Der Pulsschlag der Statistik

8. Mai 2020

In einem Blog des Robert-Koch-Instituts wird unter dem Titel »Der Puls der Nation« eine Karte mit dem durchschnittlichen Ruhepuls in Landkreisen und Städten veröffentlicht. Es wird unter anderem folgendes behauptet:

Ruhepuls in Deutschland: ca. 61,17 Schläge pro Minute

Das darf man mit sehr guten Gründen bezweifeln. Die Messung der Daten erfolgt mit Fitness-Armbändern, die in ihrer modernsten Generation in professionellen Tests einen Fehler von mindestens 5 % aufweisen. Ältere Geräte sind noch ungenauer.

Dazu kommt, dass die Geräte nicht im professionellen Testbetrieb messen, sondern im täglichen Leben. Die durchschnittliche Abweichung wird also deutlich über 5% liegen.

Doch selbst unter optimalen Messbedingungen mit modernsten Fitnessarmbändern wäre die Aussage »Der Ruhepuls in Deutschland beträgt ca. 61,17 Schläge pro Minute« nicht richtig. Erstens vermittelt die Angabe die sprichwörtliche »Illusion der Präzision«. Zweitens geht es nicht um die Deutschen, sondern allenfalls um die Probanden, deren Daten auswertbar waren.

Unter den realen Bedingungen dieser Datenerhebung ist die Aussage noch weniger wert. Richtig wäre: Der mittlere Ruhepuls der Probanden liegt irgendwo in der Nähe von 62 Schlägen pro Minute – vielleicht sind es aber auch 56 oder 68 Schläge pro Minute.


Die Autoren schränken unter ihrer vollmundigen Aussage zum mittleren deutschen Ruhepuls von 61,17 Schlägen pro Minute großzügig ein:

Hierbei muss man natürlich berücksichtigen, dass die Gemeinschaft der Spender:innen nicht repräsentativ für alle Bürger:innen ist.

und stellen dann über ihrer Karte eine zweite Behauptung auf:

Die folgende Karte zeigt den durchschnittlichen Ruhepuls in allen deutschen Stadt- und Landkreisen – berechnet aus den über mehrere Wochen gemittelten Daten der Spender:innen in dem jeweiligen Stadt- bzw. Landkreis.

Wenn die Daten für Deutschland nicht repräsentativ sind, dann sind sie es erst recht nicht für einzelne Landkreise und Städte. Die Verteilung der Probanden ist zudem sehr unterschiedlich. In manchen Regionen haben sich weit weniger als zwei von tausend Menschen beteiligt, in anderen Regionen fast elf von tausend Menschen. Trotzdem behaupten die Autoren:

In dieser Karte wird sichtbar, dass der landkreisgemittelte Ruhepuls regional unterschiedlich ist. Die Unterschiede sind klein, aber systematisch und nicht zufällig. Zum Beispiel ist der mittlere Ruhepuls in urbanen Landkreisen systematisch niedriger als in ländlichen Gebieten. Wir sehen auch im Osten Deutschlands tendenziell höhere Werte in der Fläche.

Die Werte schwanken laut Karte zwischen 60 und 65 Schlägen pro Minute, der Mittelwert der erhobenen Werte soll laut RKI-Angaben bei etwa 61 Schlägen pro Minute liegen. Berücksichtigt man die Fehlerquote der Messwerte, stellt man fest: Dieser Unterschied zwischen 60 und 65 Schlägen pro Minute sagt gar nichts aus.


Die Probanden haben sich selbst ausgewählt. Eine Verteilung über die Geschlechter, Altersgruppen und sozialen Milieus wurde vom RKI nicht offengelegt. Ebensowenig eine Verteilung anhand des Gesundheitszustands. Wir können anhand des Mittelwerts nur vermuten, dass die meisten Probanden mit Fitnesstracker im Schnitt mittleren Alters und gesundheitsbewusster als der Durchschnitt sind.

Denn der medizinisch bekannte Normalwert des Ruhepulses steigt im Alter wieder an und liegt bei Senioren (der Risikogruppe für schwere Corona-Fälle) bei 80 Schlägen je Minute. Auch bei Erwachsenen zwischen dem jungen Erwachsenenalter und dem Eintritt ins Seniorenalter liegt er bei 70 Schlägen pro Minute.

Fazit: Die Darstellung auf der Karte zeigt also die Verteilung eines ungenau gemessenen Wertes, der bei sehr unregelmäßig verteilten Probanden gemessen wurde. Die Aussagekraft ist schon für die Probanden nahe Null, für die Bevölkerung der Landkreise und Städte erst recht.


Die Autoren des RKI-Blogs behaupten, dass man an einem regional gehäuft erhöhten Ruhepuls erkennen könne, wo die Pandemie wieder verstärkt ausbricht: Corona führe zu Fieber, Fieber könnte zu höherem Puls führen, den höheren Puls könne man anhand der Daten erkennen.

Wenn man sich aber überlegt, was noch alles zu Fieber führen und einen höheren Ruhepuls auslösen kann, scheint diese Idee ziemlich verwegen. Es gibt neben Corona etliche Ursachen für Fieber, es gibt neben Fieber auch etliche Ursachen für einen veränderten Ruhepuls.

Wenn jemand schwere Corona-Symptome bekommt, dann sollte er wohl besser gleich beim Gesundheitsamt anrufen. Und bei der lokalen Corona-Ambulanz. Die registrieren ihn dann auch.


Quellen:

Verteilung der Probanden laut RKI in: https://corona-datenspende.de/science/reports/users/
[Abruf am 08.05.2020, 21.00Uhr]

Der Puls der Nation: https://corona-datenspende.de/science/reports/pulse/
[Abruf am 08.05.2020, 21.00Uhr]


Viel Alkohol und wenig verlässliche Zahlen

10. April 2020

Anfang April machte eine Pressemitteilung die Runde, in der die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) auf den Alkoholkonsum der Deutschen im vorletzten Jahr einging.

Viele Medien übernahmen diese Pressemitteilung sinngemäß, manche schmückten die Angaben noch mit einer zuspitzenden Überschrift aus. Niemand hinterfragte, wie die Zahlen zustande gekommen sind. Der Deutschlandfunk titelte und berichtete so:

»Die Deutschen konsumieren im Schnitt eine Badewanne voll Bier, Wein und Spirituosen«

Der Gesamtverbrauch an alkoholischen Getränken in Deutschland stieg im Jahr 2018 um 0,3 auf 131,3 Liter je Einwohner. Diese Menge entspreche in etwa einer Badewanne an Bier, Wein, Schaumwein und Spirituosen, heißt es. [Quelle DLF-Nachrichten und Quelle der Pressemitteilung]

Der Deutschlandfunk hält sich dabei eng an die Pressemitteilung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. Auch die zuspitzende Schlagzeile geht auf diese Pressemitteilung zurück. Eigentlich hätte die DHS die Nachricht gleich selbst schreiben können.

Öffentlich-rechtliche Medien sind aber nicht dazu da, die Pressemitteilungen von Interessenverbänden, Parteien oder Unternehmen zu verbreiten. Sie sollen Informationen prüfen und einordnen.

Die in den Schlagzeilen verbreitete Zahl ist falsch und nutzlos. Sie ist falsch, weil sie eine fatale Illusion der Präzision vermittelt – die zugrundeliegenden Daten sind bei weitem nicht so sicher. Sie ist nutzlos, weil sie dem Problem der Alkoholgefährdung nicht ansatzweise gerecht wird.


Eine falsche Bezugsgröße …

Die Urheber der Statistik rechnen mit einer sehr groben Schätzung der Alkoholmenge und beziehen sie dann auf 82 Millionen Menschen. Aber Kinder trinken gar keinen Alkohol. Ein Teil der Jugendlichen und Erwachsenen trinkt keinen oder sehr wenig Alkohol. Die Bezugsgröße 82 Millionen Menschen ist also mit Sicherheit nicht richtig. Der Alkoholkonsum verteilt sich auf einige Millionen Menschen weniger.

… und eine falsche Gesamtmenge alkoholischer Getränke …

Als nächstes soll gezeigt werden, warum auch die Menge des getrunkenen Alkohols nur sehr grob geschätzt werden kann.

Die am 08.04.2020 veröffentlichten Zahlen stammen vom Bundesverband der Deutschen Spirituosen-Industrie und -Importeure e. V. (BSI). Sie beziehen sich auf das Jahr 2018. Grundlage ist die importierte oder in Deutschland erzeugte Menge alkoholischer Getränke. Der Export wird ebenfalls berücksichtigt, so dass der BSI jeweils auf einen bestimmtem Jahresverbrauch an Bier, Spirituosen, Wein und Schaumwein kommt.

Die reine abgegebene Menge an alkoholischen Getränken ist aus den Verbandsangaben näherungsweise bekannt. Sie wird aber nicht nur von Bundesbürgern konsumiert. Sie wird auch von ausländischen Touristen und Geschäftsreisenden getrunken – ebenso trinken Bundesbürger im Ausland als Touristen und Geschäftsreisende Alkohol.

Der Verbrauch von Alkohol bei der Herstellung von Lebensmitteln in der Wirtschaft und in den Haushalten (etwa Likör zum Backen oder Wein für feine Saucen) ist ebenfalls nicht berücksichtigt.

… ergeben eine nutzlose Kennzahl!

Für Bier gibt der Verband als Gesamtangebot auf dem Markt eine Menge von umgerechnet 17.008.000.000 Flaschen zu je einem halben Liter an. Diese Gesamtmenge an Bier wird durch alle 82 Millionen Bundesbürger geteilt und man erhält rund 102 Liter Pro-Kopf-Verbrauch allein an Bier.

In ähnlicher Form wird auch der Pro-Kopf-Verbrauch für Wein, Spirituosen und Schaumwein berechnet. Die Summe dieser Pro-Kopf-Verbräuche beträgt 131,3 Liter pro Kopf – auch wenn man sich die Mischung als sehr unappetitlich und die Addition so unterschiedlicher Getränke als ziemlich nutzlos vorstellen muss.

In dem veröffentlichten Pro-Kopf-Verbrauch von 131,3 Litern stecken also zwei große Unsicherheiten: Die von Bundesbürgern getrunkene Menge an alkoholischen Getränken und die Anzahl der Alkohol trinkenden Bundesbürger. Wenn man im Zähler und im Nenner so große Unsicherheiten hat, dann ist gesamte Kennzahl grober Unfug und die Illusion der Präzision kommt noch hinzu.


Selbst wenn der Pro-Kopf-Verbrauch alkoholischer Getränke exakt zu berechnen wäre: Diese Kennzahl ist schon von Natur aus nicht hilfreich bei der Alkoholprävention. Denn die Anzahl der Menschen mit Alkoholabhängigkeit und Alkoholmissbrauch wird auf etwa 3 Millionen Menschen geschätzt. Die restlichen Bundesbürger trinken entweder gar keinen Alkohol oder sie trinken ihn nur in Maßen.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) ist ein Zusammenschluss der in der Suchthilfe und Suchtprävention tätigen Verbände. Sie ist also keine staatliche Einrichtung, sondern eine Interessenvertretung. Es ist aus Sicht der Interessenvertretung natürlich sehr willkommen, dass die Medien ihre Zahlen ungeprüft übernehmen und an die Medienkonsumenten weitergeben. Aufgabe der Medien wäre aber eigentlich das Einordnen und Hinterfragen der Zahlen.


Quellen:

Zahlen des Bundesverbands der Deutschen Spirituosen-Industrie und -Importeure e. V. (BSI)

Zahlen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen


Ergänzung [11.04.2020]: In ihrer Pressemitteilung gibt die DHS auch einen Verbrauch an reinem Alkohol an:

»10,5 Liter Reinalkohol trank jede/-r Bundesbürger/-in im Alter ab 15 Jahren …«

Wie kommt diese Zahl zustande? Der BSI veröffentlicht die Mengen an reinem Alkohol aufgrund einer groben Schätzung. Man nimmt einfach an, dass Spirituosen im Schnitt 33,0 %, Wein 11,0 %, Schaumwein 11,0 % und Bier 4,8 % enthalten.

Auf der Grundlage unsicherer Durchschnittswerte kommt der BSI aus den oben beschriebenen unsicheren Pro-Kopf-Verbrauchszahlen auf einen Gesamtverbrauch an reinem Alkohol pro Kopf. Dieser bezieht sich aber wieder auf alle Bundesbürger.

Die DHS hat nun offensichtlich einen Dreisatz angewendet und ausgerechnet, wie sich dieser Pro-Kopf-Verbrauch auf alle Bundesürger ab 15 Jahren verteilen würde. Hier werden also ohnehin grobe Annahmen noch einmal vergröbert.



Was ein Artikel über die Einnahmen weiblicher und männlicher Influencer nicht aussagt

18. Januar 2020

Der Deutschlandfunk hat eine Meldung über die Einnahmen weiblicher und männlicher Influencer in seine Nachrichten aufgenommen und schon die Überschrift gibt zu denken:

Auch Influencerinnen verdienen offenbar deutlich weniger Geld als Influencer

Wenn ich in einer Meldung in den Medien auf das Wort »offenbar« stoße, bin ich immer gewarnt: Journalisten verwenden »offenbar« meist dann, wenn sie sich selbst nicht sicher sind oder wenn sie etwas kolportieren wollen. In manchen Medien wird »offenbar« auch verwendet, wenn eine Information ins Bild passt, aber keine belastbare Quelle genannt werden kann.

Der Deutschlandfunk gibt als Quelle seines Artikels ein »Analyse-Unternehmen« mamens HypeAuditor an. Dieses Unternehmen hat bis heute keinen Eintrag in der englischsprachigen Wikipedia. Es scheint mir auch nicht als Quelle zitierfähig zu sein, denn es fehlen grundlegende Angaben zur Methodik der Erhebung.


HypeAuditor hat in einer Online-Umfrage diverse Influencerinnen und Influencer danach gefragt, wie viel Geld sie für einen Post oder eine Story auf Instagram bekommen. Nach den dort veröffentlichten Angaben haben sich 1.600 Influencer bzw. Influencerinnen aus 40 Ländern beteiligt, aber es liegt keine Angabe über die Gesamtzahl aller Influencerinnen und Influencer in diesen Ländern vor. Wir wissen also nicht, wie viel Prozent aller Influencer sich beteiligt haben.

Es ist auch nicht bekannt, wann die Umfrage stattgefunden hat und wer auf welchem Weg davon erfahren hat. Auch von einer Kontrolle, einem Identitätsnachweis oder einer Plausibilitätsprüfung der Angaben steht nichts in dem Artikel. Grundsätzlich sind Umfragen mit einer Selbst-Selektion der befragten Gruppe als wenig repräsentativ einzustufen.

Unter den Befragten haben sich 69 % als weiblich und 31 % als männlich eingetragen. HypeAuditor geht aber selbst davon aus, dass Frauen und Männer unter den Influencern zu gleichen Teilen vertreten seien. In diesem Sinne kann die Online-Umfrage also nicht repräsentativ sein. Wenn schon insgesamt mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer teilgenommen haben, verbieten sich alle weiteren Vergleiche eigentlich von selbst.

HypeAuditor teilt die Befragten in vier Kategorien ein: Mega-Influencer mit mehr als einer Million Followern, Macro-Influencer mit (100.000 bis 1 Million Followern sowie zwei weitere Gruppen mit 20.000 bis 100.000 bzw. 5.000 bis 20.000 Followern. Wie sich die 1.600 Teilnehmer der Online-Umfrage auf die Gruppen verteilen, wurde nicht veröffentlicht. In einer seriösen Studie würden wir es erfahren.


Über diese riesige Bandbreite (Influencer von 5.000 bis über eine Million Follower) wird in dem Artikel ein Durchschnittspreis pro Post veröffentlicht: 1411 Dollar für Männer und 1315 für Frauen. Dieser Wert ist kaum aussagekräftig: Wir wissen, dass der arithmetische Mittelwert je nach Verteilung sehr leicht verzerrt werden kann. Ein einziger Großverdiener kann den Durchschnittswert für alle Männer nach oben ziehen, während fast alle anderen unter dem Durchschnitt liegen.

Aus den oben beschriebenen Mängeln gibt es nur eine logische Schlussfolgerung: Rückschlüsse auf Teilgruppen (etwa auf die beiden Durchschnittswerte für Frauen und Männer in einer der vier Kategorien) verbieten sich von selbst. Wir wissen nichts über die Verteilung der Männer und Frauen auf die Kategorien, wir haben nur einen statistisch kaum aussagekräftigen Durchschnittswert pro Kategorie und Geschlecht.

Wie müsste man es richtig machen? Man müsste eine statistisch repräsentative Stichprobe für jeweils weibliche und männliche Influencer auswählen und seriöse Angaben über ihre Jahreseinnahmen erheben. Daraus würde man die Medianwerte (nicht die Durchschnittswerte!) ermitteln. Dann könnte man mit Vergleichen beginnen.


Der Deutschlandfunk nimmt nun diese äußerst zweifelhaften Zahlen und sucht sich auch noch diejenigen heraus, mit denen er die größten Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Influencern zeigen will.

