Narrative und Statistiken

In Lobbyarbeit und PR werden oft plakative Zahlen verwendet. Diese Zahlen werden mit Informationsgrafiken oder Diagrammen visualisiert. Obwohl die Zahlen oft nicht stimmen oder falsch interpretiert sind, erzielen die Grafiken doch ihre Wirkung.

Wie kann man sich als vernünftiger Mensch dagegen immunisieren?

  1. Nach den Interessen fragen.
  2. Nach den Quellen fragen.
  3. Der Aussage methodisch auf den Grund gehen.

Frauen re-investieren im Vergleich mit Männern mehr als doppelt so viel in ihre Familien. Diese Behauptung hört man immer wieder. Beispiel:

#Women reinvest 90% of their income back into their families, men only 30%-40%. Imagine what #equalpay could do.
[Quelle]


1. Das Interesse

Hinter dem Tweet steckt eine Organisation, die den Einkommensunterschied zwischen Frauen und Männern kritisiert. Sie will mit den Zahlen das Argument untermauern: Frauen gehen besser und nachhaltiger mit Geld um. Lässt sich nachweisen, ob das Argument stimmt?


2. Die Quelle

Das Problem: Es gibt für diese Behauptung keine Quelle. Welchen Anteil ihres Einkommens Frauen in Investitionen in die eigene Familie stecken (90% oder 80%), ließ sich zunächst bis zu diesem Artikel zurückverfolgen.

Es wird dort eine mündlich überlieferte Zahl genannt, die Jackie VanderBrug von der Organisation U.S.-Trust zugeschrieben wird. Es ließ sich aber keine Statistik oder Studie nachweisen, in der diese Zahl hergeleitet wurde.

Ich habe dann nach der Urheberin des Zitats gesucht. Sie hat ihre Behauptung in diesem Artikel mit einem Link zu belegen versucht.

Reinvestment: In emerging markets, women reinvest a staggering 90 cents of every additional dollar of income in “human resources” — their families’ education, health, nutrition (compared, by the way, to 30-40% for men. Think of women’s increased income and assets as a gender dividend driving family, community and country wellbeing.

Interessant: Hier geht es nur noch um zusätzlich verdiente Dollars. Im Original-Tweet ging es um das gesamte Einkommen. Außerdem geht es um »emerging markets«, also nicht um Frauen in den Industriestaaten wie Deutschland, Großbritannien oder USA.

Die verlinkte Seite der US-Regierung ist nicht mehr erreichbar. Nur unter archive.org konnte ich die Seite finden. Die US-Regierung verwies damals auf Dokumente der Weltbank:

The World Bank published a series of major studies, including „Engendering Development“, and „Gender Equality as Smart Economics“, highlighting gender equality as a critical foundation for development investment. Their reports note that investments in women and girls strengthen countries’ ability to grow, reduce poverty, and govern effectively. They show that women and girls reinvest an average of 90 percent of their income in their families, compared to a 30 to 40 percent reinvestment rate for men.

Anhand der Titel der Weltbank-Dokumente habe ich weiter recherchiert. Das erste Dokument ist 13 Jahre alt und hat fast 400 Seiten. Ich habe darin u. a. nach den Schlüsselwörtern »invest«, »family« und »families« gesucht, um nach den Quellen für die Zahlen zu suchen. Kein Ergebnis.

Das zweite Dokument ist neun Jahre alt, hat nur 29 Seiten und enthält überhaupt keine Informationen über Unterschiede zwischen Männern und Frauen beim (Re)-Investieren. Weitere Quellen sind nicht auffindbar. Kennt jemand zitierfähige Studien zu diesem Thema?


3. Die Methodik

Die US-Regierung und die Equal-Pay-Bewegung behaupten, dass Frauen (in aufstrebenden Entwicklungsländern) 80 bis 90 % des eingenommenen Geldes in ihre Familien investieren, Männer dagegen nur 40 %. Diese beiden Kennzahlen sind erstens eine unzulässige Generalisierung und sie lassen sich zweitens mit sauberen Methoden der Statistik überhaupt nicht herleiten.

