Die Zeitschrift Cicero veröffentlichte gestern einen Gastbeitrag [Link] des Rechtsanwalts Georg Strate, der in den sozialen Netzwerken viel Aufmerksamkeit, Widerspruch und Zustimmung erhalten hat. Strate bezieht sich darin auf Georg Restles Beitrag »Plädoyer für einen werteorientierten Journalismus« [Link].
Aufmerksamkeit, Widerspruch und Zustimmung wurden nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass in dem Artikel das Wort »haltungsbesoffene Redakteure« vorkommt. Das ist in der Tat ungehörig: Man sagt als kultivierter Mensch natürlich »haltungstrunken« oder »haltungsberauscht« ;-)
Aufmerksamkeit, Widerspruch und Zustimmung hätte der Cicero-Gastbeitrag aber aus ganz anderen Gründen verdient: Gastautor Georg Strate schreibt streckenweise an Georg Restles Artikel vorbei und projiziert seine eigenen Urteile hinein. Das Wort »Haltung« kommt in Georg Restles Artikel nicht vor und für Strates Urteil
[Georg Restle] maßt sich und der journalistischen Zunft an, zu bestimmen, welche Haltung die einzig ›richtige‹ wäre und in der Folge Kollegen mit der ›falschen‹ Haltung aufs Abstellgleis zu befördern.
gibt es keine belastbare Grundlage. Georg Restles Artikel muss hart kritisiert werden, weil er als Führungskraft ein falsches Vorbild für die Journalisten des WDR entwirft. Aber er muss auch fair kritisiert werden. Zu Beginn seines Artikels schreibt Restle
Die Forderung an uns klingt dabei immer gleich: Objektiv sollen wir gefälligst sein, neutral und ausgewogen – als sei die Wahrheit ein Schatz in tiefer See, der nur noch gehoben werden muss.
Nun kann ich nicht beurteilen, welche Forderungen Georg Restle zu hören bekommt. Aber es ist unplausibel, wenn er den Kritikern die Vorstellung von einem »Schatz in tiefer See« unterstellt, nur um nachher ausführen zu können:
Es ist eine klare, einfache Vorstellung und sie würde uns die Arbeit erheblich leichter machen – nur der Wahrheit, oder was viele darunter verstehen, kämen wir damit wohl kaum näher.
Warum ist das unplausibel? Weil jeder vernünftige Mensch weiß, dass die reine Wahrheit ein Ideal ist, das niemals erreicht werden kann. Aber wir wissen auch, dass eine Medaille zwei Seiten und ein Würfel sechs Flächen hat. Und wir erwarten, dass Journalisten über beide Seiten der Medaille und über mindestens fünf Flächen des Würfels berichten.
Indem Georg Restle ein unerreichbares Ideal der reinen Wahrheit darstellt, senkt er sehr geschickt die Anforderungen an den Journalismus: Wenn das Ideal sowieso nicht erreicht werden kann, muss man sich folglich ein anderes Ziel setzen. Dieses neue Ziel lautet bei Restle aber nicht »Lasst uns jede Medaille einmal umdrehen und jeden Würfel aus mindestens fünf Perspektiven betrachten!«.
Georg Restles Ziel lautet vielmehr: Lasst uns »werteorientiert« und »nicht neutral« berichten. Das bedeutet: Es hängt nur noch von den Werten des Journalisten ab, ob er die Medaille umdreht und ob er den Würfel aus mehreren Perspektiven betrachtet. Bevor Restle dieses Ziel begründet, wirft er in seinem Artikel eine weitere Nebelkerze:
Wo sich fast jeder, der über einen Facebook- oder Twitter-Account verfügt, als Medium begreift und Meldungen sich im Millisekundentakt über die Welt ergießen, gleichrangig, ungeprüft und sofort tausendfach kommentiert, kommt Journalismus an seine physischen und psychischen Grenzen – und wird zunehmend manipulierbar.
Tatsache ist: Die meisten Äußerungen und Kommentare werden nur von ganz wenigen Menschen beachtet, weil ihre Absender keine Reputation haben und keine Interessenten (Follower) binden. Nur wenige Medien haben eine nennenswerte Reichweite und damit einen nennenswerten Einfluss.
Aber zur Manipulierbarkeit des Journalismus gibt es gerade heute ein sehr schönes Beispiel. In den Nachrichten des Deutschlandfunks und in vielen anderen Medien wurde vermittelt: Gesetzliche Krankenversicherungen bieten nach einer Studie oft bessere Leistungen als die privaten Krankenkassen.