Bereits vor dem DLF-Artikel gab es also schon zwei Fehler: Erstens einen Auswahlfehler, weil diese Studie methodisch nichts taugt. Und zweitens einen Beurteilungsfehler, weil die HypeAuditor-Studie nicht richtig verstanden wurde. Der dritte Fehler ist ein journalistischer Fehler. Wenn man selbst merkt

Ob die Zahlen repräsentativ sind, lässt sich aber nur schwer beurteilen, da sie auf einer Online-Umfrage beruhen.

dann gehört der Artikel nicht in den DLF, sondern in den Papierkorb. Ganz tief. Dann kann man auf dieser Basis nicht argumentieren.

Hinweis: Mit diesem Fazit möchte ich ausdrücklich nicht das Gesamtprogramm des DLF beurteilen. Ich beziehe mich nur auf den Artikel über weibliche und männliche Influencer.


Quellen:

Artikel bei HypeAuditor

Artikel im Deutschlandfunk


Aktualisierung am 18.01.2020: Der Deutschlandfunk hat seinen Artikel intransparent geändert und einen Satz hinzugefügt.

Ob die Zahlen repräsentativ sind, lässt sich aber nur schwer beurteilen, da sie auf einer Online-Umfrage beruhen. 2019 kam allerdings eine Untersuchung von Klear zu einem ähnlichen Ergebnis. In der Branche kursieren zudem Zahlen …

Diese Untersuchung habe ich mir ebenfalls angesehen, man kann sie hier finden:

https://blog.klear.com/influencer-pricing-2019/

Um es kurz zusammenzufassen: Die zweite Quelle ist nicht besser als die erste. Die zweite Untersuchung hat genau dieselben methodischen Mängel wie die ursprünglich angeführte Untersuchung von HypeAuditor. Bei »Klear« haben sich sogar nur 23 % Männer und 77 % Frauen beteiligt. Deshalb ist die zweite Untersuchung in Bezug auf eine geschlechtsspezifische Auswertung noch untauglicher als die erste.


Zweite Ergänzung mit Dank an Frank: Die Tagesschau verbreitet die Meldung unter Berufung auf den Deutschlandfunk weiter. Man nennt das wohl Zitierkartell ;-)



Meinung und Hass

12. Januar 2020

Ein geflügeltes Wort in den politischen Diskussionen unserer Zeit ist »Hass ist keine Meinung«. Es wird oft von Politikern, Journalisten, Publizisten und Aktivisten verwendet, um sich von den Aussagen rechter Parteien abzugrenzen. Die Steigerungsform lautet: »Hass ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!«. Das Motiv ist in weiteren Varianten verbreitet. So twitterte heute die Journalistin Nicole Diekmann:

Merke: Leute, die kein Interesse haben an Diskurs, nennen die Beleidigungen, die sie hier verbreiten, »Kritik«. Und Kritik daran »Zensur«. [Tweet]

Und ich konnte es nicht lassen, diese Aussage umzukehren:

Merke: Leute, die kein Interesse haben am Diskurs, nennen die Kritik, die sie empfangen, »Beleidigung«. Und Kritik daran »Hetze«.

Wer die aktuelle Diskussion um die öffentlich-rechtlichen Sender in den sozialen Netzwerken verfolgt, wird beide Seiten bestätigt finden: In den Redaktionen von ARD und ZDF fühlt man sich zu Unrecht kritisiert und empfindet Hass. An den mobilen Endgeräten vieler Beitragszahler fühlt man sich zu Unrecht als rechtsradikaler Hassverbreiter abqualifiziert.

Die nächste Drehung der Eskalationsspirale führt dann endgültig zu einer Spaltung in Schwarz und Weiß: Der Sender WDR rahmt die Kritik an einem Video als rechtsradikale Aktion und delegitimiert damit indirekt auch jede sachliche Kritik. Die Kritiker verschärfen ihrerseits den Ton und stellen die Integrität des WDR in Frage.

Rechtsradikale Demonstranten erkennen und instrumentalisieren die Situation. Sie stellen sich vor Sendeanstalten der ARD und ihre Forderung lautet übersetzt: »Was wir als ›Lügenpresse‹ etikettieren, soll nicht mehr senden dürfen.« Ein AfD-Vertreter versteigt sich vor dem SWR zu der Drohung, man werde die SWR-Mitarbeiter aus ihren Redaktionsstuben vertreiben. Ironischerweise bestärkt das nun wieder die Anwender des Spruchs »Hass ist keine Meinung« …


Eine eher seltene Antwort auf »Hass ist keine Meinung« ist die Umkehrung: »Meinung ist kein Hass«. Diese Umkehrung wird von Libertären und Liberalen verwendet. Bezogen auf die Kommunikation soll das aussagen: Was die Adressaten als Hass empfinden, kann für den Sender eine legitime Meinung sein.

Bezogen auf die Gesellschaft: Das Grundgesetz und die Verfassungen anderer freier Staaten garantieren ein Recht auf weitgehende Meinungsäußerung. Die Strafgesetze verbieten nur sehr spezielle Meinungsäußerungen, die möglicherweise durch Hass motiviert sind. Exakt müsste es also heißen »Strafbare Äußerungen sind keine Meinung.«

Die Aussage »Hass ist keine Meinung« kann dagegen in vielen Anwendungsfällen übersetzt werden in »Was ich als Hass definiere, soll nicht verbreitet werden dürfen!«. Der Absolutheitsanspruch der Aussage »Hass ist keine Meinung« und die gleichzeitige Anmaßung der Deutungshoheit über den Tatbestand »Hass« müssen notwendigerweise jede konstruktive Debatte abwürgen.

Fazit: Ich plädiere gegen die Anwendung des Spruchs »Hass ist keine Meinung«: Er ist sehr anfällig für Missbrauch, er kann Debatten abwürgen, er kann die Politik zu unangemessenen Einschränkungen der Meinungsfreiheit verleiten. Wer strafbare Äußerungen von legitimer Meinungsäußerung abgrenzen will, findet in unserer reichen Sprache bessere Ausdrucksmöglichkeiten.



Über die Erregung öffentlicher Ergüsse

8. Januar 2020

Ich bitte im Voraus um Verständnis, dass ich heute mit dem Erreichen von Peak #Omagate etwas sarkastisch werden muss. Aber anders lässt sich das nicht mehr aushalten.

Mit einer gewissen Verzögerung hat sich Sascha Lobo in seiner heutigen Kolumne zu den Vorgängen rund um #Omagate und Connewitz zu Wort gemeldet. Er prägt darin den Begriff »Praecox-News« oder »Vorzeitiger Nachrichtenerguss«. Nun ist – um das etwas feuchte Bild auch zu verwenden – ein verzögerter Erguss sicher besser als ein vorzeitiger. Aber ist Sascha Lobos Kolumne auch inhaltsreicher?

Eigentlich stand ja das Urteil der meisten Medien ja schon fest: Die bösen Rechten haben das #Omagate organisiert und die böse BILD hat die Erregung noch verstärkt.

Um das Narrativ von der Erregungswelle der bösen Rechten zu stützen, engagierte der WDR zwei Aktivisten Analysten und ließ sie zu dem gewünschten Ergebnis kommen. Bereits vorher hat der SPIEGEL etwas Ähnliches versucht und die beiden Autorinnen hatten nicht unbedingt Glück mit ihrer Beweisführung. Sascha Lobo hat es klugerweise vermieden, diese Ergüsse zu erwähnen. Er schreibt:

Die #Umweltsau ist überhaupt nur groß geworden, weil NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und die »Bild«-Zeitung auf den Zug der Empörung aufgesprungen sind. Der wiederum von Rechten angeschoben oder initiiert worden sein mag – an dem sich aber schon kurze Zeit später eine Vielzahl verschiedener Leute mit unterschiedlichem politischen Hintergrund beteiligt hat.

Mit dem Link in seinem Text ruft er Martin Hoffmann als Experten auf, der uns in einem betont sachlichen und analytischen Thread dankenswerterweise beschrieben hat, wie #Omagate überhaupt entstanden ist. Kostprobe:

Denn kurz darauf kriechen die ersten (meist rechten) Twitterer aus ihren Löchern und kritisieren den Auslöser in drastischen Worten. Sie greifen dabei oft zu Beleidigungen und schiefen, aber drastischen Vergleichen – und setzen damit den Ton für die weitere Debatte.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir kann man ja mit diesem Tiervergleich »aus den Löchern kriechen« nahezu jedes schiefe Argument verkaufen. An einer anderen Stelle seiner Twitter-Expertise postuliert Martin Hoffmann:

»Spätestens jetzt steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ganz gezielt rechtes Astroturfing über Telegram, Discord & Co. organisiert wird.«

Und wer braucht schon Belege, wenn er Wahrscheinlichkeiten haben kann? – Es entbehrt nicht einer gewisse Ironie, dass sich Sascha Lobo gleichzeitig gegen vorzeitige Erregungsergüsse positioniert und solche Meinungsäußerungen verlinkt. Damit haben wir nun aber endgültig Peak #Omagate erreicht und können uns wichtigeren Dingen zuwenden.



Medienkritik bedeutet nicht Medienzerstörung

6. Januar 2020

Oma-Song und WDR: Welchen Sinn hatten diese beiden Artikel?

Wer meine ersten beiden Artikel des Jahres 2020 gelesen hat, mag sich die Frage nach der Motivation stellen. Will dieser Autor dem öffentlich-rechtlichen WDR schaden? Will er den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen? Will er die Zahlung seines Rundfunkbeitrags verweigern oder ruft er gar dazu auf?

Zuerst zu meiner fachlichen Motivation. Ich habe mich mit diesen beiden »Datenanalysen« befasst, um die sehr engen Grenzen solcher Methoden zu zeigen – um nicht zusagen: deren Untauglichkeit. Damit stehe ich nicht allein. Die beiden Analysen eines angeblich rechtsradikal gesteuerten Shitstorms sind nach allen bisher bekannten Informationen methodisch nicht haltbar und widersprechen einander:

Der SPON-Artikel kommt zu dem Ergebnis, dass etwas mehr als die Hälfte der Tweets zum Thema #Umweltsau aus dem politisch rechten Lager gekommen sein sollen und folglich etwas weniger als die Hälfte nicht aus dem rechten Lager kam. Der WDR-Beitrag benennt neben einer angeblich orchestrierten Kampagne von »Rechts« gar keine nicht-rechten Anteile. Das ist ein gravierender Widerspruch, beides kann nicht gleichzeitig stimmen.

Wenn mit derart unplausiblen und widersprüchlichen Zahlen Stimmung oder gar Politik gemacht werden soll, werde ich hellhörig und schaue genauer hin. Ich habe diese Artikel nicht geschrieben, weil ich ein Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder ein Konkurrent der Datenexperten wäre. Ich habe sie geschrieben, weil mir als Bürger, Steuerzahler und Beitragszahler die Wahrheit wichtig ist.

Und ich habe sie geschrieben, weil ich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erhalten will. 1989 war ich bei denen, die der SED »Wir bleiben hier!« entgegengerufen haben. 2020 bin ich bei denen, die dem #cancelWDR ein #reformWDR entgegensetzen.


Nur Qualität und Ausgewogenheit bringen eine höhere Akzeptanz

Ich will den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht abschaffen. Ich will eine organisatorische Reform, eine Verbesserung der Qualität und eine Verschlankung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es ist klar, dass dafür mindestens ein Jahrzehnt angesetzt werden muss.

Der neue öffentlich-rechtlichen Rundfunk sollte sich auf die Kernaufgaben Information, Allgemeinbildung, politische Bildung und Kultur konzentrieren und beschränken. In mancher Hinsicht kann dafür das Informationsprogramm des Deutschlandfunks als Muster dienen. Die Reform muss mit einer Qualitätsoffensive verbunden sein.

ARD und ZDF werden zur Zeit hart dafür kritisiert, dass in den Kommentaren kaum konservative und liberale Inhalte vorkommen, während linke und grüne Themen überproportional vertreten sind. Im Zweifel wird in den ARD-Nachrichtensendungen also eher für Verbote im Sinne der Grünen oder für Abgabenerhöhungen im Sinne der Roten plädiert. Die Berichte vom Parteitag der Grünen sind viel wohlwollender als vom Parteitag der FDP.

Fairness und Ausgewogenheit des politischen Informationsangebots müssen also sichergestellt und die Kriterien der Ausgewogenheit müssen transparent gemacht werden.


Rundfunkräte und Mitbestimmung

Das öffentlich-rechtliche Kernangebot muss einer professionellen Qualitätskontrolle unterliegen. Selbstverständlich sind Redaktionen frei in ihrer journalistischen Arbeit, aber selbstverständlich sind sie auch nicht immun gegen Kritik.

Ich könnte mir eine Art Presserat für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorstellen, der bei Anfragen oder Beschwerden nach rein professionellen Gesichtspunkten urteilt und seine Entscheidungen veröffentlicht. Dann würde auch eine Entscheidung wie im Fall #Umweltsau auf höhere Akzeptanz stoßen.

Die Rundfunkräte können durch Bürgerversammlungen nach dem Muster Irlands ersetzt werden und so könnte auch der Reformprozess mitbestimmt werden. Woher kommt die Idee? Als man sich in Irland in der ethisch und moralisch hochkomplexen Frage des Abtreibungsrechts nicht auf ein Verfahren einigen konnte, wurde eine per Losverfahren bestimmte repräsentative Bürgerversammlung einberufen. Sie hörte sich Expertinnen und Experten an und traf dann eine Entscheidung, nach der sich das Parlament gerichtet hat. Am Ende stand ein Volksentscheid.


Die eine Hälfte verbessern, die andere Hälfte privatisieren

Die Bereiche Information, Allgemeinbildung, politische Bildung und Kultur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks würde ich also refomieren, erhalten und mit guter Ausstattung weiterführen.

Die Bereiche Unterhaltung, Filme/Serien und Sport können dagegen problemlos privatisiert werden. Es gibt keinen Grund dafür, diese Bereiche mit zwangsweise erhobenen Beiträgen der Bürger zu finanzieren, zumal die Belastungen aus der Energiewende und der Kranken- und Pflegeversicherung absehbar steigen werden.

Die unterhaltenden Bereiche der öffentlich-rechtlichen Sender können an die Börse gebracht oder an Investoren verkauft werden. Über einen Zeitraum von zehn bis zwölf Jahren kann der Rundfunkbeitrag so schrittweise halbiert werden.

Wenn der Rundfunkbeitrag nach der Reform und nach der Privatisierung von »Traumschiff«, »Degeto«-Filmen, Schlager- und Volksmusik-Shows, Krimiserien oder Fußballübertragungen jedes Jahr um einige Prozent sinken sollte, würde ich mich darüber freuen.

Der finanzielle Aspekt kommt für mich aber immer erst nach dem Inhalt. Eine Reform sollte aus meiner Sicht nicht zuerst unter der Prämisse »Zwangsbeitrag abschaffen!« oder »Zwangsbeitrag halbieren!« stattfinden. Der in zehn Jahren verbleibende Beitrag sollte mit hoher Qualität gerechtfertigt werden.

Die Teilprivatisierung wäre auch eine soziale Lösung: Mit Beitragsgeld würde nur noch das finanziert, was man als neue Kernaufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks definiert hätte.


Hinweis: Dieser Artikel steht unter einer CC-BY-Lizenz 3.0 (Namensnennung und Verweis per URL auf das Original) und kann in jeder Form in anderen Publikationen verwendet werden, auch in kommerzieller Art und Weise.



WDR: Eine Datenanalyse in eigener Sache dient dem Framing in eigener Sache

6. Januar 2020

Der WDR hat in seiner Sendung »Aktuelle Stunde« vom 04.01.2020 den Beitrag »Wie ein Shitstorm im Netz entsteht« gesendet. Darin sollen zwei Experten zeigen, wie es zur kontroversen Diskussion des #Omagate um die #Umweltsau kommen konnte.

[Videobeitrag des WDR, verfügbar bis 11.01.2020]

Dieser Beitrag ist unter zwei Aspekten zu betrachten: Wird er der Komplexität der Diskussion gerecht? Und: Anhand welcher Zahlen, Daten und Fakten wird dieser »Shitstorm« analysiert?


Der Ablauf des #Omagate wird in dem WDR-Beitrag so dargestellt, als ob es ausschließlich eine von Rechten oder Rechtsradikalen initiierte und geführte Diskussion gegeben hätte. Von »nicht-rechten« Beiträgen zur Diskussion ist im Beitrag vom 04.01.2020 (also wenige Tage nach #Omagate) keine Rede mehr. Hat es sie nie gegeben?

Der WDR hat sich dazu zwei Personen eingeladen: Einen Datenanalysten und einen Buchautor. Beide stellen die Twitter-Diskussion um #Omagate so dar, als ob sie ausschließlich von Personen aus der rechten/rechtsradikalen »Blase« initiiert worden sei.

Als Gegenbeweis könnten hier Tweets aus politisch anderen Lagern dienen: NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, SPD-Politikerin Sawsan Chebli und viele andere Beteiligte an der Debatte sind mit Sicherheit keine rechtsradikalen oder rechten Personen.

Wer die Diskussion verfolgt hat, weiß um deren Komplexität: Die Trennlinie zwischen Kritik und Zustimmung verlief nicht entlang der Grenzen des Links-Rechts-Schemas. Sie war auch nicht statisch. Sie hat sich im Verlauf der Debatte verschoben, je mehr es in eine Grundsatzdiskussion um den öffentlich-rechtlichen Sender überging.