Eine unzulässige Generalisierung liegt vor, weil man die Entwicklungsländer nicht gleichsetzen kann. In den Entwicklungsländern gibt es so unterschiedliche Kulturen, Rechtssysteme und Wirtschaftssysteme, dass deren weibliche Gesamtbevölkerung keine sinnvoll abgegrenzte Grundgesamtheit bildet. Also sind auch zusammenfassende Aussagen wie »Frauen investieren 90 % ihrer Einkünfte in …« nicht zulässig.

Sinnvoll abgegrenzt wäre z. B. die Menge aller Frauen in Namibia oder die Menge aller Frauen in Bangladesh, aber nicht die Menge aller Frauen in diesen beiden und noch Dutzenden anderen Staaten. Um saubere statistische Methoden anwenden zu können, braucht man eine sinnvoll abgegrenzte Grundgesamtheit, man muss die Verteilung der Einkommen beachten und vieles andere mehr …


Fazit: Lobby-Organisationen, die sich für den »equal pay day« einsetzen, berücksichtigen bewusst nicht, dass es unterschiedliche Arbeitszeiten, Arbeitsrisiken, Qualifikationen und Leistungen gibt. Dem »equal pay day« fehlt somit jede sinnvolle statistische Grundlage. Weil das inzwischen vielen informierten Leserinnen und Lesern bekannt ist, versuchen sie es mit Hilfsargumenten, denen offenbar ebenfalls die Grundlage fehlt. Kurz gesagt: Was da verbreitet wird, ist ein Narrativ – aber keine Statistik.


6 Responses to Narrative und Statistiken

  1. Genau so muß ich im Bereich Waffenrecht arbeiten. Die Waffengegner haben ein Narrativ. Meist Behauptungen und Vorurteile mit aus dem Zusammenhang gerissenen Zahlen. Gerne werden relative und absolute Werte durcheinandergeworfen. Die Waffenbefürworter (jedenfalls ein Teil davon) graben sehr tief nach seriösen Zahlen, Daten und Fakten.

    Ständig muß ich die Quellen der Quellen der Quellen überprüfen. Muß herausfinden, wer eine Studie gemacht hat, welchen Hintergrund derjenige oder diejenigen hat/haben, wer für die Studie bezahlt hat und ob da primär die Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis oder eher Ideologie und Meinungsmache maßgeblich waren.

    Viel zu oft finde ich klare Hinweise auf „post-normale Wissenschaft“. Das bedeutet, daß nur nach „Fakten“ gesucht wird, die eine feststehende Theorie stützen. Diese Form von „Wissenschaft“ lässt sich am besten mißbrauchen um vorgefasste Meinungen mit selektiven Informationen zu stützen. Echte Forschung dagegen ist ergebnisoffen.

    Infos zur „post-normal science“: https://en.wikipedia.org/wiki/Post-normal_science
    Bezeichnenderweise gibt es keinen deutschen Wikipedia-Artikel dazu. Diese Methodik gehört zu den Pseudowissenschaften, die auch gerne in „weichen Wissenschaftsfächern“ und besonders von Vertretern der Gender-Ideologie verwendet wird.

    • stefanolix sagt:

      Ich wusste nicht, dass es dafür schon einen Begriff gibt und ich bin auch nicht ganz sicher, ob »post-normal science« hier tatsächlich passt. Darüber muss ich erst mal in Ruhe nachdenken.

      Ich habe das Phänomen für mich eher als »ins Extrem getriebene Rosinenpickerei« bezeichnet. Es könnte so gewesen sein:

      Vor vielen Jahren wurden bei der Weltbank Zahlen über das Verhalten von weiblichen und männlichen Mikrokreditnehmern erhoben. Jemand hat vielleicht herausgefunden, dass Frauen im afrikanischen Land X oder im asiatischen Land Y ihre Mikrokredite zuverlässiger zurückzahlen als Männer (was für mich plausibel ist). Es ist auch plausibel, dass Frauen anders re-investieren als Männer.

      Dann wurde die Zahl über mehrere Stufen verallgemeinert:
      1. für alle Entwicklungsländer
      2. für alle Frauen in allen Entwicklungsländern
      3. für alle Frauen auf der Welt
      Und dann kam die Zahl in die Regierungsarbeit der Obama-Regierung in den USA sowie in die PR- und Lobbyarbeit.


