Lebensmittelvernichtung? – Die Unstatistik des Tages (08.09.2014)

In einem Bericht auf der Hochschulseite der »Sächsischen Zeitung« über studentische Lebensmittelretter wird heute folgendes Zahlenspiel veröffentlicht:

Deutschlandweit werden jedes Jahr mehrere Tonnen Lebensmittel weggeworfen. Allein gerechnet auf die deutschen Privathaushalte landen pro Jahr genießbare Speisen im Wert von 22 Milliarden Euro im Müll. Tendenz steigend. [Quelle]

Vermutlich hat die Autorin gemeint: Eine Anzahl Tonnen mit ganz vielen Nullen. Denn »mehrere Tonnen« kann ja offensichtlich nicht stimmen. Aber wen interessieren schon Zehnerpotenzen?

Über die Zahl von 22 Milliarden Euro scheint sich die Autorin dagegen ganz sicher zu sein – auch wenn sie dafür keine Quellenangabe bereitstellt. Wieder einmal gilt: Wer in unserer Qualitätspresse nicht nur wilde Zahlen konsumieren will, sollte sich informieren. Diese Zahl ist unter anderem auf der Website der Organisation »Foodsharing« zu finden, zu der die Dresdner Studenten gehören – aber ohne Quellenangabe und ohne Berechnungsgrundlage.


Es gibt zweifellos eine vermeidbare Verschwendung von Lebensmitteln in Deutschland – aber es gibt auch begründete Zweifel an den Zahlen, die solche Organisationen verbreiten. Zuerst habe ich mich daran erinnert, dass es schon mal eine Unstatistik des Monats gab, in der Walter Krämer sich mit diesem Thema befasst hat. Er schrieb unter anderem:

Bei näherem Hinsehen entpuppt sich aber auch ein großer Teil dieser verbleibenden Prozentsätze wie auch der von den Kirchen beklagten weggeworfenen 83 Kilogramm als unvermeidbarer oder teilweise unvermeidbarer Abfall wie beispielsweise Brotrinden oder Apfelschalen. So schätzt die Studie, auf die sich die Meldungen der Kirchen beziehen, dass nur 38 Kilogramm der von den Verbrauchern weggeworfenen Lebensmittel definitiv vermeidbar waren.

Also gibt es bereits ein großes Intervall, in dem die tatsächlich weggeworfene Lebensmittelmenge liegen könnte. Wenn aber schon die Menge so unsicher ist und wenn mit dem Preis eine weitere Unsicherheit hinzukommt, dann kann die Zahl von 22 Milliarden Euro nur hanebüchener Unsinn sein.


In der Unstatistik des Monats zu den Lebensmittelabfällen ist eine Studie im Auftrag der Bundesregierung verlinkt, auf die sich die Aktivisten offenbar beziehen. Dort wird im Abschnitt 2.4.4 zu den privaten Haushalten ganz offen festgestellt, dass darüber im Grunde überhaupt nichts Sicheres bekannt ist:

  1. Der Anteil an Lebensmittelabfällen deutschlandweit sei nicht bekannt.
  2. Der Anteil an Lebensmittelabfällen aus Haushalten in der Biotonne sei nur in Ansätzen vorhanden.
  3. Es seien keine Daten über den Anteil der Lebensmittelabfälle an der Mittel- und Feinfraktion in der Biotonne vorhanden.
  4. Daten zur Zusammensetzung der Lebensmittelabfälle (im Restmüll) nach Vermeidbarkeit seien nicht existent.
  5. Die Menge an Lebensmittelabfällen, die nicht ins kommunale Sammelsystem entsorgt werden, sondern eigenkompostiert, an Haustiere verfüttert oder in die Kanalisation eingebracht werden, seien nicht bekannt.

Wenn man schon nicht ansatzweise weiß, wie viele Kilogramm ein Haushalt wegwirft und wenn man erst recht nicht den Wertanteil dieser Lebensmittel kennt – wie will man dann den Gesamtwert der weggeworfenen Lebensmittel benennen? Man kann es einfach nicht! Trotzdem wird in der Studie ohne Quelle, Herleitung oder Rechenweg die folgende Behauptung aufgestellt:

Die Menge vermeidbarer und teilweise vermeidbarer Lebensmittelabfälle aus Haushalten in Deutschland entspricht einem Geldwert von 16,6 bis 21,6 Milliarden EUR pro Jahr bzw. rund 200 bis 260 EUR pro Kopf und Jahr. Für einen durchschnittlichen Vier-Personen Haushalt bedeutet das, dass pro Jahr vermeidbare und teilweise vermeidbare Lebensmittelabfälle im Wert von rund 935 EUR in Restmüll, Biotonne und Kanalisation entsorgt, eigenkompostiert oder an Haustiere verfüttert werden.

Und auf diese völlig aus der Luft gegriffenen Zahlen beziehen sich dann: Aktivisten, Qualitätspresse – und alle Zeitungsleser, die nicht nachprüfen, was sie da angeboten bekommen. Das letzte Wort sei Walter Krämer überlassen:

Fast noch bedenklicher aus ethischer Warte erscheint aber der kaum beklagte Umstand, dass allein in Deutschland jedes Jahr über 4 Millionen Tonnen Lebensmittel zu Kfz-Treibstoff verarbeitet werden.


2 Responses to Lebensmittelvernichtung? – Die Unstatistik des Tages (08.09.2014)

  1. mcnesium sagt:

    Ich bin mir sicher, dass der Haufen weggeworfener Lebensmittel aus den Haushalten nur ein Bruchteil des Haufens wegeworfener Lebensmittel ist, die es nicht mal in die Haushalte schaffen, weil sie zu groß, zu klein, zu krumm oder zu gerade sind, oder weil morgen früh der LKW mit der nächsten Lieferung kommt und darum Platz im Regal sein muss. Aber immer nur den Endverbrauchern ständig Verschwendung vorzuwerfen bringt offensichtlich mehr Klicks oder so.

  2. Paul sagt:

    Jeder Mensch muss um einigermaßen durch’s Leben zu kommen schreiben und rechnen können.
    Journalisten bei der SZ bilden eine Ausnahme, die müssen nur schreiben können.

    Der Bericht in der SZ macht deutlich, dass diese Studenten das „Rad neu erfunden haben“.

    In Deutschland gibt es den Bundesverband Deutsche Tafel e.V., dem 900 Tafeln im ganzen Bundesgebiet angehören, die schon seit vielen Jahren das machen, was diese Studenten „erfunden“ haben:
    >>Die Tafeln bemühen sich um einen Ausgleich:
    Sie sammeln „überschüssige“, aber qualitativ einwandfreie Lebensmittel, und geben diese an Bedürftige weiter. <>Die erste deutsche Tafel (Berliner Tafel) wurde von der Initiativgruppe Berliner Frauen e.V. 1993 in Berlin gegründet.<>Neben Spendern und Sponsoren sind es die ehrenamtlichen Helfer, die die Tafel-Arbeit ermöglichen. Derzeit spenden rund 60.000 Menschen in Deutschland ihre Freizeit und ihr Know-how für die über 900 Tafeln in Deutschland. Und die Tafel-Idee zieht ihre Kreise auch außerhalb des Landes: Nach deutschem Vorbild sind ‚Feedback’ im südafrikanischen Kapstadt, eine Foodbank in Sidney (Australien), die Wiener Tafel in Österreich und die Schweizer Tafeln entstanden.<<
    http://www.tafel.de/die-tafeln/geschichte.html

    Wer mehr wissen will kann den Links folgen.

    Herzlich, Paul

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