Als der Shitstorm auf Twitter mit sehr vielen Tweets pro Stunde Fahrt aufnahm, war das Video schon zurückgezogen. Der WDR kann also gar nicht vor einem rechten oder rechtsradikalen Twitter-Shitstorm eingeknickt sein.

Es stellt sich also als erstes die Frage: Ist es jetzt die offizielle Linie des WDR, sämtliche Kritik an seinem Beitrag in die rechte Ecke zu schieben? Wenn der WDR diese Linie nicht verfolgt, dann sollte er den Beitrag zumindest ergänzen.


Und es stellt sich eine zweite Frage: Wird diese Behauptung eines rechten Shitstorms vom WDR wenigstens mit Zahlen, Daten und Fakten belegt? Die WDR-Ansage zu Beginn des Beitrags lautet ja »Philip Kreißel hat alle Tweets heruntergeladen und diesen Shitstorm ehrenamtlich ausgewertet.«

Das lässt darauf hoffen, dass wir nun endlich die lange erwartete fundierte Datenanalyse zu #Omagate bekommen werden. Diese Hoffnung wird schon nach sehr kurzer Zeit enttäuscht. Es gibt in dem WDR-Beitrag keinerlei Informationen

  1. zum Untersuchungszeitraum,
  2. zur Anzahl der untersuchten Tweets,
  3. zu den Auswahlkriterien für »rechte« Accounts,
  4. zu den Auswahlkriterien für »rechte« Tweets und
  5. zum Anteil der »rechten« und der nicht »rechten« Tweets.

Der WDR gibt folgende Behauptung wieder: »Nur etwa 500 Accounts waren laut Kreißel für die Hälfte der Interaktionen beim Twitter-Shitstorm verantwortlich.« Das lässt sich in keiner Weise prüfen, weil alle o. g. Informationen nicht offengelegt werden: Um wie viele Accounts und Tweets ging es insgesamt? Nach welchen wissenschaftlichen Kriterien und mit welcher sachlichen Berechtigung wurden diese 500 Accounts als »rechts« oder »rechtsradikal« eingestuft?

Wie ist der »Twitter-Shitstorm« zahlen- und datenmäßig erfasst worden? Welche Tweets zählten dazu? Weder der WDR noch die beiden Experten waren bis zum Morgen des 06.01.2020 auf Anfrage bereit, sich dazu zu äußern. Die einzige (und völlig unbefriedigende) Antwort des Datenanalysten finden sie hier. Zitat:

Grundsätzlich mache ich folgende Aussagen:
– Es waren zu Beginn primär rechte Accounts. Das mache ich fest daran, welche Dinge diese Accounts noch retweeten, z.b. Sellner, Arcadi, AfD etc.
– Es waren hochaktive Accounts. Dazu lasse ich mein Programm halt nachzählen.

Damit lässt sich die Behauptung nicht stützen, dass der #Omagate-Shitstorm in einer rechten Blase entstanden und geführt worden sein soll. Und eine nach wissenschaftlichen Kriterien seriöse Analyse lässt sich mit diesem Ansatz sicher nicht erarbeiten.

Während SPON in seinem Artikel wenigstens Informationen veröffentlicht hat, die man kritisch hinterfragen konnte, hat der WDR bisher nichts Verwendbares veröffentlicht. Ein Faktencheck ist anhand der Angaben nicht möglich.

Der WDR wäre als verantwortlicher Sender in der Pflicht, das Konzept und die Methoden sowie die Zahlen, Daten und Fakten bereitzustellen. Das Argument DSGVO/Datenschutz greift hier nicht: Es geht ausdrücklich nicht um die personenbezogene Daten hinter den rechten Accounts. Jeder untersuchte Tweet muss öffentlich gewesen sein, jeder untersuchte Account wendet sich an die Öffentlichkeit.


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Die Datenanalyse des SPIEGEL zur Umweltsau-Affäre

1. Januar 2020

In den Medien setzt sich zur Zeit die Erzählung durch, dass das Video »Umweltsau« vom WDR nach einer koordinierten Aktion rechtsradikaler Accounts zurückgezogen worden sei. Als Grundlage dieser Bewertung wird meist auf einen SPON-Artikel verwiesen. Ich möchte in diesem kurzen Artikel zeigen, dass die Datenauswertung des SPIEGEL diesen Schluss nicht hergibt.

Kritik an der Methode der Kategorisierung

Die Argumentation bei SPON lautet: 210.000 Tweets mit den Hashtags #Umweltsau oder #Nazisau seien von 44.000 Accounts gesendet worden. 23 Prozent der Accounts seien einem »eher rechten Cluster« zuzuordnen, 46 Prozent einem »eher linken Cluster« und 31 Prozent der Accounts konnten keinem der beiden Cluster zugeordnet werden.

SPON hat keinerlei Kriterien veröffentlicht, nach denen die Zuordnung zu den Kategorien »eher rechts«, »eher links« oder »nicht zuzuordnen« vorgenommen wurde. SPON hat auch nicht erhoben, welche Tendenz diese Tweets inhaltlich hatten. Es geht also um eine rein quantitative Erhebung mit nicht nachvollziehbarer Kategorisierung.

Für die Leserin oder den Leser des SPON-Artikels ist nicht nachzuvollziehen, wie die Einstufung als »eher rechts« erfolgte. Erst recht wird nicht qualitativ nachgewiesen, wie viele Accounts in diesem Cluster tatsächlich rechtsradikal organisiert sind. Das wäre aber notwendig, um die These vom Einknicken infolge eines rechtsradikalen Shitstorms zu stützen. Es gibt bekanntlich keine Prüfstelle für die politische Einstufung von Social-Media-Accounts und das ist auch gut so.

Selbst wenn man die Zuordnung zu den Kategorien für einen Augenblick ernst nimmt, bleibt ein erstes Fazit: Es sind 77 % der Accounts gar nicht dem »eher rechten Lager« zugeordnet worden. Das ist das erste Argument gegen die These, dass der WDR von einer koordinierten rechtsradikalen Aktion zum Zurückziehen des Videos gebracht worden sei.


Kritik an der Schlussfolgerung einer Konzentration

Es gibt bei SPON noch eine zweite Auswertungsmöglichkeit: Mit welcher Intensität wurde denn in diesen Gruppen getwittert? SPON behauptet im Artikel (Zitat):

Auffällig dabei: 52 Prozent der Tweets kamen aus dem grünen Cluster, nur 38 Prozent aus dem pinken. Nur 10 Prozent konnten keinem der beiden Cluster zugeordnet werden. Das bedeutet: Im grünen Cluster gab es einige sehr aktive Accounts.

Das ist ein logischer Fehlschluss: Auch wenn die Hälfte der Tweets zu diesen beiden Hashtags von einem »eher rechten Cluster« ausgegangen sein sollte (was wir aufgrund fehlender veröffentlichter Kriterien und Methoden nicht wissen), sind das ungefähr 110.000 Tweets auf 10.000 Accounts. Der Betrachtungszeitraum beträgt drei Tage. Im Schnitt elf Tweets verteilt auf drei Tage: Das erscheint mir nicht besonders dramatisch.

Ob sich aus der Menge der 10.000 angeblich rechts orientierten Accounts einige besonders hervorgetan haben, kann man aus den veröffentlichten Zahlen bisher gar nicht feststellen. Die veröffentlichte Grafik mit den »Clustern« ist dafür völlig ungeeignet. Ob diese Aktiven besonders rechtsradikale Personen waren und ob ihre Äußerungen besonders negativ, hasserfüllt oder ÖRR-feindlich waren, kann man anhand der SPON-Daten erst recht nicht feststellen.


Kritik an der Schlussfolgerung einer Kausalität aus rechtsradikaler Aktivität und Einknicken des WDR

Dazu kommt: Aus der SPON-Datenauswertung geht gar nicht hervor, wann diese Tweets publiziert wurden. Eine weitere große Schwäche der SPON-Datenauswertung ist nämlich die Zusammenfassung der Erhebung über drei Tage. Dabei geht der zeitliche Verlauf völlig verloren. SPON stellt in einem Diagramm den Zeitraum vom frühen Morgen des 27.12.2019 bis zum frühen Morgen des 30.12.2019 dar. In dieser Zeit sollen die 210.000 Tweets geschrieben worden sein.

Das Video wurde aber bereits am Nachmittag des 28.12.2019 aus dem Netz genommen [siehe Ergänzung!]. Wie viele Tweets aus dem »eher rechten Cluster« wurden denn nun vor dem Zurückziehen des Videos abgesetzt? Das müsste man wissen, um einen Druck aus der rechten Szene auf den WDR und dessen Intendanten nachweisen zu können. Die SPON-Datenauswertung gibt uns aber keinerlei Antwort darauf.

Der WDR-Intendant bat in einer WDR-Hörfunksendung ab 18.00 Uhr um Entschuldigung. In dieser Zeit gab es übrigens die meisten Tweets zu diesem Thema: Da war das Video aber schon gar nicht mehr im Netz. Wenn man sich die Kurve bei SPON anschaut, sind weit mehr als die Hälfte aller ausgewerteten Tweets nach dem Zurückziehen des Videos entstanden.

[Ergänzung am 02.01.2019 nach mehreren Hinweisen: Der WDR hat das Video sogar noch zeitiger zurückgezogen. Ein Hinweis kam via Twitter von Pippilotta und der andere von Schillipaeppa [Blog] in den Kommentaren. Wenn also das Video noch wesentlich zeitiger zurückgezogen wurde, ist die Erzählung vom Einknicken vor dem »rechtsradikalen Shitstorm« natürlich noch absurder. Hier ist nach einem Hinweis von Lucas Schoppe nun der exakte Löschzeitpunkt in einem Facebook-Post des WDR.


Kritik an der Intransparenz der Korrektur

In der heute zugänglichen Version des Artikels steht am Ende ein Korrekturhinweis:

In einer früheren Version dieses Textes hatten wir zwei Twitter-Accounts aus dem rechten Spektrum explizit genannt, die an der Verbreitung der Empörung über das Video beteiligt gewesen sein sollten. Beide waren aber in der Anfangsphase nicht ausschlaggebend für die Verbreitung; taugten also nicht als Beispiele. Die Nennung beruhte auf einem anfänglichen Auswertungsfehler, den wir nachträglich korrigiert haben.

Was aber fehlt: Wurden die restlichen Daten auch nachträglich korrigiert? Wenn man zwei offensichtlich bekannten Accounts aus dem rechten Spektrum zunächst eine so hohe Bedeutung zugemessen hat, muss sich das Herausnehmen dieser beiden Personen ja auch in den Daten (Anzahl der Tweets, Anzahl der als »rechts« eingestuften Accounts) niedergeschlagen haben.


Ergänzung: Kritik an der Überschätzung des Einflusses von Twitter

Ich wurde weiterhin darauf aufmerksam gemacht, dass Twitter keineswegs der einzige Kommunikationskanal mit dem WDR ist. Zum einen gingen die ersten Proteste auf der WDR-Facebook-Seite direkt unter dem Video ein. Das müssen schon hunderte kritische Stimmen gewesen sein.

Zum anderen ist es sehr wahrscheinlich, dass sich WDR-Hörer, Interessenvertreter gesellschaftlicher Gruppen, Landes- und Bundespolitiker auch per Telefon, Mail etc. an den WDR gewandt haben. Öffentlich geäußert haben sich Personen aus SPD und CDU, darunter der NRW-Ministerpräsident. Diese Personen haben viel mehr Gewicht als ein (fiktiver) rechtsradikaler Shitstorm im Wasserglas Twitter.


Fazit: Mit den bisherigen Kenntnissen über die Daten aus dem SPON-Artikel lässt sich die These einer Kausalität zwischen dem angeblich koordinierten rechten Shitstorm und dem Zurückziehen des Videos durch den WDR nicht belegen.


Transparenter Nachtrag (01.01.2020 um 15.40 Uhr): Die URL des SPON-Artikels „Umweltsau“-Skandalisierung Die Empörungsmaschine läuft heiß.


Hinweis: Dieser Artikel steht unter einer CC-BY-Lizenz 3.0 (Namensnennung und Verweis per URL auf das Original) und kann in jeder Form in anderen Publikationen verwendet werden, auch in kommerzieller Art und Weise.


 


Sprachmanipulation mit Fakten kontern

17. Februar 2019

Die Seite netzpolitik.org hat das berühmt-berüchtigte »Framing-Manual« mit dem Titel »Unser gemeinsamer, freier Rundfunk ARD« veröffentlicht. Begründung:

Das Gutachten wurde aus öffentlichen Geldern finanziert und sollte selbstverständlich auch nach dem Grundsatz »Öffentliches Geld, öffentliches Gut« (»Public money, public good«) allen Beitragszahlerinnen und -zahlern verfügbar sein. Damit sich mehr Menschen aus der Originalquelle informieren und an der Diskussion teilnehmen können.

Dieser Blogbeitrag soll ein Teil der Diskussion sein. Ich bin kein Gegner der ARD, des ZDF und des DLF. Ich kritisiere aber den derzeitigen Zustand der öffentlich-rechtlichen Sender und die Höhe der zwangsweise erhobenen Abgabe.

In klarer und direkter Sprache kann das Framing-Manual als »Sprachmanipulationshandbuch« bezeichnet werden, denn darin wird für eine Manipulation der öffentlichen Meinung durch die ARD plädiert. Beim Lesen erinnerte ich mich an mehreren Stellen an die Figur Squealer aus »Farm der Tiere«:

He was a brilliant talker, and when he was arguing some difficult point he had a way of skipping from side to side and whisking his tail which was somehow very persuasive. The others said of Squealer that he could turn black into white.


Die Autorin bezieht sich in ihrem Handbuch auf drei Arten von Frames: negatives Framing soll man erkennen und analysieren, für die eigene Seite ungünstiges Framing soll man vermeiden und positives Framing soll man selbst einsetzen und verbreiten.

Wenn man das »Framing« als ein Werkzeug der Manipulation von Menschen mittels Sprache versteht, gibt es zwei Möglichkeiten des Widerstands: man kann mit einem besseren Framing antworten oder man kann die Frames mit Fakten zerbrechen. Ich will in diesem Beitrag einige Manipulationsversuche aus dem ersten Teil des Werkes »Unser gemeinsamer, freier Rundfunk ARD« aufdecken und mit Fakten widerlegen.


Die Autorin stellt mit ziemlich raffinierten und trotzdem leicht widerlegbaren Argumenten einen Gegensatz zwischen zwei Arten des Rundfunks dar. Die ARD ist im Sinne des Sprachmanipulationshandbuchs ein demokratisch legitimiertes öffentliches Gut. Das kann gar nicht oft genug wiederholt werden. Ein Beispiel:

Und die ARD existiert einzig und allein für uns, indem sie jenseits profitwirtschaftlicher oder demokratieferner Gelüste für ein informierendes, bildendes und sinnstiftendes Programm sorgt. (S. 27)

Wer sich durch dieses Framing nicht so leicht manipulieren lässt, wird Fragen stellen:

  • Benötigt man für die öffentlich-rechtliche Grundversorgung wirklich eine so hohe Zwangsabgabe?
  • Müssen aus den milliardenschweren Einnahmen wirklich privatwirtschaftliche Sportrechte, Seifenopern und andere seichte Unterhaltungssendungen bezahlt werden?
  • Wie werden die hohen Einkommen der Führungskräfte und weit über dem Normalmaß liegende Pensionen gerechtfertigt?

Im Gegensatz zum positiven öffentlich-rechtlichen Rundfunk steht im Sprachmanipulationshandbuch der negative private Rundfunk. Hier ist das Framing der Autorin noch einfacher durchschaubar, denn sie übernimmt einfach bereits bekannte Parolen der politischen Linken:

Man kann es nicht anders sagen: Die Profitwirtschaft, die ihrer Natur nach zumindest primär keine besondere emotionale Bindung zum Menschen hat, sondern ihn als Kunden und damit als Mittel zum finanziellen Zweck sieht, profitiert ungemein von ihrem Framing als »privat«.

»Private« Sender und Medienkonzerne sind profitwirtschaftliche Sender, deren legitimes moralisches Anliegen die hohe Gewinnmarge ist – durch das Einsparen von Kosten und Ausreizen von Preisen. (beide Zitate von S. 29)

Auf Seite 22 wird empfohlen, wie die ARD in ihrer Kommunikation die Privatsender bezeichnen soll: »Profitwirtschaftliche Sender«, »Profitorientierte/-maximierende Sender« oder gar »Medienkapitalistische Heuschrecken«. An fast allen Stellen, an denen es um die Privatsender geht, ist der Text auf dem Niveau vulgärmarxistischer Linkspopulisten angekommen.


Der erste Teil des Handbuchs ist vom Schwarz-Weiß-Denken geprägt. Gut und Böse müssen klar voneinander abgegrenzt werden, damit die Manipulation wirkt: auf der einen Seite stehen die Uneigennützigen und auf der anderen Seite die Profitgierigen:

Damit haben Kommerzmedien, profitorientierte Medien oder Profitsender einen Auftrag, welcher der moralischen Prämisse des gemeinschaftlichen Rundfunks ARD entgegensteht.