      In den Diskussionen um das Waffenrecht kenne ich mich noch nicht sehr gut aus. Ich weiß nicht, ob man da mit Statistiken wirklich weiterkommt oder weiterkommen will. Ob sich die Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit überhaupt von Statistiken leiten lassen, wenn sie über Waffen im Privatbesitz diskutieren …

  2. […] zum Thema “übergeigte Zahlen” basiert auf einem Artikel von Stefanolix namens “Narrative und Statistik“. Da brauche ich gar nicht viel zu schreiben, den kann man einfach so […]

  3. Was die Plausibilität bei der Statistik über Microkredite angeht, bin ich ganz bei Dir. Da gibt es sicher relevante Studien, von denen man eine echte Erkenntnis ableiten könnte.

    Bei anderen Themen erlebe ich ähnliche „Rosinenpickerei“, wobei es da tatsächlich um sehr selektiv ausgewählte Daten geht, die eine Meinung oder einen Standpunkt untermauern sollen. Forscht man etwas nach, fällt das meist sehr schnell auf, daß es da eher um Ideologie oder Wunschdenken geht.

    Der Begriff „post-normal science“ wird inzwischen auch als politischer Kampfbegriff gebraucht. Vor allem von Leuten, die sich den sauberen, wissenschaftlichen Methoden verschrieben haben. Denn die benannte Methode sollte ja nur bei unsicherer Datenlage und auch sonst eher vagen Erkenntnissen heraus angewandt werden. Tatsächlich genutzt wird die Methode aber oft da, wo es durchaus Daten gibt, mit denen man arbeiten kann. Weder gibt des die beschriebenen Unsicherheiten noch ein hohes Risiko. Am deutlichsten findet man post-normale Methoden im Bereich der Gender-Forschung, wo es nur wenige Forscher gibt, die sich der harten wissenschaftlichen Methodik verschrieben haben.

    Aber ich verstehe Deine Bedenken. Vielleicht passt der Begriff in Bezug zu Deinem Artikel wirklich nicht.

    Was das Waffenrecht angeht, so ist die Meinung der Entscheidungsträger dazu recht breit gestreut. Mit Statistiken und sauberen Fakten käme (und kommt man) teilweise durchaus weiter. Meist geht es aber darum Emotionen zu besänftigen/kontrollieren und dann kommen Gesetze zustande, die mit der realen Welt recht wenig zu tun haben. Da geht es der Öffentlichkeit dann um eine vage Scheinsicherheit und den Entscheidungsträgern um Mandate …

    • stefanolix sagt:

      Es wundert mich nicht, dass jemand den Begriff »post-normal science« geprägt hat. Ich habe solche Studien immer als unglaubwürdig eingestuft. Eigentlich müsste man diesen Schwindel seinerseits wissenschaftlich untersuchen ;-)


      Das Thema Waffenbesitz ist verdammt schwer zu entscheiden. Ich müsste mal alles aufschreiben, was für und gegen freien Waffenbesitz spricht. Ich fürchte, dass man darüber nicht anhand empirischer Forschung und statistischer Auswertung urteilen kann.

      Ich kenne überhaupt keine Studien dazu. Kannst Du mal ein oder zwei Adressen von »schlechten« bzw. »guten« Studien posten? Was wird da untersucht? Mit welchem Studiendesign?

      Eine Anekdote (und bitte nicht ernst nehmen!): Ich habe heute ein Plakat gesehen, auf dem sinngemäß stand: »Wer chattet, sieht nur die Hälfte«. Leider habe ich es beim Radfahren nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Offenbar ging es um Verkehrssicherheit und um Fußgänger, die beim Gehen auf ihre Smartphones starren. Wenn wir so weit sind, dass eine junge Generation solche Plakate braucht, sollten wir mit der Freigabe von Waffen vorsichtig sein …


      • Waffenbesitz ist ein ausgesprochen komplexes und kompliziertes Thema. Man könnte empirisch und statistisch darüber urteilen, wenn das Thema nicht so emotional belegt wäre. Wenn Emotionen im Spiel sind, dann schalten viele Leute das Hirn ab und verfallen auf recht … hm … primatenhaftes Verhalten.

        Da ist vor allem die Rezeption von Waffen in der Gesellschaft. Die allermeisten Menschen kennen Waffen nur aus Actionfilmen oder Krimis und nur aus diesem Kontext heraus wird beurteilt. Dabei werden dann Klischees, Vorurteile, persönliche Ängste und Phantasie bemüht. Faktenkenntnis darf man nicht erwarten.

