf den Tisch legen muss? Wenn Comics, Bücher, Plastetüten oder Zeitschriften einfach willkürlich eingezogen werden? Das fand bei uns mindestens einmal pro Schuljahr statt.

Gerade brachte mir der Paketdienst ein Päckchen mit dem Buch Heimliche Leser in der DDR. Ich werde die Aufsätze, Interview-Aussagen und Berichte später lesen und über einige Themen auch bloggen. Jetzt nur einige persönliche Anmerkungen.

Frisch ausgepackt: »Der heimliche Leser«.

Frisch ausgepackt: »Heimliche Leser in der DDR«.

Ich habe die Herausgeberin Ingrid Sonntag am Dienstag bei einer Ausstellungs-Eröffnung getroffen. Wir kamen sehr schnell ins Gespräch und schon nach ganz kurzer Zeit tauschten wir intensiv Erinnerungen aus. In der Selbstreflexion finde ich es hochinteressant, wie schnell die sonst übliche Distanz zu wildfremden Menschen schwindet, wenn man gemeinsame Erinnerungen an die Kultur in der DDR hat.

Es ist mehr als zwanzig Jahre her, dass ich als junger Student in einer Evangelischen Studentengemeinde Bücher in die Hand bekam, die offiziell verboten waren. Für ein ESG-Treffen habe ich dann aus Stefan Heyms »Schwarzenberg« den basisdemokratischen Verfassungsentwurf abgetippt. Im Computerraum der HAB Weimar, mit »Wordstar«, gespeichert auf dünnen Disketten, vervielfältigt mit einem 9-Nadel-Drucker. Aber es hat funktioniert und wir hatten alle eine Kopie zum Diskutieren.

Damals muss ich wohl einen Schutzengel gehabt haben, denn zur gleichen Zeit wurden drei Studenten zwangsweise exmatrikuliert, weil sie gegen das Verbot des sowjetischen Digests »SPUTNIK« demonstriert hatten, in dem manchmal etwas über Gorbatschows Perestroika stand. Das ist übrigens ein ganz kleiner Mosaikstein zum Thema: War die DDR ein Rechtsstaat? — Die drei Studenten hatten Glück im Unglück: ein Jahr später gab es an der Hochschule keinen SED-Parteisekretär mehr und sie durften weiterstudieren.

Tja. So war das damals. Wer von Euch aus der DDR stammt und eigene Erlebnisse mit verbotenen Büchern beisteuern möchte: da unten ist viel Platz. Es geht nicht nur um politische Bücher. Es geht auch um Erotik, Werbung, Krimis oder Abenteuerromane. Holt die Erinnerungen heraus — gegen das Vergessen.


Heimliche Leser in der DDR. Herausgegeben von Ingrid Sonntag und Siegfried Lokatis. Das Buch kann für Sachsen über die Landeszentrale für Politische Bildung bezogen werden. Man bekommt eine Publikation pro Halbjahr kostenlos zugeschickt. Leser außerhalb Sachsens können sich an die Bundeszentrale für Politische Bildung wenden.



Wie gingen wir früher mit Zeit um?

14. Oktober 2009

Vorträge werden oft durch Fragen noch interessanter. So war es auch gestern, als ein Besucher die Frage stellte: »Wie hat es sich auf die Künstler in der DDR ausgewirkt, dass sie mehr Zeit als die Künstler im Westen hatten?«

Alle vier Beteiligten waren kompetent genug, um die Frage zu beantworten, denn sie hatten die DDR und auch den Westen sehr bewusst erlebt — wer als junger Erwachsener nach jahrelanger Wartezeit in ein anderes System ausreist, sieht alles doppelt so klar: so wie der Kopf auf dem nächsten Bild.

»Kopf« von Christine Schlegel (Klick vergrößert).

»Kopf« von Christine Schlegel (Klick vergrößert).

Dass DDR-Künstler mehr Zeit hatten, wurde in der Runde nicht hinterfragt, sondern vorausgesetzt. Angela Hampel berichtete zum Beispiel, dass bildende Künstler nach dem Studium drei Jahre als »Kandidaten« des Künstlerverbandes einen eigenen Stil finden konnten. Es gab vom Staat 400 Ostmark im Monat und das war den meisten Künstlern zum Leben genug.