Wer sich durch dieses doppelte Framing nicht manipulieren lässt, wird wiederum Fragen stellen:

  • Ist die Werbung in ARD und ZDF nichtkommerziell und werden dadurch keine Einnahmen generiert?
  • Sind Produktplatzierungen und Produktionshilfen in ARD und ZDF nichtkommerziell und werden dadurch keine Kosten gespart?
  • Ist die Nachfrage nach Sportrechten mit vielen Millionen Euro Gebührengeld nichtkommerziell und werden dadurch nicht die Preise hochgetrieben?
  • Stehen öffentlich-rechtliche und private Sender nicht im Wettbewerb um Ressourcen (etwa Stoffe, Prominente oder Formate)?
  • Geht die ARD mit freien Mitarbeitern und freien Produktionsfirmen wirklich immer besser um als die Privatsender?
  • Wurden in den ARD-Sendern keine Kulturangebote abgebaut, weil sie zu viel gekostet haben?
  • Wurden in den ARD-Sendern nicht die anspruchsvollen politischen Magazine gekürzt, verschoben und durch mehr seichte Talkshows ersetzt?

Das sind alles Fragen. Ich kann bei weitem keine letztgültigen Antworten darauf geben. Aber es bleibt festzuhalten, dass ARD und ZDF nicht außerhalb der Marktwirtschaft stehen, dass sie sich teilweise wie Privatunternehmen verhalten – und dass das natürlich auch Auswirkungen auf Qualität und Beitragshöhe hat.


Wer Meinungen manipulieren und Positionen besetzen will, darf nicht differenzieren und darf keine Fragen zulassen. Deshalb werden ja in »Animal Farm« einfache Parolen an die Tafel geschrieben und die Tiere müssen »Vierbeiner gut, Zweibeiner schlecht!« skandieren.

Das Manipulationshandbuch muss also alle negativen Eigenschaften der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und alle positiven Eigenschaften der Privatsender ausblenden – sonst wirkt es nicht. An einer Stelle des Handbuchs wird die Kritik an der ARD in Form von Strohpuppen abgebrannt:

Eine ganze Batterie von abwertenden Schlagwörtern wurde über die Zeit von unterschiedlichen Nicht-Befürwortern der ARD auf das öffentliche sprachliche Tablett gehoben – von »Lügenpresse«, »Staatsfunk« und »Steigbügel der Politik« über »Dinosaurier« und »Krake mit Wasserkopf« bis hin zu »aufgeblähtem Selbstbedienungsladen« mit »ausufernden Renten« und vermuteten »Millionengehältern für prominente Fernsehgesichter«. (Seite 16)

In der Sprache seriöser Kritiker würde das alles ganz anders klingen. Es wäre etwa über die enge Verquickung zwischen den Parteien und den ARD/ZDF-Gremien zu sprechen. Über den Einfluss der Parteien auf Personalentscheidungen in den Führungsetagen der Sender. Über die Bevorzugung oder die Benachteiligung von Parteien in der Berichterstattung. Aber sachliche Einwände sind nicht gewünscht, weil dann die Frames platzen würden.

Es darf also nicht über die exorbitanten Gehälter in den Führungsetagen von ARD und ZDF gesprochen werden. Oder über die ungewöhnlich hohen Pensionen und die aufgelaufenen bisherigen Pensionslasten.

Der wachsende Anteil solcher Kosten an den Beitragszahlungen macht das Programm nicht nur nicht besser – daraus entsteht gar kein Programm. Aber als Beitragszahler sollen wir das klaglos in Kauf nehmen. Kommt mir das nicht bekannt vor? Squealer begründet in »Animal Farm« die Privilegien der Schweine gegenüber den anderen Tieren mit den Worten:

»You do not imagine, I hope, that we pigs are doing this in a spirit of selfishness and privilege? Many of us actually dislike milk and apples. I dislike them myself. Our sole object in taking these things is to preserve our health. […] It is for YOUR sake that we drink that milk and eat those apples. Do you know what would happen if we pigs failed in our duty? Jones would come back! Yes, Jones would come back! Surely, comrades,« cried Squealer almost pleadingly, skipping from side to side and whisking his tail, »surely there is no one among you who wants to see Jones come back?«

Der erste Teil des Framing-Manuals ist eine Fortsetzung dieser Argumentation mit mehr Worten, aber nicht mit wesentlich besserem Inhalt.


Zum Schluss eine Offenlegung: Ich bin kein Gegner der ARD, des ZDF und des DLF. Ich sehe nur sehr selten Sendungen der Fernsehanstalten, höre aber täglich kritisch und aufmerksam den DLF. Ich bin für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sich auf die absoluten Kernaufgaben konzentriert. Unter dieser Voraussetzung bin ich zur Zahlung eines Beitrags bereit, weil der Journalismus als Ganzes eines der Fundamente der Demokratie ist.

Für einen parteiunabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit den Kernaufgaben Information, Kultur und Bildung würde ich freiwillig monatlich 10 bis 15 Euro zahlen. Und für den verbindlich zugesagten Verzicht auf solche Sprachmanipulationshandbücher würde ich sogar noch einen Euro drauflegen.



Plädoyer für einen handwerklich guten Journalismus

29. Dezember 2018

Die Zeitschrift Cicero veröffentlichte gestern einen Gastbeitrag [Link] des Rechtsanwalts Georg Strate, der in den sozialen Netzwerken viel Aufmerksamkeit, Widerspruch und Zustimmung erhalten hat. Strate bezieht sich darin auf Georg Restles Beitrag »Plädoyer für einen werteorientierten Journalismus« [Link].

Aufmerksamkeit, Widerspruch und Zustimmung wurden nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass in dem Artikel das Wort »haltungsbesoffene Redakteure« vorkommt. Das ist in der Tat ungehörig: Man sagt als kultivierter Mensch natürlich »haltungstrunken« oder »haltungsberauscht« ;-)

Aufmerksamkeit, Widerspruch und Zustimmung hätte der Cicero-Gastbeitrag aber aus ganz anderen Gründen verdient: Gastautor Georg Strate schreibt streckenweise an Georg Restles Artikel vorbei und projiziert seine eigenen Urteile hinein. Das Wort »Haltung« kommt in Georg Restles Artikel nicht vor und für Strates Urteil

[Georg Restle] maßt sich und der journalistischen Zunft an, zu bestimmen, welche Haltung die einzig ›richtige‹ wäre und in der Folge Kollegen mit der ›falschen‹ Haltung aufs Abstellgleis zu befördern.

gibt es keine belastbare Grundlage. Georg Restles Artikel muss hart kritisiert werden, weil er als Führungskraft ein falsches Vorbild für die Journalisten des WDR entwirft. Aber er muss auch fair kritisiert werden. Zu Beginn seines Artikels schreibt Restle

Die Forderung an uns klingt dabei immer gleich: Objektiv sollen wir gefälligst sein, neutral und ausgewogen – als sei die Wahrheit ein Schatz in tiefer See, der nur noch gehoben werden muss.

Nun kann ich nicht beurteilen, welche Forderungen Georg Restle zu hören bekommt. Aber es ist unplausibel, wenn er den Kritikern die Vorstellung von einem »Schatz in tiefer See« unterstellt, nur um nachher ausführen zu können:

Es ist eine klare, einfache Vorstellung und sie würde uns die Arbeit erheblich leichter machen – nur der Wahrheit, oder was viele darunter verstehen, kämen wir damit wohl kaum näher.

Warum ist das unplausibel? Weil jeder vernünftige Mensch weiß, dass die reine Wahrheit ein Ideal ist, das niemals erreicht werden kann. Aber wir wissen auch, dass eine Medaille zwei Seiten und ein Würfel sechs Flächen hat. Und wir erwarten, dass Journalisten über beide Seiten der Medaille und über mindestens fünf Flächen des Würfels berichten.

Indem Georg Restle ein unerreichbares Ideal der reinen Wahrheit darstellt, senkt er sehr geschickt die Anforderungen an den Journalismus: Wenn das Ideal sowieso nicht erreicht werden kann, muss man sich folglich ein anderes Ziel setzen. Dieses neue Ziel lautet bei Restle aber nicht »Lasst uns jede Medaille einmal umdrehen und jeden Würfel aus mindestens fünf Perspektiven betrachten!«.

Georg Restles Ziel lautet vielmehr: Lasst uns »werteorientiert« und »nicht neutral« berichten. Das bedeutet: Es hängt nur noch von den Werten des Journalisten ab, ob er die Medaille umdreht und ob er den Würfel aus mehreren Perspektiven betrachtet. Bevor Restle dieses Ziel begründet, wirft er in seinem Artikel eine weitere Nebelkerze:

Wo sich fast jeder, der über einen Facebook- oder Twitter-Account verfügt, als Medium begreift und Meldungen sich im Millisekundentakt über die Welt ergießen, gleichrangig, ungeprüft und sofort tausendfach kommentiert, kommt Journalismus an seine physischen und psychischen Grenzen – und wird zunehmend manipulierbar.

Tatsache ist: Die meisten Äußerungen und Kommentare werden nur von ganz wenigen Menschen beachtet, weil ihre Absender keine Reputation haben und keine Interessenten (Follower) binden. Nur wenige Medien haben eine nennenswerte Reichweite und damit einen nennenswerten Einfluss.

Aber zur Manipulierbarkeit des Journalismus gibt es gerade heute ein sehr schönes Beispiel. In den Nachrichten des Deutschlandfunks und in vielen anderen Medien wurde vermittelt: Gesetzliche Krankenversicherungen bieten nach einer Studie oft bessere Leistungen als die privaten Krankenkassen.

Meldungen über eine Studie im Auftrag der Grünen (Klick auf das Bild vergrößert die Ansicht).

Tatsächlich handelt es sich um eine Auftragsstudie der Grünen, die am heutigen Morgen (28.12.2018) gar nicht veröffentlicht war. Sekundärquelle war ein Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland [Link], den man nur aufmerksam lesen musste, um die Schwächen der Studie zu erkennen.

Die Redaktionen hätten die Medaille also einfach nur umkehren müssen, um die Qualität der Studie und die Botschaft der Grünen zumindest zu hinterfragen. Nach Georg Restle wäre aber folgendes Vorgehen »wertorientierter Journalismus«: Wer gesetzliche Krankenkassen für wertvoller als private Krankenkassen hält und wer die Chancen der Grünen befördern möchte, wird als Journalist die Kehrseiten der Studie natürlich nicht hinterfragen. Denn mit Recherchieren macht man sich bekanntlich nicht nur die schönsten Geschichten kaputt, sondern man kann auch an die Grenzen der eigenen Werteorientierung stoßen.

Ich will hier nicht unterstellen, dass die deutschen Medien am Morgen des 28.12.2018 aus reiner Werteorientierung weitgehend dasselbe geschrieben haben. Möglich sind auch die Erklärungen Zeitdruck, Bequemlichkeit und Abhängigkeit von Agenturmeldungen. Aber an diesem Beispiel kann man gut zeigen, welche Gefahr darin liegt, wenn niemand mehr Wert auf die von Georg Restle gescholtene Objektivität legt. Restle beschreibt die Gefahr, dass

[…] Journalisten im Neutralitätswahn nicht mal mehr wahrnehmen, wenn sie längst zum verlängerten Arm derer geworden sind, die mit ihrem ständigen Beharren auf journalistischer Objektivität nur ihre eigene Agenda oder ihre eigenen Geschäftsinteressen im Sinn haben.

Das Beispiel der Studie über die Krankenkassen zeigt, wie wichtig diese obskure »Objektivität« ist: Mit der beauftragten Studie wollen die Grünen ihre Agenda (Gesetzliche Krankenversicherung und Bürgerversicherung) gegen die Private Krankenversicherung durchsetzen. Ein »werteorientierter Journalismus« lässt das so durchgehen, weil das bestellte und gelieferte Ergebnis der Studie zweifellos bestimmten Werten entspricht. An der Objektivität orientierter Journalismus schaut sich dagegen beide Seiten an und hinterfragt vor allem die Interessen der Auftraggeber der Studie. Georg Restle schrieb am 27.12.2018 auf Twitter ergänzend:

»Haltung rechtfertigt keine Lügen. Im Gegenteil: Journalistische Haltung setzt Wahrhaftigkeit voraus.« [Link]

Aber es geht hier gar nicht um den Gegensatz zwischen Wahrheit und Lüge. Es geht um das Weglassen eines Teils der Wahrheit, es geht um das Umdrehen der Medaille. Die Journalisten, die heute unkritisch über die Krankenkassenstudie berichtet haben, lügen ja keineswegs – sie lassen nur entscheidende Informationen weg. Der Deutschlandfunk verlas heute Morgen:

Gesetzliche Krankenversicherungen bieten nach einer Studie oft bessere Leistungen als die privaten Krankenkassen. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion, die dem Redaktions-Netzwerk Deutschland vorliegt. Danach wird selbst bei den teuren Premium-Tarifen der privaten Versicherer rund ein Viertel der Mindestanforderungen nicht erfüllt. Bei den gesetzlichen Kassen sind es nur drei Prozent. [Link]]

Was der Deutschlandfunk berichtet, ist keineswegs gelogen. Was aber fehlt: Wer hat die Mindestanforderungen festgelegt? Nach welchen Kriterien wurden die verglichenen Leistungen ausgewählt? Wie viele Leistungen gibt es insgesamt und wie viele davon wurden in die Studie einbezogen? Wie können sich privat Versicherte im Gegensatz zu gesetzlich Versicherten ihre Leistungen zusammenstellen? Wo sind eventuell die privaten Versicherungen besser? Und wie sehen die Beiträge im Vergleich aus? [Ergänzung am 29.09.2018: Link zur politischen Zusammenfassung der Auftragsstudie bei der Grünen-Bundestagsfraktion]

Georg Restle stellt sich und den Journalisten die Frage:

Die Frage lautet also, ob wir das wirklich wollen: nur abbilden, was die Kampagnenführer aus Staats-, Partei- oder Konzernzentralen multimedial verbreiten?

Die Antwort lautet: Viele Journalisten tun leider genau das! Sie verbreiten »Studien«, sie verbreiten die Antworten auf geschickt gestellte »Kleine Anfragen« der Opposition, sie verbreiten Pressemitteilungen der Interessengruppen. Entweder tun sie es aus »Wertorientierung« oder sie tun es aus Bequemlichkeit oder sie müssen es wegen des Zeit- und Leistungsdrucks tun.

Deshalb muss das Plädoyer lauten: Journalisten sollen aus ihren Möglichkeiten das Beste machen. Sie dürfen sich nicht an ihren persönlichen Werten orientieren, sondern sie müssen die Medaille wenigstens anheben, um zu schauen, was auf der anderen Seite verborgen sein könnte.

Abschließend noch ein Zitat, das die Intelligenz der Leserinnen und Leser, der Journalistinnen und Journalisten und im Grunde auch Georg Restles Intelligenz beleidigt:

»Und meinen wir wirklich, neutral und ausgewogen zu sein, wenn wir nur alle zu Wort kommen lassen, weil die Wahrheit schließlich immer in der Mitte liegt? Und wenn die Mitte immer weiter nach rechts wandert, liegt die Wahrheit eben bei den Rechten? Und wenn die Mitte verblödet, bei den Blöden?«

[…]

»Nein, mit einem solchen Verständnis von Journalismus will ich nichts zu tun haben, auch weil die Wahrheit höchst selten in der Mitte liegt – schon gar nicht in Zeiten des millionenfachen Geblökes der ›sozialen‹ Netzwerke.«

Kein vernünftiger Mensch hat jemals behauptet, dass die Wahrheit in der Mitte läge und dass jeder blökende Blöde zu Wort kommen müsse. Kein vernünftiger Mensch hat jemals die Position vertreten, dass dieses Zerrbild objektiven Journalismus darstelle. Das ist ja noch peinlicher als das nachgeschobene Carolin-Emcke-Zitat

»Das Mantra vom ›Wir versuchen nur darzustellen, was ist‹ zeugt keineswegs von selbstkritischer Objektivität, sondern von selbsthypnotischer Verantwortungslosigkeit.«

Es spricht (um zum Ende zu kommen) noch ein weiteres wichtiges Argument gegen »werteorientierten Journalismus«: Wer legt eigentlich die Werte fest? Heute sind unter Journalisten bestimmte grüne und soziale Werte hoch im Kurs. Eine maßgebliche Journalistin der ARD bejubelte ganz im Sinne der richtigen »Werteorientierung« die Stimmung auf einem Grünen-Parteitag und das neue Führungsduo der Grünen.

Aber in der DDR bekamen Journalisten andere Werte vorgegeben. Im heutigen Ungarn sind es für die Mehrheit der regierungsorientierten Journalisten noch einmal ganz andere Werte. Auch wenn sich beide Beispiele in vielerlei Hinsicht unterscheiden: Die Erfahrung zeigt, dass sich die meisten Journalisten den Werten der Regierung oder den Werten der Mehrheit anschließen. Wenn solche Zeiten anbrechen, ist jedes Stück handwerklich guter Journalismus Gold wert. Werteorientierte Haltung bekommt man dagegen hinterhergeworfen.

Was ich damit sagen will: Werte können sich schnell ändern, aber handwerklich guter Journalismus ist ein Wert an sich. Nur eine Minderheit der Journalisten hinterfragt heute noch mit ökonomischem und technischem Sachverstand komplexe Themen wie die Energiewende, die Verkehrswende oder die Geldpolitik. Sich dagegen »werteorientierte« Geschichten in der Art eines Claas Relotius auszudenken, ohne Recherche und Hintergrundwissen – das macht keine Arbeit. Man bekommt dafür Journalistenpreise und ein großes Lob von Georg Restle.