Meldungen über eine Studie im Auftrag der Grünen (Klick auf das Bild vergrößert die Ansicht).
Tatsächlich handelt es sich um eine Auftragsstudie der Grünen, die am heutigen Morgen (28.12.2018) gar nicht veröffentlicht war. Sekundärquelle war ein Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland [Link], den man nur aufmerksam lesen musste, um die Schwächen der Studie zu erkennen.
Die Redaktionen hätten die Medaille also einfach nur umkehren müssen, um die Qualität der Studie und die Botschaft der Grünen zumindest zu hinterfragen. Nach Georg Restle wäre aber folgendes Vorgehen »wertorientierter Journalismus«: Wer gesetzliche Krankenkassen für wertvoller als private Krankenkassen hält und wer die Chancen der Grünen befördern möchte, wird als Journalist die Kehrseiten der Studie natürlich nicht hinterfragen. Denn mit Recherchieren macht man sich bekanntlich nicht nur die schönsten Geschichten kaputt, sondern man kann auch an die Grenzen der eigenen Werteorientierung stoßen.
Ich will hier nicht unterstellen, dass die deutschen Medien am Morgen des 28.12.2018 aus reiner Werteorientierung weitgehend dasselbe geschrieben haben. Möglich sind auch die Erklärungen Zeitdruck, Bequemlichkeit und Abhängigkeit von Agenturmeldungen. Aber an diesem Beispiel kann man gut zeigen, welche Gefahr darin liegt, wenn niemand mehr Wert auf die von Georg Restle gescholtene Objektivität legt. Restle beschreibt die Gefahr, dass
[…] Journalisten im Neutralitätswahn nicht mal mehr wahrnehmen, wenn sie längst zum verlängerten Arm derer geworden sind, die mit ihrem ständigen Beharren auf journalistischer Objektivität nur ihre eigene Agenda oder ihre eigenen Geschäftsinteressen im Sinn haben.
Das Beispiel der Studie über die Krankenkassen zeigt, wie wichtig diese obskure »Objektivität« ist: Mit der beauftragten Studie wollen die Grünen ihre Agenda (Gesetzliche Krankenversicherung und Bürgerversicherung) gegen die Private Krankenversicherung durchsetzen. Ein »werteorientierter Journalismus« lässt das so durchgehen, weil das bestellte und gelieferte Ergebnis der Studie zweifellos bestimmten Werten entspricht. An der Objektivität orientierter Journalismus schaut sich dagegen beide Seiten an und hinterfragt vor allem die Interessen der Auftraggeber der Studie. Georg Restle schrieb am 27.12.2018 auf Twitter ergänzend:
»Haltung rechtfertigt keine Lügen. Im Gegenteil: Journalistische Haltung setzt Wahrhaftigkeit voraus.« [Link]
Aber es geht hier gar nicht um den Gegensatz zwischen Wahrheit und Lüge. Es geht um das Weglassen eines Teils der Wahrheit, es geht um das Umdrehen der Medaille. Die Journalisten, die heute unkritisch über die Krankenkassenstudie berichtet haben, lügen ja keineswegs – sie lassen nur entscheidende Informationen weg. Der Deutschlandfunk verlas heute Morgen:
Gesetzliche Krankenversicherungen bieten nach einer Studie oft bessere Leistungen als die privaten Krankenkassen. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung im Auftrag der Grünen-Bundestagsfraktion, die dem Redaktions-Netzwerk Deutschland vorliegt. Danach wird selbst bei den teuren Premium-Tarifen der privaten Versicherer rund ein Viertel der Mindestanforderungen nicht erfüllt. Bei den gesetzlichen Kassen sind es nur drei Prozent. [Link]]
Was der Deutschlandfunk berichtet, ist keineswegs gelogen. Was aber fehlt: Wer hat die Mindestanforderungen festgelegt? Nach welchen Kriterien wurden die verglichenen Leistungen ausgewählt? Wie viele Leistungen gibt es insgesamt und wie viele davon wurden in die Studie einbezogen? Wie können sich privat Versicherte im Gegensatz zu gesetzlich Versicherten ihre Leistungen zusammenstellen? Wo sind eventuell die privaten Versicherungen besser? Und wie sehen die Beiträge im Vergleich aus? [Ergänzung am 29.09.2018: Link zur politischen Zusammenfassung der Auftragsstudie bei der Grünen-Bundestagsfraktion]
Georg Restle stellt sich und den Journalisten die Frage:
Die Frage lautet also, ob wir das wirklich wollen: nur abbilden, was die Kampagnenführer aus Staats-, Partei- oder Konzernzentralen multimedial verbreiten?