Dies war der relativ bequeme Weg. Aber Künstler mit Ausreiseantrag haben auch oft als Friedhofsgärtner oder in der Landwirtschaft gearbeitet. Ein künstlerisch begabter Mitschüler in der Berufsschule hatte damals ein wenig in Künstlerkreisen zu tun und sagte immer: »Wenn alles andere nichts wird, dann werde ich Hilfsholzfäller im Großen Garten.« Heute ist er Bäckermeister …

Viele Künstler mit Ausreiseantrag wurden auch als Heizer eingesetzt und ich kann das gut nachfühlen. Als Studenten hatten wir in Weimar auch Heizdienst. Das bedeutete: um vier Uhr aufstehen, Kohlen schaufeln, Schubkarren bewegen, Asche entsorgen. So weiß ich noch sehr gut, wie man nur mit Kohlenstaub bekleidet aussieht. Heizen war zwar ein harter Job, aber trotzdem beliebt: man konnte nämlich in den ausgedehnten Pausen lange lesen. Im Warmen!

In der Diskussion haben die Künstler dann einige Aspekte zum Thema genannt, die ich einfach ohne Zuordnung zu Personen notiert habe und auch so wiedergeben möchte:

  • es gab eine Lebensqualität der verlangsamten Zeit,
  • man hatte Zeit zum Denken und in-sich-Graben und Setzenlassen,
  • man plante regelmäßige Bibliotheksbesuche,
  • man konnte geduldig am Werk und an der Technik arbeiten,
  • man hatte Zeit für die Rezeption der Werke anderer Künstler,
  • viele bildende Künstler konnten in Ruhe Literatur in ihren Werken verarbeiten (wozu man sicher mehr Zeit braucht).

Es wurde nicht ausgesprochen, aber ich unterstelle es einfach: Künstler hatten in der DDR mehr Zeit, über die Kunst zum Ich zu finden. Wir kennen das ja von den Kindern. Wie stolz sind Eltern, wenn sie hören, dass das Kind zum ersten Mal »Ich« sagt. Das Kind ist nicht stolz. Das Kind ist einfach »Ich«.

Das »Ich«-Werden als Künstler geschah in einer Gesellschaft, die durch eine Ideologie des »Wir« geprägt war. Diese Gesellschaft stand unter der Diktatur einer Partei, die die allseits entwickelte sozialistische Persönlichkeit vornehmlich als Teil der sozialistischen Gesellschaft sah. Aber ich schweife schon wieder in eine Vergangenheit ab, die ich eigentlich nicht mehr haben wollte.

Jetzt wird vielleicht verständlich, warum der Stasi solche Ausdrucksformen wie die Improvisation oder auch die Annäherung an den Expressionismus unheimlich waren: darin ist immer ganz viel Ich und ganz wenig Wir.

Jedenfalls konnte man gestern spüren, wie die Künstler an diesem Druck gewachsen sind. Es wurde nur indirekt ausgesprochen, aber man merkte es deutlich. Bleibt immer noch die Frage, woran Künstler und Kinder heute wachsen. Denn einen Druck wie in der DDR gibt es ja nicht mehr. Gestern blieb es offen. Vielleicht findet Ihr Antworten?


Der Malstrom und die Subversion

14. Oktober 2009

Weshalb lassen sich Ausstellungsmacher immer so schwierige Titel einfallen? Als ich die Einladung zur Ausstellung Im Malstrom subversiver Bilder erhielt, haben mich die Schlüsselworte eine Zeitlang irritiert. Ich hielt die These doch für etwas vermessen, dass die DDR in einem Malstrom oder Strudel subversiver Kunst untergegangen sein soll …

Denn unangepasste Kunst aus der DDR kannte ich zwar von solchen Bildern:

Dolorosa-Bild von C. M. P. Schleime.

Dolorosa-Bild von C. M. P. Schleime.

Aber als »subversiv« hatte ich sie nicht in Erinnerung. Im Verlauf der Eröffnung wurde schnell klar, dass sich die Künstler selbst nicht als subversiv gesehen hatten. Im Gegenteil: sie wollten sich eigentlich nur in der DDR entfalten wie Künstler auf der ganzen Welt: wollten malen, improvisieren, schreiben — oder Literatur, Musik und bildende Kunst zusammenbringen.