Ergänzung 1: Diesen Beitrag kannte ich beim Schreiben leider nicht: Georg Restle und das Verschwinden der Öffentlichkeit von Lucas Schoppe. Er erschien kurz nach dem auslösenden Beitrag von Georg Restle.



Bots in sozialen Medien: das große Durcheinander

17. Dezember 2018

Was hat der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus gestern in der gedruckten FAS wirklich gesagt und was kann man daraus schließen? Ich zitiere die Aussage der FAS und seine Antwort:

Inzwischen scheint es so, dass ein Teil der Aufregung über den Pakt in den sozialen Netzwerken künstlich erzeugt worden ist.

Viele meiner Kollegen sind mit Mails überschwemmt worden. Oft waren es dieselben Textbausteine. Aber vor allem im Netz und in sozialen Medien wurde eine Welle von Unwahrheiten und Diffamierungen ausgelöst. Solche Kampagnen können mittlerweile eine ungeheure Kraft entfalten. Die traditionellen Medien werden oft gar nicht mehr gehört, wenn sie versuchen, Sachverhalte richtig einzuordnen. Hinzu kommt, dass die Verbreitung dieser Falschmeldungen und Diffamierungen von Troll-Fabriken und kostengünstigen Technologien unterstützt wird. Die Algorithmen der Plattformen tun dann ein Übriges dazu, die Verbreitung dieser Nachrichten noch weiter zu erhöhen. [Quelle: FAS vom 16.12.2018, Seite 2]

Beginnen wir mit der Technik: Ich habe nicht den Eindruck, dass Herr Brinkhaus in Sachen »Soziale Medien« kompetent beraten wurde. Die »kostengünstigen Technologien« zur Verbreitung von Informationen stehen ALLEN Interessengruppen zur Verfügung. Ob politische Partei, Parlamentsfraktion, Unternehmen, Lobby-Organisation oder Privatperson: Alle sind bestrebt, ihre Anliegen möglichst effektiv und effizient zu verbreiten.

Ralph Brinkhaus möge sich bitte in seiner eigenen Partei und Fraktion darüber informieren, wie man Profile in den sozialen Medien verknüpft und wie man manuelles »copy and paste« elegant ersetzen kann. Techniken zum automatischen Verteilen derselben Nachrichten auf mehreren Plattformen gibt es in jeder professionell arbeitenden Social-Media-Redaktion.

Es gibt bisher keinen Beweis, dass legitime oder illegitime Argumente zum UN-Migrationspakt von einer Troll-Fabrik oder gar von mehreren Troll-Fabriken »fabriziert« und verbreitet wurden. Wer solche Behauptungen aufstellt, ist auch in der Beweispflicht.

Der UN-Migrationspakt hat deshalb so großes Interesse geweckt, weil Deutschland mit den positiven und negativen Folgen der Globalisierung und der Migration leben muss. In den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und in den meisten privaten Medien waren aber bis zum Herbst 2018 kaum Beiträge zum Migrationspakt zu finden. Es entstand ein gewisses Vakuum. Brinkhaus sagt:

»Die traditionellen Medien werden oft gar nicht mehr gehört, wenn sie versuchen, Sachverhalte richtig einzuordnen.«

Tatsache ist: Zum Thema Migrationspakt gab es lange Zeit nur sehr wenige Informationen. Selbst wenn es mehr Informationen gegeben hätte: Eine »richtige Einordnung« des Themas ist unmöglich. Das sieht man sehr gut an den widersprüchlichen Expertenmeinungen zur Verbindlichkeit und zu den Folgen des Migrationspakts. Es verwundert mich sehr, dass ein demokratischer Politiker von »richtiger« Einordnung spricht. Richtig wäre hier die Forderung nach handwerklich sauberer Arbeit der Medien und der Politik.

Ohne den Migrationspakt an dieser Stelle sachlich werten zu wollen, darf man feststellen: Einige Teile der Bevölkerung haben kein Vertrauen mehr in die Migrationspolitik der Bundeskanzlerin. Andere Teile der Bevölkerung erhoffen sich von dem Pakt eine Verbesserung der Situation. Es ist folgerichtig, dass über dieses Thema kontrovers diskutiert wird.

Wenn ein Thema aber derart stark polarisiert, wird es immer gegenläufige Tendenzen geben: Die eine Seite dramatisiert, die andere Seite bagatellisiert. Die eine Seite verbreitet nur negative Beispiele, die andere Seite nur positive. Jede Seite spendet den Stimmen Beifall, die sie hören will. Es gibt keinen fairen Wettbewerb der Meinungen mehr, es ist eher ein Gladiatorenkampf zwischen zwei Gruppen, der auch mit schmutzigen Mitteln ausgetragen wird.

Wenn man wieder zu einem fairen Wettbewerb zurückkehren will, wird das mit staatlicher Regulierung nicht zu machen sein. Es kann nur über eine Selbstverpflichtung der demokratischen Kräfte funktionieren. Wer dabei nicht mitmachen will oder wer falsch spielt, muss offen benannt werden. Aber dafür braucht es Beweise und nicht das Geraune über ominöse »Trollfabriken«.

Völlig inakzeptabel wäre die Attitüde: Was mir nicht gefällt, kommt aus der »Trollfabrik«, was mir gefällt, kommt aus der edlen PR-Agentur. Und damit ist auch die Aussage der FAS in Frage zu stellen, auf die Brinkhaus geantwortet hat:

»Inzwischen scheint es so, dass ein Teil der Aufregung über den Pakt in den sozialen Netzwerken künstlich erzeugt worden ist.«

Allenfalls ist die Aufregung über den Migrationspakt technisch geschickt verbreitet worden – aber »künstlich erzeugt« wurde sie sicher nicht. Dazu muss man sich die Auswirkungen der Globalisierung und der Migration nur mit offenen Augen anschauen.



Zivilisierter Widerspruch (3)

2. Oktober 2018

Der heutige zivilisierte Widerspruch richtet sich gegen die »Morgenandacht« vom 02.10.2018 im Deutschlandfunk, die eigentlich von der Friedensbewegung, der Linkspartei oder den fundamentalistischen Grünen stammen könnte. Auch dieser zivilisierte Widerspruch beginnt mit einem Abschnitt der Zustimmung und dann folgen erst die Gegenargumente.


Die Zustimmung

Es ist auch im Jahr 2017 richtig und wichtig, über den Pazifismus und seine Auswirkungen nachzudenken. Der Vergleich zwischen Militärausgaben und Ausgaben für Lebensmittelhilfe kann angemessen sein.



Der Widerspruch

Aber nicht auf diese Weise. Wer in Deutschland und der EU von Pazifismus spricht, kann über die Risiken dieser Welt nicht schweigen. Wer über Pazifismus ohne rationale Argumente spricht, sollte es besser ganz lassen. Die Autorin sagt und schreibt:

2017 wurden 1739 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben. Um mir diese Zahl bildlich vorzustellen, stelle ich mir diese Summe als einen Stapel Dollarscheine vor: 1000 übereinander ergeben einen Zentimeter, eine Milliarde 10 Kilometer. Der weltweite Ausgabenturm für Bomben, Drohnen, Schnellfeuergewehre, Panzer usw. ist 17.390 Kilometer hoch.

Das ist ein Vergleich für Naive und die Zahlen sind allesamt Quatsch: Ein aktueller Dollarschein ist 0,11 Millimeter stark, demzufolge ergeben 1.000 Dollarscheine nicht einen Zentimeter, sondern 11 Zentimeter Höhe. Eine Milliarde Dollarscheine ist (gestapelt) 110 Kilometer hoch.

Selbst wenn die Autorin richtig gerechnet hätte, wären ihre absoluten Zahlen ohne eine Einordnung nutzlos: Absolute Zahlen müssen ins Verhältnis zu anderen relevanten Zahlen gesetzt werden, um sie vergleichen zu können. Rüstungsausgaben setzt man normalerweise ins Verhältnis zum Bruttosozialprodukt oder zum Gesamthaushalt eines Staates. Darüber hinaus gibt es folgende sachliche Einwände gegen den Vergleich von Rüstungsausgaben in Form absoluter Zahlen:

  1. Die genannten Zahlen sind offizielle Haushaltszahlen. In Russland (und auch in China) gibt es aber Schattenhaushalte für die Rüstungsausgaben. Das ist in der Bundesrepublik gar nicht möglich, in anderen NATO-Staaten wohl auch eher unwahrscheinlich.
  2. Russland hat eine Wehrpflichtarmee – Deutschland, die USA und andere NATO-Staaten nicht. Die Pro-Kopf-Aufwendungen der russischen Armee für Kasernen, Sozialleistungen, Sold und Pensionen dürften im Vergleich mit der Bundeswehr oder der US-Streitkräfte zu vernachlässigen sein. Das trifft sinngemäß auch auf Wartungskosten und Unterbringungskosten zu.
  3. Die Kaufkraft hinter den Militärausgaben ist in Russland viel höher als in der Bundesrepublik oder in den USA. Waffensysteme werden in Russland kostengünstiger entwickelt und produziert sowie aus anderen Quellen quersubventioniert. Im Westen ist jede Art von Arbeit ungleich teurer.

Faustregel: Wann immer Ihnen eine Person in den Medien oder von der Kanzel herab absolute Zahlen vorgibt, um damit einen komplexen Zusammenhang zu erklären, dann werden Sie bitte skeptisch. Entweder macht die Person Propaganda, oder sie will Sie über den Tisch ziehen, oder sie weiß es nicht besser. Keine der Alternativen klingt besonders beruhigend.


Der eigentlich sinnvolle Vergleich zwischen Militärausgaben und Ausgaben für Lebensmittelhilfe hat trotzdem einen großen Haken: Ohne Militäreinsatz kann die Lebensmittelhilfe in vielen Konfliktfällen gar nicht abgesichert werden.

Militäreinsätze sind aber ohne Soldaten, Rüstungshaushalt und Waffen nicht möglich. Wenn etwa die Bundeswehr einen humanitären Einsatz absichert, dann ist der Einsatz der Soldaten immer ungleich teurer als die eigentliche Lebensmittellieferung.

Fazit: Eine Morgenandacht der Evangelischen Kirche, in der Jesus und Christentum nur noch ganz am Rande vorkommen, kann man sich sparen. Der Text dieser Morgenandacht könnte auch in der taz oder in Pressemitteilungen der Linken stehen. Er hat mit Religion im Grunde nichts zu tun.

Wenn ich den Text aber politisch betrachte, dann stört mich die Vereinfachung: Der gesamte Sachverhalt ist hochkomplex und die Vereinfachungen sind der Komplexität nicht angemessen. Die Autorin ist nicht bereit, sich den eigentlichen Konflikten dieser Welt zu stellen, die Zahlen richtig einzuordnen, oder auch nur richtig zu rechnen.

Der Text erfüllt also weder die Anforderungen an eine Morgenandacht noch die Anforderungen an einen politischen Kommentar. Als emotionale Meinungsäußerung mag er durchgehen, für den rational denkenden Christenmenschen ist er offenbar nicht gedacht.



Ergänzung: Zusammenhänge zwischen Militäreinsätzen, Flucht und Lebensmittelhilfe findet man in diesem Interview der FAZ. Es ist auch unter dem Text der Morgenandacht verlinkt – um so erstaunlicher, dass die Autorin nichts daraus entnommen zu haben scheint.



Zivilisierter Widerspruch (2)

1. Oktober 2018

Der heutige zivilisierte Widerspruch richtet sich gegen die Aktion »Gusche auf!«. Auch dieser zivilisierte Widerspruch beginnt mit einem Abschnitt der Zustimmung und dann folgen erst die Gegenargumente.


Die Zustimmung

In der Selbstbeschreibung der Kampagne auf Twitter heißt es: »Diese Kampagne bezieht Position: Die AfD ist für uns keine tolerierbare Alternative.« – Auf der Website guscheauf.jetzt steht:

Seit 2014 sitzt eine vermeintliche „Alternative“ für Deutschland (AfD) im sächsischen Landtag und in vielen kommunalen Parlamenten. Immer deutlicher und stärker wird die Ausrichtung von Partei und Mandatsträger*innen nach Rechtsaußen.

Auch ich halte die AfD nicht für eine Alternative zur bisherigen Politik in Sachsen. Ich habe die AfD niemals gewählt, ich würde sie heute nicht wählen und ich werde sie auch in Zukunft nicht wählen. Mit der Wendung »nicht tolerierbar« beginnt aber schon mein Widerspruch.



Der Widerspruch

In der Demokratie muss akzeptiert werden, dass die Partei AfD im sächsischen Landtag auf demokratische Weise Wähler repräsentiert. Mit der Wendung »nicht tolerierbar« werden die Mandatsträger sowie die bisherigen und die potentiellen Wähler der AfD in kontraproduktiver Weise diskreditiert.

Deshalb ist »nicht tolerierbar« ein falscher Ausdruck: Die AfD muss so lange als eine demokratische Partei im Wettbewerb toleriert werden, wie sie (a) auf dem Boden des Grundgesetzes steht und (b) sächsische Wählerinnen und Wähler repräsentiert.


Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Wirkung: Welche Zielgruppe soll »guscheauf.jetzt« erreichen? Die Sprache der gesamten Website zielt von der Wortwahl bis zum Gender-Sternchen auf das linke akademische Milieu. Solche Texte werden von der großen Mehrheit der Menschen überhaupt nicht zu Ende gelesen, geschweige denn verstanden. Kostprobe:

Von Bürger*innen und insbesondere politischen Entscheidungsträger*innen in Sachsen fordern wir eine klare Positionierung zur Demokratie und für Menschenrechte! Die AfD ist keine Partei, mit der Demokrat*innen gemeinsam Politik machen dürfen!

Die Aktion hat folglich auch keinerlei positive Wirkung auf unentschlossene Wählerinnen und Wähler, die heute in Umfragen der AfD zugeneigt sind oder schon die AfD gewählt haben. Sie will und sie kann diese Wählergruppen nicht erreichen.

Solche Aktionen gibt es seit Jahren: Als Faltblätter, als Accounts in sozialen Medien, als Webseiten. Sie haben in Sachsen den Aufstieg der AfD weder verhindert noch verlangsamt – sie erreichen einfach niemanden.

Aktionen wie diese verstärken im Gegenteil die Spaltung der Gesellschaft in der Migrationsfrage: Unterstützer der Aktion wie die Linkspartei und andere linke Organisationen sind so radikal für unbegrenzte Migration, wie die Gegenseite von der AfD für weitgehende Abschottung ist.

Die vernünftige Mitte weiß: Beide Szenarien wären fatal für Deutschland und Sachsen. Die Lösung muss in einer Kontrolle der Migration und in der Rückführung von Migranten ohne Asylgrund bzw. Schutzanspruch liegen. Die vernünftige Mitte wird sich weder der einen noch der anderen radikalen Position anschließen.

Bei all diesen glatten, austauschbaren, mit Routine gestalteten und so furchtbar langweiligen Aktionen von »Doppeleinhorn« bis »Gusche auf!« stellt sich für mich immer wieder die Frage: Bekommen sie schon Steuergeld dafür oder wollen sie in Zukunft Steuergeld und Spenden kassieren? – Einen anderen Sinn kann die Aktion eigentlich kaum haben: Sie wird mit hoher Wahrscheinlichkeit niemanden außerhalb der Filterblase der Absender erreichen.




Zivilisierter Widerspruch (1)

30. September 2018

Die Zustimmung

Heute: Zivilisierter Widerspruch gegen einen Artikel von Josef Schuster und Heinrich Bedford-Strohm. Jeder zivilisierte Widerspruch gegen einen veröffentlichten Artikel soll mit Argumenten für den Artikel beginnen:

  1. Es ist völlig richtig, dass vor Rechtsextremismus und damit verbundenen Gewalttaten gewarnt wird. Wer kann etwas dagegen haben?
  2. Es ist völlig richtig, dass vor dem Instrumentalisieren von Ängsten durch Populisten gewarnt wird.
  3. Es ist auch richtig, dass vor den Gefahren der Manipulation unserer öffentlichen Sprache gewarnt wird.
  4. Es ist notwendig, die Rhetorik der AfD zu hinterfragen: Was meint sie mit »Systemwechsel«? Wogegen will sie im demokratischen Rechtsstaat »Widerstand« leisten?
  5. Es ist nicht zuletzt eine Selbstverständlichkeit, dass die demokratischen Errungenschaften und der Wertekodex der Bundesrepublik hochgehalten und verteidigt werden.

Wenn sich die beiden führenden Vertreter der jüdischen und der christlichen Religion dieses Landes dafür aussprechen, dass jüdisches Leben und jüdische Religion in diesem Land sicher sein müssen: Welcher zivilisierte Bürger wollte ihnen widersprechen? Aber auf welche Weise und gegen welche Gefahren diese Absicherung erfolgt: Darüber darf man streiten, darüber muss man streiten.



Der Widerspruch

Eine Zwischenüberschrift des Artikels lautet »Widerspruch braucht Widerspruchsgeist«. Diesen Widerspruch sollen die Autoren nun bekommen. Josef Schuster und Heinrich Bedford-Strohm zitieren je einmal aus Thora und Bibel. Es sind bekannte Zitate, es sind aber leider auch oft instrumentalisierte Zitate. In der Thora steht:

Wenn ein Fremder in eurem Lande weilt, so sollt ihr ihn nicht kränken. Gleich dem Einheimischen unter euch sei euch der Fremde, der bei euch weilt, und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn Fremdlinge waret ihr im Lande Ägypten.