        Ich suche mal ein paar Studien heraus. Viele werden von NGOs erstellt und erfüllen nicht einmal die grundlegenden Kriterien die man an eine saubere Statistik stellen würde. Die meisten NGOs, die sich mit Waffenbesitz beschäftigen (Oxfam, IANSA, Small Arms Survey, etc.) verwenden Zahlenmaterial, das man nach einer kurzen Recherche auf den offiziellen Regierungsstatistiken als falsch oder fehlerhaft erkennen kann. Andersherum – bei den Waffenbefürwortern – finden sich auch immer wieder grobe Fehler. Allerdings bemühen die sich eher um sauberes, nachprüfbares Material.

        Was die Methoden der NGOs angeht, da findet man in diesem Artikel einiges:
        https://legalwaffenbesitzer.wordpress.com/2013/06/23/follow-the-money/

        Umfassende Studien pro oder contra gibt es für Deutschland fast nichts. Die meisten beschäftigen sich mit Einzelaspekten. Legale und illegale Waffen werden undifferenziert in einen Topf geworfen. Das Ganze ist ein ziemlich zähes Geschäft.

        Eine Studie die Waffenverbote aufgrund von Verbrechen und Suizid befürwortet findet man hier:

        Klicke, um auf 2014-07.pdf zuzugreifen

        Da musste ich lange suchen, bis ich die kostenlose Fassung gefunden hatte.
        Ist eine Metastudie, die mehrere andere Studien untersucht und vergleicht. Auf dieser Basis kommt der Autor zum Schluß, daß Waffenbesitz gefährlich ist und verboten werden muß. Leider prüft er nicht die Rohdaten und die Methodik der Quellstudien. Hätte er das getan, hätte er sich vermutlich ein anderes Thema suchen müssen.

        Eine entgegengesetzte Studie in Form einer Doktorarbeit findet sich hier:

        Klicke, um auf dcw.pdf zuzugreifen

        Dankenswerterweise kostenlos erhältlich und mit offengelegter Methodik. Ich glaube, sogar die Quellen und Rohdaten kann man vom Autor bekommen, wenn man nett fragt.

        Die groß angelegte ISEC-Studie (so was würde ich mir mal für Deutschland und angrenzende Länder wünschen) ist ausgesprochen neutral gehalten. Also etwas ganz anderes, als das, was man von den meisten NGOs (die oft Ideologie und Propaganda verkaufen) bekommt. Da geht es eher weniger um Waffen als um Mord und Totschlag, aber die Verhältnisse werden sauber dargestellt und die Datenerfassung der Behörden gerügt:

        Klicke, um auf 259_Granath_et_al_2011.pdf zuzugreifen

        Es gibt recht strenge Gesetze, die den Umgang mit Waffen regeln und daran würde ich auch nicht allzuviel ändern wollen. Die 4 wichtigsten:
        – Zuverlässigkeit nach Waffengesetz (keine Vorstrafen)
        – Waffensachkundeprüfung
        – körperlich und geistig fähig mit Waffen umzugehen
        – Sichere Aufbewahrung von Waffen und Munition, wenn man nicht die unmittelbare Gewalt darüber ausüben kann

        Sehr viel mehr braucht es eigentlich nicht. D.h. man kann gut die Hälfte des aktuellen Waffengesetzes unbesehen wegwerfen, weil ohne Fachwissen entstanden oder auf anlassbezogener Hysterie basierend.

        Übrigens: Beim Umgang mit Waffen kann man nicht chatten oder twittern. Der Waffenbesitz alleine sorgt schon für eine Verschiebung von Perspektiven. Aufmerksamkeit, Konzentration, Verantwortungsbewusstsein – das wird (natürlich unter Anleitung) stark betont und entwickelt. Das erlebt man in 35 Jahren Umgang mit Waffen und auch als Ausbilder. Auch dazu gibt es eine Studie von der Uni Bremen, die den Waffenbesitzern positive Eigenschaften attestiert, die in der Kontrollgruppe der „Nicht-Waffenbesitzer“ deutlich weniger ausgeprägt waren. http://www.waffenrecht.uni-bremen.de

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