Doch sie hatten vom Staat den Stempel »Geprüfte Subversion« aufgedrückt bekommen und wer diesen Stempel einmal trägt, der muss wohl zumindest ein klein wenig subversiv werden, um überleben zu können. Man stelle sich das aus Sicht Erich Mielkes vor: IMPROVISATION! Auf Musikinstrumenten! Ohne Noten! Ohne genehmigtes Manuskript!

Oben im Bild ist der Name Sascha Anderson verewigt. Wenigen wird er noch bekannt sein: am Ende der DDR war er ein junger Literat und dann wurde seine Biographie bekannt, in der so viel Verrat und Gemeinheit steckte, dass es für zwei Leben gereicht hätte. Er hat nicht nur gespitzelt, er hat für die Stasi richtiggehend Projektmanagement betrieben.

Anderson hatte jedenfalls die Wege aller Diskussionsteilnehmer in der kleinen Dresdner Kunstszene gekreuzt. Es war sehr interessant, dass die Beteiligten differenzierten: sicher war seine Arbeit für die Stasi abscheulich, aber er hat die Künstler, die ja davon nichts ahnten, auf irgendeine Weise auch inspiriert und weitergebracht.

Er hatte beispielsweise dafür gesorgt, dass kleine Auflagen gedruckt werden durften — aber die Stasi hatte die Vorlagen natürlich schon vor dem Druck …

Tja, so war das damals. Die Menschen wuchsen unter dem Druck des Staates und reiften im Ernst der Situation. Sie waren nicht subversiv, sondern wollten einfach kreativ »ihr Ding machen« (sächsischer Ausdruck für: sich selbst verwirklichen). Weil sie Kunst produzierten, die die Bonzen nicht verstehen konnten, hat man sie bespitzelt und hat man ihnen Grenzen gesetzt.

Doch heute fragen sie sich, woran man in unserer Zeit wachsen könnte. Dazu später mehr ;-)

Gerhard Wolf, 13.10.2009.

Gerhard Wolf im Gespräch mit Ingrid Sonntag (im Hintergrund Angela Hampel), 13.10.2009.



Eintauchen in die eigene Vergangenheit

14. Oktober 2009

In Dresden wurde gestern die Ausstellung »Im Malstrom subversiver Bilder« mit DDR-Künstlern aus der Zeit vor der »friedlichen Revolution« eröffnet. Über die Bilder selbst kann ich gar nicht viel sagen — ein sehr beeindruckendes Erlebnis war für mich die Eröffnung.

Gerhard Wolf hatte die Künstler Angela Hampel (Malerin), Ralf Kerbach (Professor an der Kunsthochschule) und Lothar Fiedler (Musiker) zum Gespräch geladen — soviel darf man im Voraus sagen: er war ein guter Gastgeber und es wurde ein hochinteressantes zweistündiges Gespräch.

Lothar Fiedler improvisierte zu Beginn auf einer verzerrt-verstärkten Gitarre. Damit sollte auf eine Tradition Bezug genommen werden, die es in Dresden, Ost-Berlin und anderswo in der DDR gab: die Symbiose aus Literatur, Malerei und Musik. Es ist nicht überliefert, ob eines der Weingläser auf dem Buffet vor der Tür zersprungen ist ;-)

Weingläser vor der Eröffnung: einer nascht immer;-)

Weingläser vor der Eröffnung: einer nascht immer;-)

Ich kann in dieser Nacht unmöglich alle Notizen bloggen, die ich mir in den zwei Stunden gemacht habe. Es ging um den Einfluss des Staates auf die Künstler, um unterstellte Subversion, um Verrat in Künstlerkreisen, um Freude und Qual der Ausreise — und ganz sehr um die Sehnsucht nach dem ungefilterten Leben. Und natürlich ging es um den Stasi-Spitzel Sascha Anderson, der den Lebensweg des Verlegers und seiner Künstler gekreuzt hatte. Darüber war auch nach der Veranstaltung noch zu diskutieren:

Lothar Fiedler und Ralf Kerbach im Gespräch mit Angela Hampel.

Lothar Fiedler und Ralf Kerbach im Gespräch mit Angela Hampel.