Der Staat Israel, in dem die Thora weltweit die größte Bedeutung hat, ist die einzige echte Demokratie im Nahen Osten. Israel ist der Zufluchtsort vieler Juden, die aus arabischen Staaten und aus anderen Staaten vertrieben wurden oder gehen mussten.

Israel hilft sogar den Kindern seiner größten Feinde mit medizinischer Versorgung: Es wurden tatsächlich kranke oder verletzte Kinder der Mitglieder von islamistischen Terrororganisationen in israelischen Krankenhäusern versorgt.

Aber Israel geht auch äußerst streng gegen illegale Migration vor. Israel unterbindet den Missbrauch des Asylrechts. Israel weist illegal Eingereiste konsequent aus oder findet andere Staaten, die diese Personen aufnehmen. Es liegt also klar auf der Hand, dass die Thora zwar Orientierung gibt, aber niemals Staatsräson sein kann.


In der Bibel gibt es das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und viele andere Beispiele für Nächstenliebe. Es stimmt auch, dass in der Bibel die folgenden beiden Sätze stehen:

Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.

Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.

Es ist aber grundsätzlich falsch, die Zitate aus der Thora und aus der Bibel ohne rationale Einordnung zu verwenden. Diese heiligen Bücher richten sich nicht an säkulare Gesellschaften, sondern an individuelle Gläubige und an Glaubensgemeinschaften. Das ist ein entscheidender Unterschied. Diese Zitate verpflichten den demokratischen Rechtsstaat Israel und den demokratischen Rechtsstaat Deutschland zu gar nichts.

Der barmherzige Samariter aus der Bibel ist beim Helfen nicht über seine soziale und wirtschaftliche Leistungsgrenze hinausgegangen. Er hat geholfen, aber er wusste auch seine Grenzen zu ziehen. Er wurde übrigens auch nicht mit dem Messer angegriffen, als er geholfen hat.

Deshalb ist zu differenzieren zwischen dem Rechtspopulismus und dem rationalen Widerspruch gegen uneingeschränkte Aufnahme von Fremden, gegen zu weitgehende Rechte für Fremde und gegen uneingeschränkt offene Grenzen. Das leistet der Artikel überhaupt nicht. Es wird eine Dichotomie zwischen Gut und Böse, zwischen Rechtspopulisten und hypermoralisch Gerechten aufgebaut. Zwischen diesen beiden »Lagern« gibt es aber zivilisierte, demokratische Menschen, die gegen beides sind. Sie müssen in der Politik Gehör finden, denn auch ihre Anliegen sind legitim.


Ein Kernargument des Artikels sei noch ausführlich zitiert. Es zeigt, wie wenig sich die Autoren getraut haben, ihre Argumente zu Ende zu denken. Die Autoren des Artikels werfen der AfD vor:

Aufbrüche in einen grundgesetzkonformen Islam sollen beendet werden. Die Dialogfähigkeit der Religionen soll geschwächt werden. Gegeneinander statt miteinander: Das ist die Religionspolitik der AfD.

Aber wer bedroht denn die Aufbrüche in einen grundgesetzkonformen, reformierten und aufgeklärten Islam wirklich? Es sind radikale Salafisten und andere islamische Fundamentalisten mit ihren Morddrohungen gegen Dissidentinnen und Dissidenten. Diese islamischen Dissidentinnen und Dissidenten erhalten nicht Polizeischutz, weil die AfD in ihrem Programm zu islamkritisch wäre. Sie erhalten Polizeischutz, weil sie von fundamentalistischen Vertretern des Islam bedroht werden. Die Autoren schreiben:

Falsch verstandene Toleranz und beschwichtigende Narrative stärken den Rechtsextremismus dort, wo klarer Widerspruch angezeigt ist.

Das gilt aber – wie man an der Eröffnung der DITIB-Moschee als Quasi-Außenstelle des erdoganschen Religionsministeriums sehen konnte – viel mehr und viel drastischer für den Islamismus. Den Rechtsextremismus abzulehnen ist in Deutschland Staatsräson. Über den Islamismus und Staatsislam wurde viel zu lange laut geschwiegen – auch von den beiden Autoren des WELT-Artikels.



Empathie

16. Juli 2018

Der Begriff »Empathie« wird derzeit in Artikeln in den Medien vorwiegend in einem Schwarz-Weiß-Schema verwendet: Wer sich nicht für die unbeschränkte Migration aus Afrika nach Europa ausspricht[*] oder wer über derlei Dinge auch nur zu diskutieren wagt, dem fehle es an Empathie.

Auch im Contra von Mariam Lau spiegelt sich an zu vielen Stellen jene zunehmende Empathielosigkeit gegenüber dem Leid der anderen, die man in Deutschland an immer mehr Orten spüren kann … [Quelle: ZEIT]


Der erste Denkfehler in dieser Argumentation: Empathie bedeutet keinesfalls, dass man mit anderen Menschen Mitleid hat. Empathie bedeutet auch nicht, dass man (jedem) anderen Menschen hilft.

Empathie ist per Definition nichts anderes als das Einfühlungsvermögen in das Denken und Handeln einer anderen Person. Man benötigt sicher Empathie für Mitleid und für Hilfe, aber Mitleid und Hilfsbereitschaft sind nicht mit Empathie gleichzusetzen.


Der zweite Denkfehler: Empathie könne nur positiv wirken. Das ist ein großer Trugschluss. Jeder erfolgreiche Ideologe, Populist und Politiker braucht Empathie für seinen Erfolg. Frank Lübberding weist auf Twitter darauf hin, dass Machiavelli keinesfalls empathielos war. Man kann einen Schritt weiter gehen und einen gewissen Dr. Goebbels anführen: Dessen perfide NS-Ideologie wäre ohne das Einfühlungsvermögen in das Denken und Fühlen der Zielgruppe niemals so erfolgreich gewesen.

Stefan Zweig beschreibt in einer wenig bekannten Geschichte sehr sensibel die Arbeit eines Taschendiebs. Der Taschendieb ist deshalb so erfolgreich, weil er sich in die Bestohlenen perfekt einfühlen kann.

Stefan Zweig kann sich wiederum mit seiner Empathie in die Arbeit des Taschendiebs einfühlen und schreibt eine sehr gute Geschichte darüber. Er zeigt also Empathie für das Denken und Fühlen des Diebes, obwohl Diebstahl eine Straftat und der Taschendieb ein Täter ist.


Der dritte Denkfehler: Wer keine Empathie für Migranten aufbringt, sei generell empathielos. Das ist keineswegs so. Man kann eine unkontrollierte und ungeregelte Migration auch aus Empathie gegenüber denjenigen Bevölkerungsgruppen ablehnen, die hier in Deutschland am schärfsten mit den Folgen der bisherigen Einwanderung konfrontiert sind. Für Menschen, die etwa im Osten Deutschlands in Vollzeit für relativ wenig Geld arbeiten gehen und trotzdem hohe Abgaben zahlen müssen.


Ergänzung: Ein vierter Gedanke kann m. E. sogar noch darauf hinauslaufen, dass Empathie mit afrikanischen Migranten nicht automatisch zum Befürworten einer Einwanderung in die EU führen muss. Man kann aus Empathie mit afrikanischen Staaten auch die Unterstützung vor Ort, einen fairen Handel und eine bessere Entwicklungshilfe befürworten.


[*] In der ersten Version dieses Textes habe ich für wenige Minuten das »Abholen« der Migranten durch NGO-Schiffe zwölf Seemeilen vor der Küste Libyens erwähnt. Das war polemisch und es ist für den Artikel nutzlos. Deshalb habe ich den Satzteil gestrichen.



Tendenziöse Nachricht: »Harter Hund« aus Bayern soll neuer BAMF-Chef werden

18. Juni 2018

Der Montag beginnt mit den Nachrichten des Deutschlandfunks. Man verwendet dort die interessante Quellenangabe »laut übereinstimmenden Medienberichten« und führt aus:

Demnach erhält den Posten der Leiter des Fachreferats für Ausländerrecht im bayerischen Innenministerium, Sommer. Dieser werde in Fachkreisen als sogenannter »harter Hund« beschrieben, der abgelehnte Asylbewerber schneller ausweisen und Migranten stärker auf terroristische Kontakte hin überprüfen lassen wolle.

[Quelle im Original]

Jemand hat eine dezentrale Sicherungskopie in einem Webarchiv angelegt.


[Ergänzung]: Der DLF hat die Meldung am 18.06.2018 ungefähr um 07.30 Uhr intransparent geändert. Das Zitat lautet nun:

Demnach erhält der Leiter des Fachreferats für Ausländerrecht im bayerischen Innenministerium, Sommer, den Posten. Dieser sei in Fachkreisen für eine harte Linie gegenüber abgelehnten Asylbewerbern bekannt, hieß es.

Die Überschrift lautet nun: »Jurist aus Bayern soll neuer Chef werden«. Kein »harter Hund« mehr.


Meine erste Kritik an der Meldung: Aus journalistischer Sicht ist es höchst unseriös, die konkrete Quelle in den gesendeten Nachrichten nicht zu benennen. Auf Nachfrage haben Social-Media-Mitarbeiter des DLF getwittert:

Über den Wechsel hatten unter anderem die dpa, „Bild am Sonntag“ und „Focus Online“ berichtet, Quelle für das Fachkreise-Zitat ist der „Focus“.

[Quelle]

Aber es wurde so nicht gesendet.


Meine zweite Kritik an der Meldung: Selbst wenn man als Quelle die Illustrierte »Focus« nennen würde, bleibt es eine kolportierte Zuschreibung von Eigenschaften. Wer diese Information mit welchem Ziel in die Welt gesetzt hat, wurde durch den DLF nicht überprüft. Wenn das aber nicht überprüft wurde, gehört es nicht in die DLF-Nachrichten!


Meine dritte Kritik an der Meldung: Sie informiert nicht, sondern sie macht das Publikum voreingenommen. Sie spaltet und polarisiert, ohne irgendeinen Nachrichtenwert zu haben. [Ergänzung nach kritischer Nachfrage von @Sektordrei via Twitter: Die Meldung wird als tendenziös wahrgenommen.]

Die Anhänger der Politik des Innenministers Horst Seehofer werden vermutlich froh sein, dass da mal jemand so richtig durchgreift. Manche werden noch einen draufsetzen: dass der Wechsel zu spät erfolgt und die Härte bei weitem nicht ausreicht.

Die Gegner der Politik des Innenministers Horst Seehofer (etwa SPD, Linkspartei, Grüne, Linksradikale etc.) werden unterstellen, dass im BAMF ein Law-and-Order-Chef installiert werden soll, der Migranten ungerecht und hart behandeln will.

Warum lässt man den Beamten nicht erst mal seine Grundsätze vorstellen und seine Arbeit machen? Dann kann man die Ergebnisse beurteilen.


Davon abgesehen gibt es im Deutschlandfunk immer noch viele interessante und informative Sendungen. Aber ich werde in Zukunft noch genauer hinhören.



Alexander Grau »Hypermoral«: Diskussion und Lesung im Buchhaus Loschwitz (2)

25. März 2018

Im zweiten Teil der Lesung stellte Alexander Grau sein Buch »Hypermoral – Die neue Lust an der Empörung« vor und las aus einem Kapitel.


Die Notizen zum Inhalt des vorgelesenen Kapitels würden den Rahmen dieses Beitrags sprengen, deshalb folgt hier zunächst die kurze Inhaltsangabe der 128 Seiten:

Das Buch beginnt mit einem kurzen Vorwort und einer kurzen Einleitung. Darin beschreibt Alexander Grau unter anderem dieses Symptom der Gesellschaft des Hypermoralismus:

Technische, wissenschaftliche oder ökonomische Probleme werden zu moralischen Fragen umgedeutet und in einen Jargon aufgekratzter Moralität überführt. Insbesondere Möglichkeiten der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung sind, zumal in Deutschland, kaum noch sachlich zu diskutieren: Wer, um nur ein Beispiel zu nennen, hierzulande die Chancen der Gentechnologie in der Medizin und in der Landwirtschaft diskutieren möchte, der hat von vornherein verloren, denn allein dieses Ansinnen gilt als Häresie. Hier hat man nicht nachzudenken, hier hat man sich zu bekennen.

Das Vorwort und die Einleitung können Sie als Leseprobe nachlesen.


Die Kapitel eins bis drei beschreiben die Steigerung von der Moral über den Moralismus zur Hypermoral. Im vierten Kapitel geht es um den Moralismus als Religionsersatz. Im fünften Kapitel befasst sich der Autor mit Hypermoralismus und Individualismus, im sechsten mit Hypermoralismus und Massengesellschaft und im siebten Kapitel ist der Höhepunkt erreicht: die »dauererregte Gesellschaft«. Ein Zitat aus Kapitel drei sei noch gestattet:

Eben weil der neue Moralismus sich selbst nicht als Ideologie sieht, sondern als Lehre des evident Guten, entwickelt er besonders penetrante Formen, den weltanschaulichen Gegner zu diskreditieren. Sahen traditionelle Ideologen im Abweichler entweder einen vom rechten Glauben abgefallenen Ketzer oder schlicht einen Ungläubigen und weltanschaulichen Gegner, so stempelt der Moralismus seinen Widersacher zum Opfer seiner persönlichen oder sozialen Prägung oder diskreditiert ihn schlicht als minderbemittelt, unreflektiert oder von Vorurteilen getrieben.


In der kurzen Fragerunde war die Stimmung folglich nicht eben euphorisch. Das Publikum schien sichtlich beeindruckt vom Fazit des eben gelesenen siebten Kapitels.

Dieser Zug ins Autoritäre ist individualistischen Emanzipationsgesellschaften immanent. Aus dem Streben nach Selbstverwirklichung wird das Diktat der Offenheit. Und aus der Befreiung aus tradierten Vorstellungen die Gefangenschaft im Zeitgeist.

Es ging in der Diskussion unter anderem um die Rolle der Linken, die ja in früherer Zeit in der Vertretung der Interessen des Proletariats, dessen Bildung und Emanzipation bestand. Die neue Linke im Zeitalter des Hypermoralismus, so Alexander Grau, erfinde Minderheiten und generiere Probleme.

Hypermoral und Politik: Alexander Grau verweist in der Diskussion und im Buch auf die Debatte um den ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, der am Rande einer Reise offen gesagt hatte, dass militärisches Eingreifen auch Handelswege und deutsche Interessen sichert. Köhler musste nicht zurücktreten, weil ihm eine fehlerhafte Aussage nachgewiesen worden wäre. Köhler musste zurücktreten, weil seine sachlich richtige Aussage als unmoralisch und unsagbar eingestuft wurde.

Es wurde noch einmal auf den Unterschied zwischen Moral und Hypermoralismus verwiesen: Moral sei immer einengend gewesen, während der Hypermoralismus im Mantel der Freiheit daher käme.


Am Ende der Lesung stellte eine Zuschauerin die Frage: Wie soll es denn nun weitergehen? Gibt es Auswege aus dem Hypermoralismus? Ist der Trend umkehrbar? Die Antwort fiel dem Autor und der Gastgeberin sichtlich schwer. Schließlich sagte jemand sinngemäß, es müsse wie im Märchen die Erkenntnis kommen: »Die Kaiserin ist ja nackt.«

Die bestmögliche Wirkung des Buchs wäre eine gelassene und entschiedene Trotzreaktion der Leser: So einfach nehmen wir die Hypermoral nicht mehr hin.

Dafür ist dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen. Es ist zum einen so gut geschrieben, dass es die richtigen Trotzreaktionen auslösen kann. Es ist zum anderen auch gut gestaltet: Der Text ist in einer sehr gut lesbaren Schrift auf kleinen Seiten gesetzt. Der Satzspiegel ist gut ausbalanciert. Ich habe einen Schreibfehler und keinen Satzfehler gefunden ;-)

Das Kulturhaus Loschwitz wollte seine Zuhörerinnen und Zuhörer nicht ohne Trost in den Abend und ins Wochenende schicken. Der vorletzte Satz des Abends war folglich das Hölderlin-Zitat »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«

Geheimtipp: Ein erstes Gegengift hat die Buchhändlerin nebenan im Angebot – man schaue im Buchhaus dort nach, wo an der Supermarktkasse die Süßigkeiten liegen würden: Das unscheinbare Heftchen heißt »Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft«, kommt vom Reclam-Verlag und kostet sechs Euro. Zur Immunisierung braucht es freilich mehr: Bücher, Gedanken, Entscheidungen und Taten.


Der allerletzte Satz des Abends war: »Bleiben Sie trotz allem empört!« – und das hatte nach dieser Lesung natürlich eine ironische Note. Denn wenn wir etwas gegen den Hypermoralismus tun wollen, müssen wir zuerst unsere eigene Empörung kontrollieren. Alexander Grau schreibt im Vorwort zum Buch, dass man sich nicht über etwaige Gutmenschen ereifern solle und fährt fort:

»Denn die dabei zum Ausdruck kommenden Ressentiments tragen wenig zur Klärung des Phänomens bei. Im Gegenteil. Sie bedienen letztlich die gleichen Emotionalisierungsmechanismen wie der Hypermoralismus selbst. Auch Empörung über Empörung ist Empörung. Das führt dazu, das Phänomen falsch einzuordnen.«

Deshalb werde ich in der kommenden Woche einen dritten Teil des Artikels schreiben, in dem ich meine eigenen Gedanken zum Leben mit der Hypermoral aufschreibe. Denn wenn es uns 1989 am Ende der DDR gelungen ist, einen diktatorisch-hypermoralischen Staat zu überwinden, dann müsste man doch heute auch etwas mehr tun können, als sich über die Hypermoral in einer ungleich freieren Gesellschaft zu empören.


