Der Pulsschlag der Statistik

In einem Blog des Robert-Koch-Instituts wird unter dem Titel »Der Puls der Nation« eine Karte mit dem durchschnittlichen Ruhepuls in Landkreisen und Städten veröffentlicht. Es wird unter anderem folgendes behauptet:

Ruhepuls in Deutschland: ca. 61,17 Schläge pro Minute

Das darf man mit sehr guten Gründen bezweifeln. Die Messung der Daten erfolgt mit Fitness-Armbändern, die in ihrer modernsten Generation in professionellen Tests einen Fehler von mindestens 5 % aufweisen. Ältere Geräte sind noch ungenauer.

Dazu kommt, dass die Geräte nicht im professionellen Testbetrieb messen, sondern im täglichen Leben. Die durchschnittliche Abweichung wird also deutlich über 5% liegen.

Doch selbst unter optimalen Messbedingungen mit modernsten Fitnessarmbändern wäre die Aussage »Der Ruhepuls in Deutschland beträgt ca. 61,17 Schläge pro Minute« nicht richtig. Erstens vermittelt die Angabe die sprichwörtliche »Illusion der Präzision«. Zweitens geht es nicht um die Deutschen, sondern allenfalls um die Probanden, deren Daten auswertbar waren.

Unter den realen Bedingungen dieser Datenerhebung ist die Aussage noch weniger wert. Richtig wäre: Der mittlere Ruhepuls der Probanden liegt irgendwo in der Nähe von 62 Schlägen pro Minute – vielleicht sind es aber auch 56 oder 68 Schläge pro Minute.


Die Autoren schränken unter ihrer vollmundigen Aussage zum mittleren deutschen Ruhepuls von 61,17 Schlägen pro Minute großzügig ein:

Hierbei muss man natürlich berücksichtigen, dass die Gemeinschaft der Spender:innen nicht repräsentativ für alle Bürger:innen ist.

und stellen dann über ihrer Karte eine zweite Behauptung auf:

Die folgende Karte zeigt den durchschnittlichen Ruhepuls in allen deutschen Stadt- und Landkreisen – berechnet aus den über mehrere Wochen gemittelten Daten der Spender:innen in dem jeweiligen Stadt- bzw. Landkreis.

Wenn die Daten für Deutschland nicht repräsentativ sind, dann sind sie es erst recht nicht für einzelne Landkreise und Städte. Die Verteilung der Probanden ist zudem sehr unterschiedlich. In manchen Regionen haben sich weit weniger als zwei von tausend Menschen beteiligt, in anderen Regionen fast elf von tausend Menschen. Trotzdem behaupten die Autoren:

In dieser Karte wird sichtbar, dass der landkreisgemittelte Ruhepuls regional unterschiedlich ist. Die Unterschiede sind klein, aber systematisch und nicht zufällig. Zum Beispiel ist der mittlere Ruhepuls in urbanen Landkreisen systematisch niedriger als in ländlichen Gebieten. Wir sehen auch im Osten Deutschlands tendenziell höhere Werte in der Fläche.

Die Werte schwanken laut Karte zwischen 60 und 65 Schlägen pro Minute, der Mittelwert der erhobenen Werte soll laut RKI-Angaben bei etwa 61 Schlägen pro Minute liegen. Berücksichtigt man die Fehlerquote der Messwerte, stellt man fest: Dieser Unterschied zwischen 60 und 65 Schlägen pro Minute sagt gar nichts aus.


Die Probanden haben sich selbst ausgewählt. Eine Verteilung über die Geschlechter, Altersgruppen und sozialen Milieus wurde vom RKI nicht offengelegt. Ebensowenig eine Verteilung anhand des Gesundheitszustands. Wir können anhand des Mittelwerts nur vermuten, dass die meisten Probanden mit Fitnesstracker im Schnitt mittleren Alters und gesundheitsbewusster als der Durchschnitt sind.

Denn der medizinisch bekannte Normalwert des Ruhepulses steigt im Alter wieder an und liegt bei Senioren (der Risikogruppe für schwere Corona-Fälle) bei 80 Schlägen je Minute. Auch bei Erwachsenen zwischen dem jungen Erwachsenenalter und dem Eintritt ins Seniorenalter liegt er bei 70 Schlägen pro Minute.

Fazit: Die Darstellung auf der Karte zeigt also die Verteilung eines ungenau gemessenen Wertes, der bei sehr unregelmäßig verteilten Probanden gemessen wurde. Die Aussagekraft ist schon für die Probanden nahe Null, für die Bevölkerung der Landkreise und Städte erst recht.


Die Autoren des RKI-Blogs behaupten, dass man an einem regional gehäuft erhöhten Ruhepuls erkennen könne, wo die Pandemie wieder verstärkt ausbricht: Corona führe zu Fieber, Fieber könnte zu höherem Puls führen, den höheren Puls könne man anhand der Daten erkennen.

Wenn man sich aber überlegt, was noch alles zu Fieber führen und einen höheren Ruhepuls auslösen kann, scheint diese Idee ziemlich verwegen. Es gibt neben Corona etliche Ursachen für Fieber, es gibt neben Fieber auch etliche Ursachen für einen veränderten Ruhepuls.

Wenn jemand schwere Corona-Symptome bekommt, dann sollte er wohl besser gleich beim Gesundheitsamt anrufen. Und bei der lokalen Corona-Ambulanz. Die registrieren ihn dann auch.


Quellen:

Verteilung der Probanden laut RKI in: https://corona-datenspende.de/science/reports/users/
[Abruf am 08.05.2020, 21.00Uhr]

Der Puls der Nation: https://corona-datenspende.de/science/reports/pulse/
[Abruf am 08.05.2020, 21.00Uhr]

2 Responses to Der Pulsschlag der Statistik

  1. luisman sagt:

    Ja, mit Statistiken Schindluder zu treiben scheint ein neuer Volkssport zu sein.

    • Das traurige ist, dass diese Spezialisten (in Immunologie & Modellierung) es nicht für nötig halten Spezialisten für representative Erhebungen einzubeziehen. Das sind ja alles Anfängerfehler. Wobei die „ca. 61,17 Schläge pro Minute“ für den genannten Zweck als absolute Zahl unwichtig sind, nur die Veränderung zu den Vorperioden interessiert. Vielleicht sollte man dann allerdings die Bezeichnung oder Darstellung ändern :)

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