Für mich war es wie ein Eintauchen in das kalte Wasser der eigenen Vergangenheit.

Ausreise war immer ein Thema, seit ich denken kann …

Ausreise war immer ein Thema, seit ich denken kann …

… wie auf diesem Bild von Martin Hoffmann.

… wie auf diesem Bild von Martin Hoffmann.

Die Künstler waren sich in enger Freundschaft verbunden, aber es gab auch gegenseitige Überwachung, Verrat und Konkurrenz. Vielleicht ist unter solchem Eindruck dieses Tagebuchblatt von C. M. P. Schleime entstanden?

Beginn eines Bildtagebuchs.

Beginn eines Bildtagebuchs.

Soviel für jetzt — ich bin sicher der erste, der heute in Dresden einen Artikel über die Eröffnung veröffentlicht. Aber auf einige sehr interessante Themen werde ich gern zurückkommen — wenn es jemand von Euch lesen will ;-)


Die Ausstellung ist im Blog DieNeustadt.de beschrieben. Vielleicht wird dort auch noch darüber gebloggt …



Das Sandmännchen

12. Oktober 2009

Von den Titelseiten meiner beiden Frühstückszeitungen F.A.Z. und DNN schaute mich heute eine altbekannte Figur an: das Sandmännchen. Vordergründiger Anlass: die Figur wird in diesem Jahr sechzig Jahre alt.

Die F.A.Z. weist darauf hin, dass auch die Politiker den Wählern oft Sand in die Augen streuen — es bliebe zu hinterfragen, ob wir dadurch einschlafen oder den Blick auf die Realität verlieren sollen. Und zum anderen macht die F.A.Z. auf die Streitereien in Thüringen aufmerksam, wo sich die Vertreter der eher linken Parteien gerade wie die Kinder in einem Sandkasten benehmen.

Mir fällt noch ein, dass da in der letzten Woche jemand in seinen kleinen Saar-Sandkasten zurückgekehrt ist, der damit seiner Kindergruppe die letzte Chance im Kampf um die Sandspielwerkzeuge genommen hat. Es wäre so interessant gewesen, ihren Sandburgen beim Einstürzen zuzusehen ;-)

Eigentlich ist das alles schade. Das Sandmännchen hätte zu seinen bevorstehenden Geburtstagen Besseres verdient. Und wir als Wahlvolk auch.



Wertsteigerung

8. Oktober 2009

Viele Taschenbücher kosteten in der DDR etwa zwei bis drei Ost-Mark. Heute werden sie antiquarisch für einen Euro verkauft. Das Bild entstand gestern am Körnerplatz vor einem Antiquariat neben dem »Arabusta«.

Bücherkiste mit Taschenbüchern aus der DDR.

Bücherkiste mit Taschenbüchern aus der DDR.

Die Bücherkiste weckt Erinnerungen an die alten DDR-Taschenbuchreihen. Man bekam zwar viele Bücher nur durch »Beziehungen«, aber es war bis zum Ende der DDR immer genug Stoff zum Lesen da ;-)


Stefanolix erzählt von früher: Plan und Markt in der DDR (1)

29. September 2009

Im Grunde ist ja dieser Tom Sawyer an allem schuld. Ich weiß nicht mehr, ob ich zwölf oder dreizehn Jahr alt war, aber an die Geschichte mit Tante Pollys Zaun erinnere ich mich bis heute.

Tom bekommt dort von seiner humorlosen Tante eigentlich eine harte Strafarbeit: er muss mit Kalk einen langen Zaun weiß anstreichen. Doch er sagt sich: wenn ich das schon machen muss, dann mache ich es lieber gern. Und als das seine Freunde sehen, betteln sie ihn geradezu darum, auch ein Stück streichen zu dürfen. Sie bezahlen sogar dafür — am Ende ist Tom zufrieden und »reich«, weil er seine Arbeit auf die richtige Art angepackt hat.