Es folgen noch einige Quellen und Denkanstöße, die nicht mehr in den Text passten, aber weiterführend wichtig sein könnten. Der obligatorische Warnhinweis: Wer das liest, könnte mit der Hypermoral in Konflikt kommen.


[Exkurs 1]: Es gibt ein Interview mit Alexander Grau im Deutschlandfunk (Ende 2017). Dort spricht Grau unter anderem über seine Motivation:

Vor dem Hintergrund dieser teilweise eskalierenden Debatten in vielen politischen, aber auch ganz privaten Bereichen ist es, glaube ich, notwendig, sich die Mechanismen, die dazu geführt haben, vor Augen zu führen. Das ist ein Stück weit unvermeidbar, dieser Hypermoralismus, den ich meine zu analysieren. Aber man kann ihn vielleicht dadurch etwas entschärfen, dass man sich über das Phänomen überhaupt klar wird, und dass man versucht zu verstehen, wie es dazu in unserer Gesellschaft kommen konnte.


[Exkurs 2]: Es kommt eher selten vor, dass die Leitmedien einen Gastautor zu Wort kommen lassen, der sich gegen einen Aspekt des Hypermoralismus ausspricht. Die »Sächsische Zeitung« hat das trotz (oder sogar wegen) der Tellkamp-Debatte getan. Auch hier ein Zitat aus dem Text:

Natürlich ist es die freie Entscheidung von Tellkamp, zu schweigen und die Lesungen abzusagen. Der Mainzer Historiker Andreas Rödder charakterisiert diese „Freiheit“ als eine »technische«:

Es heißt immer, in Deutschland könne man alles sagen. Das stimmt, allerdings nur in einem technischen Sinne. Eine offene Debatte erfordert mehr als das, nämlich Respekt für die Meinung des anderen, auch und gerade, wenn sie mir nicht gefällt.

Diesen Respekt erhielt Tellkamp nicht. Darum ist der Sieg der empörten Feuilletonisten eine Niederlage der offenen Gesellschaft, weil er ihre Offenheit einschränkt.


[Exkurs 3]: Der unvergessene Blogger und emeritierte Professor Zettel schrieb in »Zettels Raum« im Sommer 2012, als hätte er unsere Zeit und Alexander Graus Buch vorhergesehen:

Hier läge ein großes Potential für eine liberale Partei; eine Partei, die beispielsweise in der Sarrazin-Debatte die Position bezogen hätte: Wir teilen nicht unbedingt die Meinung Sarrazins; aber er hat Anspruch darauf, daß man ihn fair und mit Respekt behandelt und daß seine Thesen sachlich diskutiert werden.

Diese liberale Partei fehlt bis heute: Die FDP zeigte zwar zarte Ansätze, hatte aber in den letzten fünf Jahren vor allem mit sich selbst und ihrem Wiedereinzug in den Bundestag zu tun.

Wer die Wahlentscheidung zu hundert Prozent am Eintreten für Pluralismus und Freiheit ausrichten wollte, müsste seine Stimme ungültig machen. Wählen bedeutet heute mehr denn je: »das geringere Übel ankreuzen«.


[Exkurs 4]: Der Autor dieser Zeilen positioniert sich zum Schluss als sächsischer Liberaler, der dem neuen Ministerpräsidenten Kretschmer bis zur nächsten Wahl im Frühherbst 2019 den bestmöglichen Verlauf der Regierungsgeschäfte wünscht.

Denn die linke Seite des politischen Spektrums in Sachsen kann seit 25 Jahren nicht viel mehr als »Empörung über die CDU zeigen« – das ist Hypermoral mit dem Horizont eines Suppentellers. Die sächsische AfD kann in ihrer heutigen Verfassung auch nur Empörung, aber sicher nicht Regierung.

Michael Kretschmer zieht zur Zeit durch Sachsen, hört den Menschen zu, und zwingt seine Ministerialbürokraten zum Zuhören. Es bleibt zu wünschen, dass er gut zuhört und bis zum Spätsommer 2019 noch etwas schaffen kann. Kretschmer verteufelt die AfD nicht, sondern er will ihr mit Argumenten begegnen:

Wir müssen wegkommen vom gegenseitigen Beschimpfen – und in der Sache diskutieren.

Michael Kretschmer wird auch Fehler machen und er wird die sächsische CDU sicher nicht zu einer perfekten Partei machen können. Aber vielleicht wird sie für die relative Mehrheit der Wähler doch wieder etwas Besseres als das geringste Übel. Unserem Freistaat ist es zu wünschen.



Alexander Grau »Hypermoral«: Diskussion und Lesung im Buchhaus Loschwitz (1)

25. März 2018

Der Autor Alexander Grau ist vielen Lesern aus dem Magazin »Cicero« bekannt. In seiner Kolumne »Grauzone« befasst er sich mit Pluralismus, Meinungsfreiheit und dem Niveau der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten. Seine Aussage

»Denn Meinungsfreiheit, wirklich ernst genommen, ist nicht nur die Freiheit, eine Meinung zu haben. Meinungsfreiheit ist erst dann Meinungsfreiheit, wenn die andere, die abweichende Meinung zumindest als legitime Äußerung wahrgenommen wird. « [Quelle]

könnte als Motto über der Kolumne stehen. Alexander Grau setzt sich gegen den Ausschluss von Personen aus der Diskussion ein, ohne deren Position zu übernehmen. Nachdem der Auftritt eines AfD-Vordenkers am Hannah-Arendt-Center in New York von linken Intellektuellen ohne schlüssige inhaltliche Begründung als Fehler kritisiert wurde, schrieb Grau:

Die akademische Linke wehrt sich gegen den Verlust ihrer Diskurshoheit, die sie de facto zumindest in den Geisteswissenschaften Europas und Nordamerikas hat. Dem drohenden Verfall dieser linken Diskurshegemonie versucht man mit Ächtung und Isolierung zu begegnen. Dass man damit die Analyse der so gern Geächteten nur bestätigt, muss als Ausdruck intellektueller Agonie gedeutet werden. [Quelle]

So wundert es nicht, dass sich Alexander Grau nach den Ereignissen auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2017 als Teil einer Minderheit der deutschen Journalisten kritisch zu den linken Übergriffen äußerte:

So gesehen war das, was sich vergangene Woche auf der Frankfurter Buchmesse abspielte, ein Armutszeugnis des etablieren Kultur- und Literaturbetriebes, zumal sich dieser gern als wackerer Kämpfer für Pluralismus und Demokratie geriert. [Quelle]

Mit dieser Grundeinstellung passt Alexander Grau gut zu seinen Gastgebern: Susanne Dagen und Michael Bormann schaffen im Kulturhaus und in der Buchhandlung Loschwitz Räume für Kultur, Bildung und Meinungsfreiheit. Der NZZ-Autor Marc Felix Serrao ist Mitte März nach Dresden gekommen, hat sich selbst ein Bild von den Loschwitzer Verhältnissen gemacht und einen gelungenen Artikel verfasst.

Wenn an Serraos Artikel aus Sicht des Kunden ein klein wenig Kritik geübt werden muss: Es fehlt eine kurze Beschreibung der Vielfalt des Angebots. Den beschriebenen »zwanzig Zentimetern« mit Büchern rechter Verlage stehen viele Meter mit anderer Literatur gegenüber, ausdrücklich auch linksliberale und emanzipatorische Bücher. Jeder kann sich selbst davon überzeugen: Das Buchhaus Loschwitz ist keine »rechte« Buchhandlung. Nebenbei: Der typische linke Berliner Kiezbuchladen ist mit Sicherheit nicht so pluralistisch aufgestellt.

Die Liste der bisher im Buchhaus Loschwitz aufgetretenen Autorinnen und Autoren ist beeindruckend. In der aktuellen Reihe mit Lesungen aus politischen Büchern war u. a. die Politikberaterin und ehemalige Grünen-Politikerin Antje Hermenau zu hören.

Der Raum im Kulturhaus Loschwitz liegt im Dachgeschoss eines ausgebauten alten Hauses aus der Zeit, als der heutige Stadtteil Loschwitz noch ein Dorf an der Elbe war. Er fasst etwa sechzig Personen.

Die meisten Plätze waren augenscheinlich reserviert. Vor Beginn der Lesung wurde die Besetzung der Plätze optimiert – den später Angekommenen wurden noch Hocker und Treppenplätze angeboten. Als Susanne Dagen um 20.00 Uhr mit der Einleitung begann, war der Raum also bis auf den letzten Platz gefüllt.


Dem einleitenden Satz »Wir sprechen über die neue Lust an der Empörung« folgte umgehend ein Querverweis auf Stéphane Hessels französische Kampfschrift »Empört Euch«. Es sollte bei weitem nicht der einzige Verweis auf Vertreter der linken Seite des politischen Spektrums bleiben.

Tatsächlich gab es am ganzen Abend nur ein einziges Halbzitat von Rolf Peter Sieferle, den man sicher als rechten Autor einordnen kann. Auf der anderen Seite haben Gastgeberin, Gastautor und Fragesteller aus dem Publikum die linken Denker Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Michel Foucault insgesamt weit mehr als ein Dutzend Mal erwähnt.

Susanne Dagen ist bekanntlich seit der »Charta 2017« in der Öffentlichkeit nicht unumstritten: Sie nahm das Motto »Empört Euch« nicht in dem Sinne auf, wie es im Kulturbetrieb und in den Medien gern gesehen wird. Sie zeigte im Interview mit dem Elbhangkurier Verständnis für die erste Phase der Pegida-Bewegung:

Ich sympathisiere mit denen, die seit zwei Jahren auf die Straße gehen. Wenn die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen und das Ringen um Verständnis Pegida-nah ist, dann bin ich es. 2011 ist »Empört euch« von Stéphane Hessel erschienen, da haben alle gejubelt: Man solle seiner Empörung Raum geben, man solle sich aufbäumen, sichtbar werden! […] Ich kann mich nicht damit abfinden, dass man Leute aufgrund ihrer Bildung, ihrer Herkunft, ihrer Ausdrucksform und ihrer Meinung stig­matisiert.

Obwohl sich Susanne Dagen nicht mit Pegida-Führer Lutz Bachmann solidarisierte, brachte ihr dieses Interview heftige und in Teilen unfaire Kritik ein. Die Mehrheit der Kulturjournalisten und der Menschen im Kulturbetrieb würde wohl bis heute eine positive Bewertung der Ereignisse im Umfeld des Hamburger G20-Gipfels wohlwollend abnicken oder zumindest großzügig nachsehen. Ein Verständnis für die Sorgen und Nöte der Pegida-Teilnehmer ist dagegen unverzeihlich.


Womit wir beim Thema des Abends angekommen sind: Alexander Grau beschreibt in seinem Buch ein Klima der Hypermoral, in dem der bisher als selbstverständlich hingenommene Pluralismus verteidigt werden muss.

In den ersten Minuten des Abends tasteten sich Susanne Dagen und Alexander Grau an die Begriffe heran: Moral, Moralismus, Hypermoral können als Steigerungsformen betrachtet werden. Ein charakteristisches Zitat aus dem Gespräch:

»Der Moralismus duldet neben sich keine Götter. Der Moralapostel weiß, was gut für ALLE ist.«

Die Hypermoral wird als Folge der Säkularisierung beschrieben: Ein großer Teil der Gesellschaft trennt sich zumindest geistig von der Religion, die Gesellschaft zerfällt in »Moralmilieus der Moderne«. [Nachgedanke: Es ist nicht nur die Säkularisierung. Auch die »wissenschaftlichen Weltanschauungen« der Linken haben keine große Bedeutung mehr].


Eine herrschende Moral gab es zu allen Zeiten: Was ist nun die neue Qualität des Hypermoralismus? – Bisher gab es über der Moral die Leitnormen der Tradition und der Religion. Heute werde, so Alexander Grau, die Moral selbst zur Herrscherin des Diskurses. Moral wende sich gegen die Tradition und begründe sich selbst.

Ein Kennzeichen des Hypermoralismus ist für Alexander Grau, dass gesellschaftlichen Streitfragen wie Gentechnologie, Atomenergie oder Energiewende moralisiert werden. Die herrschende Moral verdrängt andere Arten des Diskurses. Der Moralist steht in einer starken, ja übermächtigen Position und muss diese nicht rational begründen. Das führt zu einer »diskursiven Monokultur«. Gesellschaftliche Diskussionen werden eher emotional als rational geführt.

Konsequenterweise geht Alexander Grau schonungslos auf die Rolle der Kirchen in der Gegenwart ein. Im Zuge der Säkularisierung sei es zu einem Rückgang der traditionellen Frömmigkeit gekommen und traditionelle Glaubensformen würden in Zweifel gezogen. Die Evangelische Kirche sei politisiert worden und habe sich (zugespitzt formuliert) zu einer Moralagentur entwickelt.


Als Beispiel zur Rolle der Massenmedien wurde das Echo auf die Diskussion mit Uwe Tellkamp und Durs Grünbein am 08. März 2018 herangezogen. Etwas später am Abend kam die Rede auf die »mediale Strategie des bewussten Missverstehens von Sprechakten«, auf die »moralische Verurteilung des Wörtlich-Verstandenen« mit moralischer Ächtung und Diskursabbruch

Der Hypermoralismus sei auch ein Medienphänomen: Medien seien immer (auch) Unterhaltungsmedien, die letztlich von Skandalen und Skandalisierung immer noch am besten leben. Nach der inhärenten Logik der Medien werde der Skandal benötigt.

Manchmal muss der Blick einige Jahrzehnte in die Vergangenheit gerichtet werden: Alexander Grau wies darauf hin, dass philosophische Streitgespräche wie in den 1960er oder 1970er Jahren im heutigen Fernsehen schlicht undenkbar wären. Er verwendete dafür als Beispiel das Streitgespräch »Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?« zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen.

Alexander Grau konstatierte eine »Homogenisierung der Meinung« ab den 1980/90er Jahren und blickte auf zwei gescheiterte medienpolitische Großversuche zurück: Konrad Adenauer wollte das ZDF als Gegenpol zur »linken« ARD aufbauen, Helmut Kohl das Privatfernsehen als weltanschauliches Gegengewicht zu den öffentlich rechtlichen Sendern. Grau sah allerdings im »Zwangsgebührenprinzip« keine negativen Auswirkungen auf den Pluralismus: Letztlich könne mit oder ohne Zwangsgebühren eine Monokultur der Meinungen entstehen.


Wer dem Hypermoralismus auf den Grund gehen will, muss sich die Machtfrage stellen. Früher gab es die Monarchie oder die Diktatur mit machtausübenden Gruppen bzw. Einzelpersonen. Heute gibt es kein derartiges Machtzentrum und keine Zentralisierung einer Macht hinter der Hypermoral [den ironischen Seitenhieb auf die Förderpraxis des BMFSFJ für diverse Interessengruppen konnte sich Alexander Grau allerdings nicht verkneifen]. Angelehnt an Alexis de Tocqueville sagte er zum Thema Machtausübung über Meinungen:

»Die neue Tyrannei der Meinung ist nicht: Keiner wird dir das Wort verbieten. Die neue Tyrannei ist: Keiner wird mehr mit dir reden.«


Hinweis: Dieser Artikel wird fortgesetzt. Vor dem zweiten Teil des Berichts werde ich aber das Büchlein zu Ende lesen, eine kurze Inhaltsangabe verfassen und dann am Ende noch die Diskussion beschreiben.

[Zum Teil 2 bitte hier entlang.]



Was ist die EU-Politik der SPD wert?

8. Dezember 2017

Der Vorsitzende Martin Schulz fordert gestern in einer Parteitagsrede »Vereinigte Staaten von Europa« bis 2025 selbst um den Preis des Austritts von EU-Staaten. Jeder kann sich ausrechnen, wie viele Jahre es bis dahin noch sind.

Martin Schulz will einen Weg gehen, der bereits beim ersten Hinschauen große Zweifel aufkommen lässt. Die FAZ gibt es so wieder:

Der Verfassungsvertrag müsse von einem „Konvent“ geschrieben werden, der die „Zivilgesellschaft“ mit einbeziehe. Die Mitgliedstaaten, die nicht zustimmten, müssten die EU „automatisch“ verlassen.

Wenn Berufspolitiker »Zivilgesellschaft« sagen, dann ist mir unmittelbar klar, dass sie damit nicht das Volk meinen. Dann meinen sie bestenfalls Interessenvertreter aus Verbänden und Repräsentanten der klassischen politischen Parteien. Von den sogenannten GONGOs (das sind staatlich finanzierte Pseudo-NGOs) gar nicht zu reden.

Das bedeutet: genau die Interessenvertreter und Repräsentanten, die sich fast überall in Europa von der eigentlichen Bevölkerung entfernt haben und in einer Legitimationskrise stecken. Deutliche Zeichen dieser Krise sind die Stimmen für den Brexit und für die populistischen Parteien auf beiden Seiten des politischen Spektrums.