Die Antwort lautet: Viele Journalisten tun leider genau das! Sie verbreiten »Studien«, sie verbreiten die Antworten auf geschickt gestellte »Kleine Anfragen« der Opposition, sie verbreiten Pressemitteilungen der Interessengruppen. Entweder tun sie es aus »Wertorientierung« oder sie tun es aus Bequemlichkeit oder sie müssen es wegen des Zeit- und Leistungsdrucks tun.
Deshalb muss das Plädoyer lauten: Journalisten sollen aus ihren Möglichkeiten das Beste machen. Sie dürfen sich nicht an ihren persönlichen Werten orientieren, sondern sie müssen die Medaille wenigstens anheben, um zu schauen, was auf der anderen Seite verborgen sein könnte.
Abschließend noch ein Zitat, das die Intelligenz der Leserinnen und Leser, der Journalistinnen und Journalisten und im Grunde auch Georg Restles Intelligenz beleidigt:
»Und meinen wir wirklich, neutral und ausgewogen zu sein, wenn wir nur alle zu Wort kommen lassen, weil die Wahrheit schließlich immer in der Mitte liegt? Und wenn die Mitte immer weiter nach rechts wandert, liegt die Wahrheit eben bei den Rechten? Und wenn die Mitte verblödet, bei den Blöden?«
[…]
»Nein, mit einem solchen Verständnis von Journalismus will ich nichts zu tun haben, auch weil die Wahrheit höchst selten in der Mitte liegt – schon gar nicht in Zeiten des millionenfachen Geblökes der ›sozialen‹ Netzwerke.«
Kein vernünftiger Mensch hat jemals behauptet, dass die Wahrheit in der Mitte läge und dass jeder blökende Blöde zu Wort kommen müsse. Kein vernünftiger Mensch hat jemals die Position vertreten, dass dieses Zerrbild objektiven Journalismus darstelle. Das ist ja noch peinlicher als das nachgeschobene Carolin-Emcke-Zitat
»Das Mantra vom ›Wir versuchen nur darzustellen, was ist‹ zeugt keineswegs von selbstkritischer Objektivität, sondern von selbsthypnotischer Verantwortungslosigkeit.«
Es spricht (um zum Ende zu kommen) noch ein weiteres wichtiges Argument gegen »werteorientierten Journalismus«: Wer legt eigentlich die Werte fest? Heute sind unter Journalisten bestimmte grüne und soziale Werte hoch im Kurs. Eine maßgebliche Journalistin der ARD bejubelte ganz im Sinne der richtigen »Werteorientierung« die Stimmung auf einem Grünen-Parteitag und das neue Führungsduo der Grünen.
Aber in der DDR bekamen Journalisten andere Werte vorgegeben. Im heutigen Ungarn sind es für die Mehrheit der regierungsorientierten Journalisten noch einmal ganz andere Werte. Auch wenn sich beide Beispiele in vielerlei Hinsicht unterscheiden: Die Erfahrung zeigt, dass sich die meisten Journalisten den Werten der Regierung oder den Werten der Mehrheit anschließen. Wenn solche Zeiten anbrechen, ist jedes Stück handwerklich guter Journalismus Gold wert. Werteorientierte Haltung bekommt man dagegen hinterhergeworfen.
Was ich damit sagen will: Werte können sich schnell ändern, aber handwerklich guter Journalismus ist ein Wert an sich. Nur eine Minderheit der Journalisten hinterfragt heute noch mit ökonomischem und technischem Sachverstand komplexe Themen wie die Energiewende, die Verkehrswende oder die Geldpolitik. Sich dagegen »werteorientierte« Geschichten in der Art eines Claas Relotius auszudenken, ohne Recherche und Hintergrundwissen – das macht keine Arbeit. Man bekommt dafür Journalistenpreise und ein großes Lob von Georg Restle.
Ergänzung 1: Diesen Beitrag kannte ich beim Schreiben leider nicht: Georg Restle und das Verschwinden der Öffentlichkeit von Lucas Schoppe. Er erschien kurz nach dem auslösenden Beitrag von Georg Restle.