Als ich diese Geschichte gelesen hatte, wollte ich auch mein eigenes Geld verdienen. Ab dem 14. Geburtstag durfte man in der DDR arbeiten gehen: maximal vier Wochen im Jahr und nur in den Winter- oder Sommerferien. Ich weiß noch, dass ich alle Beteiligten überreden musste, die Vorschrift großzügig auszulegen, denn ich hatte immer erst am Ende der Winterferien Geburtstag ;-)

Mein erster Betrieb hat Schaltschränke hergestellt. Der Meister beschäftigte mich mit Bohren, Schrauben, Gravieren und Stanzen. Als er merkte, dass ich wohl doch ganz gewissenhaft war, ließ er mich mit filigranen Werkzeugen winzige Löcher in Leiterplatten bohren. Und am letzten Tag hat er mich gefragt, ob ich in den Sommerferien wiederkommen würde … Ab diesem Tag war ich für zwei Jahre der junge Mann mit den Leiterplatten.

Ich fühlte mich nie ausgebeutet. Ich habe wirklich nur freitags mal eine halbe Stunde die Halle kehren müssen, sonst durfte ich immer etwas Sinnvolles tun — dafür bin ich allen Beteiligten bis heute dankbar. Die Arbeit wurde leistungsorientiert abgerechnet und für meine Verhältnisse kam eine Menge Geld dabei rüber. Meine ersten Wünsche waren Schallplatten, Bücher und ein gutes Fahrrad — alles Dinge, die man für Ost-Geld noch kaufen konnte. Und im Grunde galt das für fast alle Wünsche, die ich als Junge bis zum Erwachsenwerden hatte. Bald sollte ich lernen, dass es auch andere Wünsche gab.

Das Geld für die Ferienarbeit wurde noch bar ausgezahlt — eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde. Mein erstes eigenes Konto hatte ich zwei Jahre nach meinem ersten Job. Ich war inzwischen sechzehn und begann eine Lehre als Baufacharbeiter mit Abitur.

Ich erinnere mich bis heute an meinen ersten Job als Lehrling auf dem Bau: ich musste auf der Baustelle im Werk für Sanitärporzellan Dresden einen Haufen Drahtbügel aus einem dichten Gestrüpp bergen. Die Baustelle hatte für einige Zeit geruht und die Natur hatte ihr Werk getan. Dabei war unsere Arbeit eigentlich wichtig, denn es musste eine moderne Mühle gebaut werden.

Solche Absurditäten beobachtete man in der DDR jeden Tag und schon nach kurzer Zeit wurde mir klar, dass all meine Arbeitsstellen eine Sache gemeinsam hatten. Das war der Spruch »Privat geht vor Katastrophe«.

Ich weiß nicht, seit wann es diesen Spruch gab. Doch er gibt letztlich ein Gefühl wieder, das damals jeder selbständig denkende DDR-Bürger hatte: wenn du nichts anzubieten hast, dann kannst du nicht erwarten, dass dir jemand etwas gibt. Die Wirtschaft entwickelte sich zu einer Tauschwirtschaft. Das Anbieten und Akzeptieren ist ja auch die Grundlage der Marktwirtschaft. Ich habe damals mehr Praktisches gelernt, als man heute im besten VWL-Buch finden kann ;-)

Und weil sich niemand den Grundsätzen des Marktes entziehen kann, wurde das Ost-Geld in der DDR von Jahr zu Jahr bedeutungsloser, es wurde immer mehr zu einem Alibi. Eigeninitiative, Eigenleistungen und Westgeld wurden immer wichtiger.

Ich weiß noch, dass es damals großen Ärger gab, als sich einige Lehrlinge aus Ost-Markstücken Knöpfe für die Wattejacken gebastelt hatten. Die Lehrmeister haben natürlich sofort dafür gesorgt, dass wieder Knöpfe aus Plaste angenäht wurden. Aber eigentlich hatten sie kein wirklich überzeugendes Argument gegen die Alu-Knöpfe.

Dann wurde ich 18 und in der Nachbarschaft wurde eine privat vermietete Wohnung frei. Die Hauseigentümerin war ein Drache, doch sie konnte mich nur bis zur Wohnungstür verfolgen. Und als sie sah, dass ich viel »selbst gemacht« habe, hat sie mich meist in Ruhe gelassen.

Denn »selbst machen« war auch so ein Zauberwort der Achtziger in der DDR. Man bekam zwar erst nach einem bürokratischen Hürdenlauf eine »Um- und Ausbauwohnung«. Doch dann konnte man sich die Wohnung selbst sanieren. Und es war uns immer eine kleine Genugtuung, dass sich die behäbige Kaste der SED- und Verwaltungsspießer eben nicht selbst zu helfen wusste.