Ein solcher Konvent wäre demokratisch kaum zu legitimieren und in der Praxis vermutlich auch kaum arbeitsfähig. Gesetzt den Fall, dass dabei grob geschätzt 20 EU-Staaten mit 400 Millionen Menschen mitmachen würden: Wie sollen bitte alle wesentlichen Schichten der Bevölkerung, alle regionalen ethnischen Gruppen und die politischen Hauptrichtungen auch nur annähernd repräsentiert werden?

In der Bevölkerung Deutschlands wünscht sich definitiv keine verfassungsändernde Mehrheit einen EU-Staat, wie man z. B. an der sehr schwachen Beteiligung an »Pulse of Europe« sehen konnte. Deutschland müsste also Repräsentanten entsenden, die bei weitem nicht für die ganze Bevölkerung stünden.

Ich bin gegen den Brexit, ich bin gegen den Populismus von rechts und links, ich bin für eine behutsame europäische Einigung durch wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Es mag sein, dass bis zum Jahr 2050 oder 2075 der Wunsch nach einem EU-Staat entsteht. Aber unter Zeitdruck, Kostendruck und Einigungsdruck wird die EU eher explodieren.


Welche Motivation könnte hinter dieser offensichtlich unerfüllbaren Forderung des Martin Schulz stehen? Ich mag nicht spekulieren – aber mit politischem Realismus und Realpolitik hat Martin Schulz‘ Forderung nichts zu tun.

Einerseits ist es menschlich nachvollziehbar, dass er Europa einen Einigungsprozess wünscht. Andererseits muss ihm nach seiner jahrelangen Tätigkeit in den EU-Institutionen klar sein, dass der größte Teil Europas dabei nicht mitziehen will oder gar nicht mitziehen kann. Jedenfalls nicht bis 2025 und unter Druck.


In dieser Situation gibt die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles ein Interview im Deutschlandfunk. Darin ist praktisch gar nicht mehr von den »Vereinigten Staaten von Europa« bis 2025 die Rede, sondern nur noch von überschaubaren politischen Zielen.

Wem sollen wir denn nun glauben?


Wichtige Interviews im DLF werden meist transkribiert. Das Interview mit Andrea Nahles sollte im Laufe des Tages hier verfügbar sein.

Als Nachtrag Andrea Nahles in voller Länge zu den »Vereinigten Staaten von Europa« ihres Parteivorsitzenden:

Nahles: Das ist ein langfristiges Ziel, das die SPD schon lange hat, und niemand wird bestreiten können, dass die institutionellen Grundlagen der Europäischen Union nicht mehr zeitgemäß sind. Deswegen ist das nächste, was wir anpacken müssen, ganz konkret die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Nächster Schritt muss auch sein, dass wir den EU-Haushalt zu einem Investitionshaushalt machen und auch soziale Mindeststandards realisieren, also eine Vertiefung. Und wir haben in den letzten Jahrzehnten erlebt vor allem eine Verbreiterung, eine Vergrößerung der Europäischen Union, und wir merken jetzt, dass das an Grenzen kommt. Deswegen ist das eine absolut wichtige Zielbeschreibung; das ist aber auch eine langfristige Zielbeschreibung.



Adventskalender [4]: Dimension und Ursachen der Hassrede

4. Dezember 2017

Der Adventskalender ist jetzt (mit Sprungmarken) eine eigene Seite, damit der Beitrag chronologisch gelesen werden kann.

Wenn Sie die ersten Teile schon gelesen haben, springen Sie bitte einfach an die Stelle des heutigen Beitrags.

Es geht heute vor allem um die Ursachen der Hassrede. Wenn wir nicht über die Ursachen reden, werden wir mit Hassrede nicht umgehen können.


Adventskalender [3]: Hassrede von allen Seiten

3. Dezember 2017

Die Einordnung einer Äußerung als »Hass« ist also i. d. R. subjektiv. Als »Hassrede« kann eine Äußerung definiert werden, die in der Allgemeinheit Ablehnung und Entrüstung hervorruft, weil soziale Normen verletzt wurden. Die rechtliche Bewertung einer Äußerung als legal oder illegal kann mehrere Gerichtsinstanzen beschäftigen. Das Bundesverfassungsgericht hat im August 2016 geurteilt (BVerfG 2016):

»Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit schützt nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen. Vielmehr darf Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen. Einen Sonderfall bilden herabsetzenden Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen.

In diesen Fällen ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktritt. Diese für die Meinungsfreiheit einschneidende Folge gebietet es aber, hinsichtlich des Vorliegens von Formalbeleidigungen und Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden.«

Aus dem weiteren Text der Urteilsbegründung geht hervor, dass die Gerichte sehr sorgfältig zwischen dem Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Meinungsfreiheit abwägen müssen, bevor sie eine Äußerung als rechtswidrige Schmähkritik einstufen. Das erscheint klug und weitsichtig:

Es wird immer polarisierende und umstrittene Äußerungen geben. Wenn Grundrechte miteinander kollidieren, hat das Bundesverfassungsgericht bisher meist im Sinne der Meinungsfreiheit geurteilt.


Adventskalender [2]: Wie es einmal war und wie es nie wieder werden wird

2. Dezember 2017

[Teil 1: Besseres Kommunizieren]

Ich hatte gestern versprochen, meine Argumentation aus dem Aptum-Artikel schrittweise vorzustellen und zu kommentieren. Der Artikel beginnt so:

Diskussionsgruppen und soziale Netzwerke bilden ein soziales Umfeld, in dem Informationen ausgetauscht werden. Zu Beginn waren die Gruppen exklusiv: Sie waren den wenigen Menschen vorbehalten, die einen Internetzugang hatten. Diese legten ihre Regeln selbst fest und setzten sie in einer Art Selbstverwaltung durch. […] Heute sind die sozialen Netzwerke nicht mehr exklusiv, sondern ein Spiegelbild (fast) der gesamten Gesellschaft. Die Regeln werden von wenigen großen Internetunternehmen vorgegeben und durchgesetzt. Der Staat strebt seit 2016/17 eine stärkere Regulierung an.

Gemeint sind damit die Newsgroups, zu denen ich kurz nach der Wende selbst gehören durfte. Zum einen waren das Gruppen für Unix und das Textsatzsystem TeX/LaTeX. Zum anderen waren es auch schon Gruppen über Religion, weil ich damals aus einer religiösen Sondergemeinschaft ausgestiegen bin und später anderen dabei geholfen habe.

In den Diskussionen im Netz hat es von Beginn an Konflikte gegeben. In diesen Konflikten wurden immer auch Äußerungen eingesetzt, die als beleidigend, provozierend und ausgrenzend aufgefasst werden können: um Macht zu demonstrieren oder Regeln durchzusetzen, aber auch um Personen zum Verstummen zu bringen oder sie sozial zu diskreditieren.

Es galt damals nicht als Grobheit, wenn man jemanden mit etwas deutlicheren Worten darauf hingewiesen hat, dass es eine FAQ gibt. Dass man bei Problemen mit LaTeX entweder ein lauffähiges Minimalbeispiel angeben oder lange auf Antworten warten muss. Dass es einen Preis für die nutzloseste Anwendung des Unix-Befehls »cat« gibt.

Diese Hinweise hatten einen technischen und ökonomischen Sinn: Arbeitszeit, Netzdurchsatz und Speicherplatz waren teuer. Deshalb wurden deutliche Worte verwendet, die vermutlich heute schon als Hassrede interpretiert werden könnten. Tatsächliche Beleidigungen waren verpönt und sie konnten zum Ausschluss aus der Gruppe führen.


Allerdings bekamen diejenigen, die sich dann doch nicht benehmen konnten, durchaus auch mal eine »Merkbefreiung« ausgestellt:

Die nachstehend eindeutig identifizierte Lebensform

Name                 : ____________________
Vorname              : ____________________
Geburtsdatum         : __________
Geburtsort           : ____________________
Personalausweisnummer: ____________________

ist hiermit für den Zeitraum von

        [_]  6 Monaten
        [_] 12 Monaten
        [_] 24 Monaten
        [_] unbefristet

davon befreit, etwas zu merken, d.h. wesentliche
Verhaltensänderungen bei der Interaktion mit denkenden Wesen zu
zeigen. 

[Quelle]


Letztlich war das aber keine Hassrede, sondern nur ein klares »Nicht weiter so!« – ich kann mich an manche Person erinnern, die vernünftiger zurück kam und dann wieder mitmachen durfte.

Wenn ich heute zurückblicke: Es war eine schöne Zeit. Die Welt im Netz war recht klein, die Welt außerhalb des Netzes hat uns weitgehend ignoriert. Weil niemand ausgeschlossen wurde und weil die Welt um uns herum kein Interesse am Netz hatte, kann man diese Gruppen im Grunde auch nicht als privilegiert bezeichnen.

Aus den Zeiten der Newsgroups stammt auch der heute antiquierte Begriff »Netiquette«. Diese Regeln wurden von Enthusiasten für Enthusiasten gemacht, von Gleichgesinnten für Gleichgesinnte, von Gleichen für Gleiche.


In meinem Artikel geht es zum Thema unerwünschte Äußerungen so weiter:

Derartige Äußerungen können je nach Perspektive unterschiedlich wahrgenommen werden: als Mittel zum Zweck, als unfaire Rhetorik, als kalkulierte Ausgrenzung oder auch als Hass.

Die Wahrnehmung einer Äußerung ist abhängig von den Werten und Normen des sozialen Umfelds sowie vom Bildungsstand, von der Qualifikation und nicht zuletzt von den persönlichen Werten und Normen der Adressaten:

Ein und dieselbe Äußerung kann als legitimer rhetorischer Kunstgriff, als beleidigend, als passend oder unpassend empfunden werden. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Einordnung auch vom persönlichen Kalkül, von politischen oder von geschäftlichen Interessen bestimmt sein kann.

… und die Fortsetzung (mit meiner Definition der Hassrede) folgt morgen.



Adventskalender [1]: Besseres Kommunizieren im Netz

1. Dezember 2017

Der Autor dieses kleinen Blogs wurde im Herbst um einen Beitrag in einer Fachzeitschrift für Sprachkritik gebeten. Im Vorwort schreibt der Gastherausgeber Prof. Joachim Scharloth (Dresden, Tokio):

»Stefanolix reflektiert in seinem Beitrag die Frage, inwiefern staatliche Maßnahmen geeignet sind, öffentliche Debatten zu regulieren. Als Blogger […] leistet er einen Beitrag zur Frage, wie die Beteiligten die Debatte um Hate Speech wahrnehmen und welche Lösungsansätze sie zur Bearbeitung von Hassrede favorisieren.«

Das Sonderheft ist inzwischen erschienen und es heißt »Hate Speech / Hassrede«. Es enthält interessante Beiträge und Denkanstöße, über die hier zu reden sein wird. Aber der Titel gefällt mir nicht mehr.


Im Advent 2017 möchte ich das Thema nicht nur positiv formulieren, sondern auch positiv bearbeiten. Deshalb heißt die Serie »Besseres Kommunizieren im Netz«: Wer die Risiken kennt und damit umzugehen versteht, wird auch in den Zeiten des Hasses einen Weg der Kommunikation finden. Die Nobelpreisträgerin Marie Curie soll gesagt haben

»Man braucht vor dem Leben keine Angst zu haben. Man muss es nur verstehen.«

Ich will in diesen 24 Tagen verstehen, was sprachlich und psychologisch hinter dem Phänomen der sogenannten Hassrede steht. Ich will versuchen, es Euch mit meinen Worten zu erklären. Ich will am Ende auch Strategien ableiten, mit denen man im Netz überleben und Mensch bleiben kann. Ich freue mich über alle positiven Hinweise.


Ein letzter Blick nach hinten: Es hat sich gezeigt, dass alle staatlichen Kampagnen gegen den »Hass im Netz« grandios gescheitert sind: Der Staat hat die falschen Anreize gesetzt. Aus politischen Gründen wurden die falschen Akteure beauftragt. Diese falschen Akteure haben dann auch noch die falschen Methoden eingesetzt.

Insgesamt wurde also weit mehr Schaden als Nutzen angerichtet. Aber auch hier will ich mich an Marie Curie halten:

»Ich beschäftige mich nicht mit dem, was getan worden ist. Mich interessiert, was getan werden muss.«

Wie würde ein vernünftiger Mensch an die Sache herangehen? Analysieren und verstehen, Ziele ableiten, Methoden auf ihren Nutzen untersuchen und am Ende vielleicht Ansätze für Erfolgsmethoden finden.


Geplant ist folgendes: Ich werde meinen eigenen Beitrag aus der Sprachzeitschrift in mehreren Abschnitten vorstellen und ergänzen. Ich werde als interessierter Quereinsteiger lesen und wiedergeben, was die Sprachwissenschaftler zu diesem Thema schreiben. Vielleicht werde ich zwei interessante Interviews führen.

Am 24.12. wird der Hass nicht aus dem Netz verschwunden sein. Aber vielleicht werden wir alle etwas mehr über die Hintergründe wissen. Und im besten Fall werden sich aus dem Verstehen Erkenntnisse für die nächsten Jahre ergeben. Mehr kann man von einem kleinen Adventskalender nicht erwarten.


[Teil 2]



Ja. Vieles ist schlecht. Aber wie geht es weiter?

24. Oktober 2017

Angeregt durch diese Ankündigung und die meisten darunter abgegebenen Kommentare habe ich eine kleine Provokation geschrieben.


Wollt Ihr auch darüber diskutieren, wie es konstruktiv weitergehen könnte oder wollt Ihr nur auf Versunkenes schauen?

Kontrollverlust. Vertrauensverlust. Soziale und ökonomische Verluste. Alles bekannt. Alles lange Zeit nicht für möglich gehalten. Aber ich behaupte: Das kann noch nicht alles gewesen sein. Dieses Land kann sich wieder fangen, kann eine Wende schaffen.

Schwarzmalerei habe ich genug gesehen. Wechseln wir mal den Pinsel: Unter welchen Voraussetzungen seht Ihr eine Chance für dieses Land?



Sachsen hat die geringste Kaiserschnitt-Rate

4. Oktober 2017

Die »Sächsische Zeitung« meldet:

In Sachsen entbinden im Bundesvergleich die wenigsten Frauen per Kaiserschnitt. Weniger als jede vierte im Krankenhaus Gebärende wurde im vergangenen Jahr der Operation unterzogen, wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch mitteilte.


Die Grüne Jugend protestiert: Diese Meldung ist hetero-normativ-sexistisch. Sie unterschlägt, dass auch Männer mittels Kaiserschnitt Kinder gebären können. Außerdem wurde ist der Begriff »Bund« nationalistisch und Vergleiche zwischen den Bundesländern sind wettbewerbsorientierte Kackscheiße. Die Meldung ist neu zu formulieren:

In Sachsen entbinden einige Gebärend_e per Kaiser_innen_Schnitt. Jede_s vierte im Krankenhaus Gebärend_e wurde im vergangenen Jahr der Operation unterzogen, wie das Amt am Mittwoch mitteilte.


Die AfD-Sachsen kommentiert:

Die niedrige Rate der Kaiserschnitte in Sachsen zeigt die enge Verbundenheit zwischen natürlicher Heimat und natürlicher Geburt. Jede sächsische Frau sollte mindestens drei Kinder ohne Kaiserschnitt zur Welt bringen. (Und Frauke Petry sollte samt all ihren Kindern schnellstens aus Sachsen verschwinden.)


Mehrere Studierende der Hochschule für Bildende Künste fanden sich auf dem Neumarkt zur spontanen Brecht-Performance »Der Schoß ist fruchtbar noch« zusammen.


Die Tagesschau meldete am Abend:

Wie eine Untersuchung der Heinrich-Böll-Stiftung zeigt, lehnen die Sachsen moderne Geburtstechniken aufgrund latenter Fortschrittsängste und starker rechtsradikaler Tendenzen weitgehend ab.

[Danke an Helge!]


Der Tagesspiegel-Journalist Matthias M. kommentiert:

Die niedrige Rate der Kaiserschnitte in Sachsen ist letztlich ein Ergebnis der selbstgefälligen und rückwärtsgewandten CDU-Politik. Die zivilgeburtlichen Gruppen müssen mit viel mehr Geld gefördert werden. Das ist aber letztlich nur in einer #R2G-Koalition unter Führung der Linkspartei möglich.


Das Göttinger Institut für Geburtsforschung soll nun die niedrige Rate der Kaiserschnitte in Sachsen im Auftrag der Ostbeauftragten der Bundesregierung untersuchen. Man einigte sich auf die Befragung von 15 Erstgebärenden in drei alternativen Geburtshäusern, die keine Kaiserschnitte durchführen. Es bestünde weiterer Bedarf an Fördergeld, sagten die Forscher_innen am Rande einer Pressekonferenz.


Bleibt am Ende Claudias Frage:

Sollten Sachsen sich weiter vermehren dürfen?


Es kommen noch Ideen für Ergänzungen. Sie werden unter dieser Anmerkung eingefügt.


Ministerpräsident Tillich hat auf die niedrige Rate der Kaiserschnitte in Sachsen reagiert. Er sagte im Deutschlandfunk, man dürfe »nicht allein den Weg über die Mitte gehen«. Tillich:

Gehen Sie mal davon aus, dass die sächsische Union das Ziel hat, in diesem Ranking auch 2019 an der Spitze zu stehen.