Die trugen Hosen aus dem »VEB Herrenmode« aus dem berüchtigten Stoff »Präsent 20«. Die hatten so wenig Humor wie Tom Sawyers Tante. Sie haben bis zum Ende nie verstanden, dass man sich an einer Arbeit freuen muss, um sie gut zu machen oder gut zu organisieren … bis heute wählen die Ex-Bonzen, Ex-Schranzen und Ex-Bürokraten am liebsten die PDS, damit ihnen jemand die Renten sichert, die sie eigentlich nie mit richtiger Wertschöpfung verdient haben.


Demnächst: Über Schurwerken und Eigenleistungen ;-)



Mein erstes Interview

18. August 2009

als politisch interessierter Dresdner Blogger habe ich eben mit Karl-Heinz Gerstenberg geführt. Er ist Direktkandidat der Grünen und hat heute im Wahlkampf für zwei Stunden am Schillerplatz Station gemacht. Im Vorfeld hatte ich Herrn Gerstenberg per E-Mail nach einer möglichen Koalition mit der LINKEN gefragt:

Wenn wir von aktuellen Umfragewerten ausgehen, würde eine Koalition aus SPD, Grünen und Linkspartei unter Führung der SED-Nachfolger stehen (…) Bitte beantworten Sie mir zwei Fragen:

  1. ob Sie als DDR-Bürgerrechtler einen Ministerpräsidenten der
    LINKEN mitwählen würden und
  2. ob Sie mit Ihrem Kollegen Johannes Lichdi übereinstimmen, dass die Grünen als kleinster Partner in eine Dunkelrot-Rot-Grüne Koalition einsteigen sollten.

Herr Gerstenberg hat sich sofort an die Mail erinnert und wir konnten schnell zur Sache kommen. Zu den beiden Fragen sagte er mir:

  1. Nein, ich würde André Hahn nicht zum Ministerpräsidenten wählen.
  2. Inhaltlich sind die Schnittmengen der Grünen mit SPD und Linkspartei größer als mit der CDU.

Ich sehe die erste Antwort als eine ehrliche persönliche Antwort, die sich aus seiner gesamten Biographie ergibt. Herr Gerstenberg ist ein Bürgerrechtler der ersten Stunde. Er hat in mehreren Gremien zur Untersuchung der DDR-Vergangenheit mitgearbeitet. Er wurde von den Rechtsnachfolgern der SED verklagt und für seine Aufklärungsarbeit angegriffen.

Im Gespräch hat er sehr deutliche Kritik an den MfS- und SED-belasteten Teilen der heutigen Linkspartei geäußert, aber auch differenziert auf die persönliche Entwicklung einzelner PDS-Politiker hingewiesen.

Wahlplakat mit Karl-Heinz Gerstenberg

Wahlplakat mit Karl-Heinz Gerstenberg

Ich sehe die zweite Antwort als ehrliche und typische Politiker-Antwort. Die sächsischen Grünen sind auf vielen Politikfeldern relativ einig mit der SPD und relativ einig mit der LINKEN. Eine Koalition mit der CDU würde ihre Basis vor eine Zerreißprobe stellen und ihre Wählerschaft wahrscheinlich spalten. Herr Gerstenberg wies auch darauf hin, dass die CDU in Sachsen ganz anders ausgerichtet ist als die CDU in Hamburg.


Der Journalist Hanns-Joachim Friedrichs hat den berühmten Satz geprägt, den die meisten heutigen Journalisten längst verdrängt haben:

Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.

Nun war ich heute kein Journalist, sondern Blogger, Wähler und Bürger. So sei mir verziehen, dass mein Bericht subjektive Züge enthält und dass jetzt noch einige persönliche Anmerkungen kommen ;-)

Ich habe mit Herrn Gerstenberg in Bezug auf die DDR-Vergangenheit sehr schnell persönliche Anknüpfungspunkte gefunden. Er ist ein sehr kompetenter und authentischer Gesprächspartner, er kann sich sehr schnell auf Fragen einstellen und seine Wahlkampfführung war im Gegensatz zu anderen Politikern angenehm zurückhaltend.

Andererseits vermute ich, dass wir in Bezug auf Marktwirtschaft und Leistungsdifferenzierung eher unterschiedlicher Meinung bleiben werden. Und ein Gespräch über die Vereinbarkeit von Marktwirtschaft und Grüner Energiepolitik war im Verkehrslärm des Schillerplatzes wirklich nicht möglich.

Meine Wahlprognose: Es wird nicht für eine Koalition aus LINKE, SPD und Grünen reichen. Und es wird nicht zu einer Koalition der CDU mit den Grünen kommen. Aber wenn Herr Gerstenberg über die Landesliste in den Landtag einzieht, haben wir mindestens einen authentischen Bürgerrechtler und kompetenten Gesprächspartner dort sitzen. Vielleicht lässt sich eine nachhaltige Verbindung zwischen Dresdner Bloggern und Dresdner Abgeordneten aufbauen.

Vielleicht bloggt Herr Gerstenberg auch noch ein wenig im Wahlkampf? Vielleicht sogar mit offenen Kommentaren — das wäre doch mal Bürgerbeteiligung ;-)



Die Koalitionsaussage der sächsischen Grünen?

15. August 2009

Sehr geehrter Herr Lichdi,

darf ich die folgende Aussage auf Ihrer Webseite so verstehen, dass Sie gern als kleinster Partner in eine Koalition unter Führung der SED-Erben einsteigen möchten?

Ich werbe insbesondere um die sozialdemokratischen Wähler, die sich eine Regierungsbeteiligung der SPD außerhalb einer Koalition mit der CDU wünschen. Meine Direktwahl wäre ein starkes Zeichen, dass auch in Sachsen eine Mehrheitsbildung links von der CDU möglich ist.

Momentan liegt die PDS/Linkspartei in den Umfragen ein ganzes Stück vor der SPD und die SPD liegt noch ein ganzes Stück vor den Grünen. Eine Koalition »links von der CDU« ist nur mit diesen drei Parteien möglich.

Ich habe Ihnen diese Frage vorgestern — am Jahrestag des Mauerbaus — in Ihrem Blog gestellt. Leider habe ich bis heute keine Antwort bekommen.

Mich würde auch interessieren, was die Vertreter Ihrer Partei dazu sagen, die 1989 mit vielen anderen (auch mit mir) gemeinsam gegen das SED-Regime auf die Straße gegangen sind. Bitte erklären Sie mir, wie Sie Ihre Koalitionsabsicht mit der Entstehung des Bündnis 90 aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR vereinbaren können.

Mit freundlichen Grüßen
Stefanolix,
Blogger aus Dresden

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Ruinen schaffen ohne Waffen …

9. März 2009

war vor 1989 hier in Dresden ein bitterer Spruch über die Baupolitik der SED. Bitter auch deshalb, weil damit ja das pazifistische Ansinnen »Frieden schaffen ohne Waffen« persifliert wurde. Aber was sollte man machen, wenn der Spruch passte.

Erinnerung (um 1985): Wir hatten in der Berufsschule einen mutigen Baukonstruktions-Lehrer, der ließ uns für eine Projektarbeit Bauschäden fotografieren und die Maßnahmen zur Behebung herausfinden …

Schillerplatz in Dresden: Die unbeachtete Rückseite ...

Schillerplatz in Dresden: Die unbeachtete Rückseite ...

Diese Ruinen sind allerdings erst in den letzten 20 Jahren entstanden.


Turmgeschichten aus der DDR (2)

1. Februar 2009

Wie Christian Hoffmann war ich Ende der achtziger Jahre bei der NVA, allerdings nur für 18 Monate Grundwehrdienst. Aber ein gepanzertes Fahrzeug musste ich auch fahren. Es war eine »Selbstfahrlafette« (SFL), heute würde man wohl »Feldhaubitze« sagen.

Auch mit meinem Fahrzeug hätte es um ein Haar ein Unglück gegeben. Eines Tages kam ein Gefechtsalarm und wir mussten die Gefechtsmaschinen starten, um zu einer Übung auszurücken. Ich war für die Maschine nicht verantwortlich, ich war als Soldat nur Ersatzfahrer. Die Maschine war jedenfalls schlecht gewartet oder repariert worden. Auf freier Straße versagte plötzlich die Lenkung.

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